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Bistro Rue de Rennes, Paris © Aurel Schmidt

Bistros – Verteidigung der westlichen Lebensart

Aurel Schmidt /  Bistros in Frankreich sind Orte der Geselligkeit (Konvivialität) und der Ideenzirkulation, aber ihr Fortbestand scheint gefährdet.

Die Pariser Bistros sind Kultstätten. Bestreitet das jemand? Wenn nicht, können wir mit der Feststellung fortfahren: Bistros sind Orte der Begegnung, des Austauschs, des geistigen Lebens, Orte, wo sich das Leben ereignet. Man muss an einem der kleinen Tische gesessen, einen «petit café» getrunken und mit dem Löffel in der Tasse gerührt haben, um das zu verstehen. Manche sagen, das Leben würde bei dieser Beschäftigung an einem vorbeifliessen. Aber eher bleibt das Leben stehen, und es sind die Gedanken, die davonfliegen. Nirgends sonst auf der Welt kann man so gut für sich sein und nachdenken, ohne Druck, an ein Ziel gelangen zu müssen.

Der französische Sozio-Ethnologe Marc Augé hat über das Bistro ein kleines Buch geschrieben. Dass er Bistros als einen Ort der Riten bezeichnet, kann man sofort verstehen, wenn man sich erinnert, dass er die Metro als mythischen und mythologischen Schauplatz analysiert hat. An der Kaffeemaschine steigt der Kellner, hier «François» genannt (ein frankophoner Name), zum Priester auf. Der Tresen («le comptoir» oder «le zinc») macht das Bistro zu einem «Nervenzentrum», zu einem Brennpunkt des «Parisianismus». Nicht seine Funktion ist entscheidend, sondern der Raum selbst, der nicht nur durch Gesichter, Blicke, Körper formiert wird, sondern sich durch sie auch in einen Stummfilm verwandelt.

Distinkte Orte

Nach einer unausgesprochenen Vereinbarung existiert jeder Besucher im Blick des anderen. Darin besteht das Ritual, das sich des Bistros zu seinem Gelingen bedient. Man kommt und wartet, dass ein anderer kommt, trifft sich, trinkt etwas, wechselt ein paar beiläufige Worte, nichts Wichtiges, und geht wieder. Das ist eine Seite. Die andere sieht völlig anders aus. Nirgends sonst wird so leidenschaftlich und lustvoll diskutiert.

Bistros sind «Orte im eigentlichen Sinn», stellt Augé fest. Er muss es wissen, weil er sich in einem seiner früheren Bücher über «Nicht-Orte» ausgelassen hat: über den Verlust von distinkten Orten, an deren Stelle Nicht-Orte treten wie Parkhäuser, Tankstellen, Deponien, die nicht zum Verweilen einladen.

Am Ende seiner Überlegungen kommt Augé zum Schluss, dass man sich nicht vom Gewicht der Erinnerungen an die Lebens- und Bistrozeit erdrücken lassen darf und neue Szenerien suchen muss. Zweifellos. Aber welche?

Treffpunkt der Philosophen

Augé scheint das Buch vor den Anschlägen in Paris vom 13. November 2015 geschrieben zu haben, dem Tag, als islamistische Täter einen Angriff auf das Musiklokal Bataclan sowie auf das Bistro Le Carillon verübten und 130 Menschen töteten. Sonst hätte er darauf eingehen müssen. Damals ist die attackierte Institution des Bistros zu einem Inbegriff des urbanen Lebensgefühls geworden, zu einem Mittelpunkt, wo die Freiheit der französischen und in einem erweiterten Sinn der westlichen Lebensart verteidigt wird.

Wenn Augé das Bistro zu einem Ort des Widerstands gegen die Verödung des Lebens erhebt, dann vor allem in Bezug auf die Fast-Food-Lokale und Gastroketten wie «Starbucks», die sich überall ausbreiten. Jeden Tag verliert Paris ein bisschen mehr von seinem Charme, der nicht zuletzt durch das Bistro geprägt wurde. Anfang dieses Jahres hat die Zeitung «Le Parisien» einen Hilferuf ausgesandt: «Das Kulturerbe Bistro in Gefahr.» Die Zahl der Bistros, besonders auf dem Land, geht rapid zurück, nicht nur wegen Rauchverbot und Terrorangst. Der Grund scheint ein latenter Mentalitäts-, Sozial- und Generationenwandel zu sein.

Noch in einem anderen neu erschienenen Buch kommt das Café zu Ehren (der Unterschied zwischen Bistro und Café ist fliessend; beide Begriffe meinen dasselbe). In ihrem Buch «Das Café der Existenzialisten» bezieht sich die englische Autorin Sarah Bakewell auf das Café Bec de Gaz an der Rue Montparnasse in Paris, wo sich um die Jahreswende 1932/33 Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Raymond Aron trafen. Aron war eben aus Berlin zurückgekommen und erzählte den angespannt zuhörenden Freunden von der Phänomenologie, mit der er in Berlin durch Edmund Husserl Bekanntschaft gemacht hatte. Die Begegnung im Bec de Gaz wird als Geburtsstunde des Existenzialismus angesehen.

Camus gegen Sartre und de Beauvoir

Bakewell erzählt die Geschichte dieser philosophischen Denkrichtung mit Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger im Mittelpunkt. Eine Epoche wird hier in ihrer immensen Vielfältigkeit lebendig. Man meint fast, daneben zu sitzen und beteiligt zu sein. Das macht den unglaublichen Reiz des Buchs aus. Ein kleines Beispiel: Sartre sucht und findet im Skisport die Möglichkeit, sich frei in der Welt zu bewegen; Heidegger wird als Skifahrer im Schwarzwald vorgestellt.

