Der Nackte oder Im Engadin steht die Welt kopf
6. August 2016
An diesem Morgen ist der Palü noch weisser als sonst, und auch auf dem Geröll oben am Piz Ot liegt ein Hauch von Sommerschnee. Als ich mit dem frischen Brot zurückkomme, steht er auf einem der benachbarten Balkone. Das Egerkinger Komitee hätte seine helle Freude an ihm. Da ist kein Millimeter Haut vermummt. Ein Exhibitionist, der seinen Auftritt ohne Publikum trainiert? Ein Nacktwanderer, der sich für den Aufstieg zur Fuorcla Muragl aufbrezelt? Bereiten sich nicht nur Triathlet*innen & Marathonläufer*innen im Engadin auf die Olympischen Spiele vor, proben hier neuerdings auch Schauspieler*innen ihren Auftritt in einem dieser Schwänke, in denen der heimliche Liebhaber von der erregten Ehefrau hastig aus dem Bett auf den Balkon geschoben wird, weil der Ehemann früher von einer Geschäftsreise mit seiner Sekretärin zurückkommt?
Vermutlich ist alles viel unspektakulärer. Der Mann hat offensichtlich geduscht, und nachdem er das feuchte Frottiertuch zum Trocknen aufgehängt hat, steht er plötzlich auf dem Balkon wie ich in meinen Alpträumen, an irgendeinem Anlass mit gut gekleideten Leuten – blutt. Psychoanalytiker*innen mögen ergründen, was mir diese Träume sagen wollen, ich bin einfach nur froh, dass mir das (bisher) real noch nie passiert ist. Und der Nackte hat womöglich nicht damit gerechnet, dass die Samedaner Bäckerei um diese Zeit schon Brote & Brötchen verkauft.
«Hast du ihm nicht ‹Hoi› gesagt?», fragt S. grinsend. Weil ich jeder Ziege, jedem Kalb und selbst den Spatzen ein «Sali» zurufe. In meiner Jugend haben wir am Skilift wildfremden, aber angezogenen Skifahrer*innen ein lautes «Hee» nachgeschrieen und uns gefreut, wenn sie kopfüber in den Neuschnee purzelten. Einen Moment stelle ich mir vor, ich hätte den Unbekleideten gegrüsst oder gar mit einem «Cheese» zur Pose für ein Exklusivbild aufgefordert, der hätte sich erschrocken, wäre über den neuen Grill gestolpert, hätte mit der Hand nach seinem Frottiertuch gegriffen, keinen Halt in lose aufgehängtem Textil gefunden, wäre mit dem Kopf auf die Kante des gestylten Balkongeländers geprallt und – Exitus. So leicht hätte ich im Engadin zum Mörder werden können, der von einem ordentlichen Gericht natürlich freigesprochen worden wäre.
8. August 2016
Computerprobleme. Ausgerechnet in den Ferien. Vermutlich wegen einer instabilen Internetverbindung «aufgehängt» & von mir «abgewürgt», tut mein Ultrabook schliesslich keinen Wank mehr. Das Schreiben mit Handy & dem Tablet von S. funktioniert zwar, aber es ist mühsam. Seit ich – trotz anfänglicher Grundsatzkritik an den «Neuen Technologien» – permanent mit PC & Notebook arbeite, bin ich – wenn mit so einem Gerät etwas nicht funktioniert wie ich möchte – kaum mehr ansprechbar, nicht einmal für S., verbeisse mich in den (oft aussichtslosen) Versuch, das Problem schnell & ohne fremde Helfer*innen zu lösen.
In den Anfängen meines persönlichen «Computerzeitalters» sass ich mehr als einmal zu Hause und wartete ungeduldig auf Hilfe. Fast untätig. Als ob mir etwas fehlte. Als ob ich krank wäre. «Wir sind halt keine Maschinen.» Sagen wir, wenn unser Körper nicht funktioniert wie gewohnt. Werden Computer krank? Wenn sie funktionieren, machen sie uns (scheinbar) unabhängig von anderen Menschen mit ihren Macken & rigide eingehaltenen Arbeitszeiten. Aber wenn diese praktischen Maschinen & Programme uns hängen lassen, werden wir (fast) lahmgelegt. Deshalb habe ich nebst dem PC seit Langem auch ein Notebook. Damit ich im Notfall ohne Unterbruch weiterarbeiten kann. Am Tag nach der Rückkehr aus den Ferien, noch bevor ich das Ultrabook zur Reparatur bringen kann, wird auch mein PC mehrmals abstürzen. Kumulation der Unwahrscheinlichkeiten.
9. August 2016
Die Suche nach den Steinböcken hinter dem Languard, das beruhigende Geräusch der Wellen, die sich schon vor & womöglich auch nach Menschenzeiten am Ufer des Silsersees gebrochen haben & brechen werden, oder die Arven im Roseggtal lassen Welten & Computerpannen, wie von Zauberhand, verschwinden und die Zeit, die wir «verlieren», länger erscheinen als gemessen. «Vielleicht wäre ich im nächsten Leben lieber ein Baum.» Überlegt S. Weil Bäume nichts müssen, nichts Falsches sagen können und einen festen Platz in der Landschaft haben. Ausser sie werden gefällt oder vergiftet. Und oberhalb des Stazersees steht ein Baum auf dem Kopf. Sturm oder Menschenhand?
