1. August 2016 oder Im Namen der Natur zum Ersten
1. August 2016
S. fischt das kleine rote Papierfähnchen mit weissem Kreuz, das den 1.-August-Weggen zierte und das ich nach dem Einkauf gleich weggeworfen habe, wieder aus dem Abfallsack, steckt es mitten in ihr kleines Stein- und Flechtennest. Dem Enkel werde es gefallen. Lacht sie frech. Für sie habe der erste August nichts mit Patriotismus zu tun – bloss eine Kindheitserinnerung an bunte Lampions, auf offenem Feuer gebratene Rösti mit Fleisch und Feuerwerk. Ich bekam immer nur eine Schachtel Bengalzündhölzer, sah häufig Höhenfeuer, manchmal musste ich mir Rede & Nationalhymne anhören. Mein Vater zündete nie einen Vulkan oder eine Sonne, meine Mutter nie eine Rakete. Vielleicht bin ich deshalb kein Patriot geworden.
Bei meinem ersten Fernsehauftritt ein paar Jahre später, beim ZDF, vor dem Leninbrunnen in Zürich stehend – ein Schriftsteller hatte einen Text geschrieben, der das «Trittst im Morgenrot daher …» ersetzen sollte, was bis heute nicht geglückt ist –, verwarf ich Landeshymnen ganz generell. Weil sie durch das Besingen der eigenen Gloriosität & Auserwähltheit die anderen herabsetzten, Grenzen zwischen Staaten zögen und Menschen als Völker zu Gegner*innen machten.
Der deutsche Satiriker Christian Eisert wundert sich in der SonntagsZeitung vom 31. Juli über die schweizerische Vermarktung der Landesfahne: «Man findet überall die Flagge als Markenzeichen. Sie ist sogar auf den Verpackungen von Salaten drauf. Es gibt nur wenige Staatsflaggen auf der Welt, die so als Marke benutzt werden.» Joint venture zwischen Patriotismus & Ökonomie – das eidgenössische Erfolgsmodell? Und am ersten August hängt es sogar am evangelischen Kirchturm von Samedan, in vierfacher Ausführung, das weisse Kreuz in rotem Feld. Wer wirft sich da wem in die Arme – die Schweiz dem Christentum, die Kirche dem Staat? Und was bedeutet das in multikulturellen Zeiten, in denen nicht (mehr) klar ist, wer ein Schweizer, wer eine Schweizerin ist?
Altes Holz, Urschweizer*innen und Neu-Eidgenoss*innen
In Zusammenhang mit der möglichen Ausbürgerung von Doppelbürger*innen, deren Verhalten für die Schweiz «nachteilig ist» (Artikel 48 des Bürgerrechtsgesetzes, Tages-Anzeiger 27.7.), schreibt Tagi-Redaktor David Hesse zum Fall des «2015 … in Genf … in zweiter Instanz wegen Mordes zu lebenslanger Haft» verurteilten Ex-Polizeichefs von Guetemala, Erwin Sperisen, es sei zwar eine originelle Idee des Staatssekretariats für Migration SEM, zu prüfen, ob Sperisen ausgebürgert werden könnte, aber: «Fast scheint das SEM seine Parteilosigkeit beweisen und sagen zu wollen: Die Ausbürgerung kann jeden fehlbaren Doppelbürger treffen, den eingebürgerten Syrer wie den Urschweizer. Denn Sperisen ist kein Neu-Eidgenosse, sondern altes Holz: Seine Vorfahren lebten im Solothurnischen, bevor sie vor rund 90 Jahren nach Zentralamerika auswanderten.» – Bemerkenswerte Unterscheidung zwischen (biologischem) «Urschweizer» und (papiernem) «Neu-Eidgenosse».