Besonders bemerkenswert ist auch das Kapitel, in dem sich die wichtigsten Exponenten, unter ihnen Arthur Koestler und Maurice Merleau-Ponty, über den wahren Marxismus streiten und die Frage aufwerfen, ob für die Verteidigung des Sozialismus gegen die Bourgeoisie der Zweck die Mittel heilige.

Niemals, meinte Camus, der weder Opfer noch Henker sein wollte; man müsse abwägen, fanden dagegen Sartre und de Beauvoir. Die Zerstrittenheit war manchmal unüberwindlich, schliesslich zerbrachen Freundschaften unwiderruflich. Nicht einmal zusammen ins Kino gehen wollten die zerstrittenen Philosophen. Das Ende einer grossen Epoche, die Bakewell darstellt, war gekommen. Den Existenzialismus von Saint-Germain-des-Prés streift sie zum Glück nur am Rand.

Im ersten Stock in Ruhe arbeiten

Aber das «Café» im Buchtitel – was für eine Bewandtnis hat es damit auf sich? Bakewell, die auch Verfasserin einer Montaigne-Monografie ist, verwendet an drei, vier Stellen im Buch das Café als Szene für die verschiedenen Auftritte der Haupt- und Nebenfiguren: einmal als Ort, von dem der Existenzialismus ausging; einmal als Treffpunkt, wo sich die Philosophen trafen, diskutierten, sich im Winter aufwärmten, aber auch viele ihrer Werke schrieben. Die Cafés bestimmten ihr Leben, das Flore im Besonderen dasjenige von Sartre (er wohnte bis 1962 gleich um die Ecke) und der Beauvoir. Im Flore hatte der Besitzer Paul Boubal den Philosophen im ersten Stock einen Raum zur Verfügung gestellt, um in Ruhe arbeiten zu können. Michel Leiris, Jean Genet, Pablo Picasso, Alberto Giacometti und viele andere zirkulierten in diesen Kreisen und an diesen Orten. Der Existenzialismus war eben auch eine Lebensform.

Ohne Smartphone, Laptop, Tablet

Am liebsten stellt sich Bakewell vor, durch das Fenster in eines der grossen, «trubeligen» Cafés zu schauen, und was sieht sie? Einen Ort «voller Leben und Bewegung, erfüllt von Gesprächen und Gedanken: definitiv ein Café, das bewohnt und in dem gelebt wird». Mit einem Zusatz könnte man ergänzen, dass auf den Abbildungen des Buchs die Begegnungen wiedergegeben werden. Einige der Anwesenden rauchen, die Zigarette in den Mundwinkel geklemmt; Sartre zieht an seiner Pfeife. Geradezu auffallend ist aber, was man nicht sieht: keine Smartphones, keine aufgeklappten Laptops, keine Tablets. Damals redeten die Menschen noch miteinander, heute starren sie auf ihre maschinellen Schreib- und Kommunikationsgeräte, die sie nie aus den Augen verlieren.

Die Zeiten haben sich geändert und die Bistros beziehungsweise Cafés ihre Bedeutung von einst verloren. Honoré Balzac bezeichnete, anders als Augé, den messingbesetzten Tresen als Parlament des Volks, was in einem doppelten Sinn verstanden werden kann: einmal als demokratischer Versammlungsort, das andere Mal sarkastisch als Schwatz- und Räsonnierbude (von parler, reden, sprechen). Ernest Hemingway schrieb, als er in den in Zwanzigerjahren in Paris lebte, im Café des Amateurs in der rue Mouffetard, in einem Café am Place Saint-Michel und in der Closerie des Lilas, wo später auch Sartre und de Beauvoir verkehrten.

Und heute? Tapetenwechsel. Die Lounge hat das gute alte Bistro abgelöst, auch deshalb, weil mit dem Laptop die Klasse der neuen Kreativ- und Intelligenznomaden örtlich so ungebunden ist wie nie zu vor.

Marc Augé: Das Pariser Bistro. Eine Liebeserklärung. Verlag Matthes & Seitz. ca. Fr. 21.90

Sarah Bakewell: Das Café der Existenzialisten. Freiheit, Sein und Aprikosencocktails. C. H. Beck. 448 Seiten. ca. Fr. 35.90

Weiterführende Informationen


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Eine Meinung zu

  • am 10.09.2016 um 21:34 Uhr
    Permalink

    Der letzte Satz löst doch eine gewisse Heiterkeit aus »…Und heute? Tapetenwechsel. Die Lounge hat das gute alte Bistro abgelöst, auch deshalb, weil mit dem Laptop die Klasse der neuen Kreativ- und Intelligenznomaden örtlich so ungebunden ist wie nie zu vor….» wo doch gerade mit diesen angeblich «unabhängig» machenden Technologien das umfassendeste Ueberwachungssystem aufgebaut wurde. Ein System das von den Menschen noch selber bezahlt wird und die Daten und die Daten freiwillig in rechtlich und politisch völlig unverbindlichen Sozialen Netzwerken gespeichert werden und damit die eigene Ungebundenheit im gleichen Moment aufgibt, den ausserhalb digitaler Technik existiert kaum noch Kommunikation

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