11. August 2015
«Habt ihr bei Infosperber eigentlich keine Ferien», schmunzelt S. angesichts des Mannes, der an den unmöglichsten Orten Notizen in sein Smartphone tippt. Als würde es das Elend in der Welt beenden. Heute berichtet der Tages-Anzeiger wieder einmal über eine Provokation des US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. Der habe bei einem Wahlkampfauftritt davor gewarnt, Hillary Clinton könnte nach einer allfälligen Wahl «das Recht auf Waffenbesitz aushöhlen». Und dann die Bemerkung gemacht, die von seinen Gegner*innen «als Aufruf zur Gewalt gegen seine Rivalin Hillary Clinton interpretiert», vom Trump-Lager als Erinnerung für Waffenbesitzer, sie müssten «das Waffenbesitzrecht durch ihre Stimme unbedingt retten», bezeichnet wird. «Wenn sie ihre Richter auswählen darf, ist nichts mehr zu machen, Leute», soll Trump wörtlich gesagt haben, «Allerdings … vielleicht könnten die Second-Amendment-Leute etwas … ich weiss nicht.» Das «Second Amendment», erklärt Tagi-Korrespondent Hubert Wetzel in Washington, «legt fest, dass alle Bürger das Recht haben, eine Waffe zu besitzen.»
In einer Woche wird Donald Trump bereuen. Ob, ganz konkret, diese Bemerkung, ist nicht bekannt. Aber an einer Kundgebung in Charlotte, North Carolina, liest er vom Teleprompter: «Manchmal, in der Hitze der Debatte, und wenn man über viele Dinge gleichzeitig spricht, wählt man nicht die richtigen Worte, oder man sagt das Falsche. Das ist mir passiert. Und glaubt es oder nicht, ich bereue das» (Zitat Blick online, 19.8.2015). Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Aber damit wird keine & keiner US-Präsident*in.
Heute notiert Hans Brandt, auch im Tages-Anzeiger, nicht nur der türkische Präsident Erdogan liebäugle mit der «Sofortlösung für Demagogen»; wenn er «schnell punkten» wolle, fordere auch Donald Trump die «Todesstrafe für Polizistenmörder». Dies in einem Land, das weltweit für Frieden & Freiheit sorgen will, aber keine Chancen hätte, in die Europäische Union aufgenommen zu werden, weil die in verschiedensten US-Staaten praktizierte Todesstrafe gegen die Europäische Menschenrechts-Konvention verstösst.
US-amerikanische Präsidentschaftskandidat*innen machen – in diesem Punkt Amokläufern & Terrorist*innen ähnlich – dieses Jahr keine Sommerpause. Die deutsche Bundeskanzlerin & die britische Premierministerin – die sich wegen der Scheidungsverhandlungen in Sachen Brexit demnächst häufiger sehen werden – wandern irgendwo in den Alpen. Und wo essen eigentlich Hungernde in ihren wohlverdienten Ferien?
12. August 2015
Einen Tag vor der Rückreise nutzt die SVP das Sommerloch – aus dem dieses Jahr nicht einmal Nessie aufgetaucht ist – für die Einreichung einer Initiative, welche die unheimlichen Patrioten harmlos als «Selbstbestimmungsinitiative» bezeichnen, die Schweizer Recht vor fremden Richtern schützen soll. Schweizer Recht vor Völkerrecht. Weil‘s die Eidgenossenschaft ja schon viel länger gibt. Wenn Menschenrechte die Rechte des Schweizer Volkes – und das Volk, sagt (auch) die SVP gerne, das Volk sind wir – einzuschränken drohen, soll das Primat des Schweizer Rechts gelten. Die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention, betont die SVP, sei nicht das Ziel, aber sie nehme, so Tagi-Redaktor Martin Wilhelm, «eine Kündigung der EMRK in Kauf». Die Angst vor den Fremden – ob Flüchtende oder Migrant*innen – genügt den Rechtskonservativen nicht, sie erklären auch noch die Errungenschaften der europäischen & globalen Völkergemeinschaften nach den grossen Kriegen & Gräueln des 20. Jahrhunderts für fremdes Teufelszeug. Der politische Alltag hat wieder begonnen.
Morgen fahren wir zurück. «Wir kommen wieder.» Tröstet S. Im Engadin. An der Ostsee. In Dänemark. Auf Ouessant. In Zermatt. Wie manchmal noch? Die Wehmut am Ende «verlorener» Tage erinnert, wie die Schlussfeier bei Olympischen Spielen, an das Ende von allem. S. wird wieder im Nebel des Alltags verschwinden. Wir lachen über diesen Satz und hoffen, auch in Zeiten gestoppter Stunden werden Momente bleiben, in denen wir uns miteinander verlieren. Ich werde noch ein paar Mal versuchen, die Welt vom Kopf auf die Füsse zu stellen. Erfolglos.
Auf dem Weg nach Stettbach, werde ich in zwei Tagen feststellen, ist mir eine oder einer zuvorgekommen.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Infosperber-Redaktor Jürgmeier macht Ferien im Engadin und notiert, was er da von Welten mitbekommt.