Wer in irgendeinem Staat der Welt, Jahrzehnte nachdem seine Schweizer Vorfahren in diesem Land ein besseres Leben gesucht & offensichtlich gefunden haben, geboren wird, ist & bleibt für Hesse ein «Urschweizer». Auch wenn sie oder er, womöglich, kein Wort (Schweizer-)Deutsch kann, nicht weiss, wie viele Kantone es in seiner zweiten (verbrieften) Heimat gibt, die hiesigen Grussrituale nicht beherrscht, noch nie auf dem Gurten war und, im Extremfall, kein einziges Mal Schweizer Boden betreten hat, ist er beziehungsweise sie «altes Holz». Ganz im Gegensatz zu Secondos oder Angehörigen der dritten Ausländergeneration, die im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens bewiesen haben, dass sie nicht nur «Chuchichäschtli» ohne zu stocken aussprechen können, sondern in Schweizer Schulzimmern gelernt haben, wie viele Gemeinden es hierzulande gibt, seit Jahren im Turnverein für gute Resultate am Eidgenössischen sorgen, den Lehrer*innen immer die rechte Hand gegeben haben und ein Fondue zubereiten können, ohne dass es sich scheidet, als hätten sich Wein & Käse zerstritten. Die oder der bleibt «Neu-Eidgenosse». Einmal Schweizer*in, immer Ur-Schweizer*in; einmal Ausländer*in, immer Ausländer*in, denn das Nationale liegt den Menschen in Genen & Blut, das ist die «Natur». Wenn das keine rassistische Denkfigur ist.
2. August 2016
Ein Geheimtipp ist es nicht, aber an diesem Vormittag sind wir die einzigen, die gegenüber der Stazer Sonnenkörbe (siehe Engadiner Tagebuch 2) ins Wasser steigen. Bis sich die Vorhut eines Familientreffens unter den Bäumen sowie beim Grillplatz breitzumachen beginnt und die ersten Rauchschwaden zu uns herüberziehen. «Nirgends hat man seine Ruhe», brummt S. und stürzt sich schon wieder ins Wasser, das den meisten zu kalt ist. Ich versuche verbissen, die Zeitung zu lesen & zu überhören, dass, nach & nach, weitere Verwandte & Freund*innen telefonisch herbeigelotst werden. Aber als Hunde lautstark gegen das Treffen ihrer Herrchen & Dämchen zu protestieren beginnen, ist es auch für mich Zeit, das lauschige Plätzchen zu verlassen. Über den Besuch von Steinböcken, Gemsen und Murmeltieren hätten wir uns, bestimmt, gefreut. Menschen aber stören den Genuss der «freien Natur». Irritiert stelle ich fest – ein Gedanke, den ich schon einmal gedacht. Im Essay «Im Namen der Natur» (*).
Im Namen der Natur (leicht gekürzte & bearbeitete Fassung)
Obwohl weder Kletterer noch Hochgebirgler faszinieren mich Berge, und ich hasse es, wenn ich da «draussen in freier Natur» auf Menschen & ihre Spuren stosse. Gemsen, Steinböcke, Murmeltiere & ihre Spuren trüben mein Naturerlebnis nicht, im Gegenteil. Sie gehören für mich zur «unberührten Natur». Nur «den Menschen», mich selbst ausgenommen, versteht sich, das Menschliche schlechthin empfinde ich als störend. In der «Natur draussen» will ich nicht an meine Gattung & ihre (Un-)Taten erinnert werden, obwohl ich bei meinen Streifzügen durch die «Natur», zumindest teilweise, auf menschengemachte Pfade angewiesen bin, bei einem Unwetter dankbar in einer Berghütte Zuflucht suchen und mir von einer guten (menschlichen) SeelemitHänden ein Wasser servieren liesse.
«Das Gefühl der Einheit von Mensch und Natur ist verlorengegangen.» Mit diesem Satz spricht Manon Maren-Grisebach ein verbreitetes Gefühl aus, das besagt, «der Mensch» habe sich mit seiner Kultur & Technologie von «der Natur» abgekoppelt und durch seine Zivilisation eine «unnatürliche Gegenwelt» geschaffen. Dabei wird unterstellt, das «Natürliche» sei das a priori «Gute», «Gesunde», das Kulturelle das a priori «Schlechte», «Kranke». «Das blosse Wort ‹Natur›», so Norbert Elias, «wird weithin mit Gesundheit und Zuträglichkeit assoziiert … Man muss viel übersehen, um das glauben zu können; und die Leichtigkeit, mit der es oft übersehen wird, verrät die Stärke des Bedürfnisses, das hinter dem Vergessen steckt. Um an die Güte der Natur zu glauben, muss man die Schrecken der Nahrungsketten vergessen, in denen sich die listigeren oder kräftigeren Tiere von den weniger listigen und kräftigen ernähren … Man muss auch die Qualen all derer vergessen, die an Krebs oder anderen schleichenden Krankheiten sterben … Sie alle leiden, verfallen und desintegrieren, ohne jede eigene Schuld – ein ‹natürlicher› Tod, wie wir sagen.»
Der «natürliche» Tod
Wir neigen dazu, das Unabänderliche im Allgemeinen und den Tod im Besonderen als etwas «Natürliches» zu sehen. Das scheint uns das Unverständliche, Sinnlose und oftmals auch Ungerechte annehmbarer zu machen. Wir unterscheiden allerdings fein säuberlich zwischen einem «natürlichen» und einem, in gewissem Sinne, «nicht natürlichen» Tod, wobei der Mord durch Menschenhand gerade noch der offensichtlichste Fall ist. Wie aber steht es, beispielsweise, mit dem durch Vergiftung von Nahrung, Luft, Boden und Wasser verursachten Krebs? Und welches wäre das Alter, in dem wir den Tod als die «natürlichste» Sache des Lebens hinzunehmen bereit sind? Wo doch die Lebenserwartung von Region zu Region, Kultur zu Kultur verschieden ist?
Das Paradox ist nicht zu vermeiden: Was wir Menschen als «Natur» bezeichnen oder als «natürlich» empfinden – von der «Naturlandschaft» bis zum «natürlichen Lächeln», vom «Naturreis» bis zur «natürlichen Sexualität» –, ist ebenso stark von kulturellen & sozialen Normen geprägt wie von einer, womöglich, genetisch gesetzten «natürlichen» Wahrnehmungsstruktur & Ästhetik. Einen kultivierten Garten sähen wir als «Natur», so Michael Meyer-Abich, aber «eine Müllhalde nicht, obwohl beide Menschenwerk sind und gleichermassen den Gesetzen der Physik genügen».
Ausgerechnet in Zeiten, in denen Technologisierung & Industrialisierung die menschliche Alltagswirklichkeit endgültig durchsetzt & bedroht, wird die «Natur» zum positiv überhöhten Zufluchtsort stilisiert, der unkritische Technologieglaube durch einen ebenso unkritischen Naturmythos ersetzt beziehungsweise ergänzt. Als ob «natürliche» Strahlung nicht ebenso zur Erhöhung des Krebsrisikos beitrüge wie «künstliche». Als ob die im Katastrophenjahr 1986 – dem Jahr menschengemachter Katastrophen wie der Explosion der Raumfähre Challenger, des Dammbruchs der Kantal-Talsperre auf Sri Lanka, dem Super-GAU in Tschernobyl, dem Untergang eines sowjetischen Passagierdampfers im Schwarzen Meer, dem Grossbrand in Schweizer Halle u.a. – in Kamerun einem Vulkan entwichenen «natürlichen» Giftgase weniger tödlich wären als menschengemachte. Tausendsiebenhundert Männer & Frauen danken für den «natürlichen Tod».
Krone oder Störfall
Wir Menschen – wobei zwischen unterschiedlichen Kulturen, Geschlechtern und Klassen differenziert werden müsste – haben ein widersprüchliches Verhältnis zu dem, was wir als «Natur» bezeichnen, und, vor allem, zu uns selber. Einmal sehen wir uns als «Krone der Schöpfung» – in der die Welt erst zum Bewusstsein komme – und den «Rest der Welt» als blossen Futtertrog & Baustofflieferanten für unsere «höhere» Zivilisation, das andere Mal erklären wir «den Menschen» & seine Kultur zum Störfall einer heilen «Natur». Einmal sollen Erziehung & Kultur die «Natur des Menschen», das heisst das Wilde, Bestialische und Sexuelle überwinden, «veredeln», wie Reis, das andere Mal gilt der Mensch als «von Natur aus» gut, durch Kultur deformiert & verweichlicht, wird das Wilde gefeiert und das Prädikat «roh» ins Positive gewendet.
Angesichts der zerstörerischen Folgen einer bestimmten, weltumspannenden Kultur kippt die Überheblichkeit des menschlichen Geschlechts – beziehungsweise seiner Herren – von Selbstvergottung in Selbstverteufelung um – bis hin zur Verurteilung «des Menschen» & seiner Kultur als das «Naturfremde», als «Fehlentwicklung», die untergehen müsse, wenn das Leben auf diesem Planeten noch eine Zukunft haben solle. Noch in der «Wende» beziehungsweise am Ende behält «der Mensch» seine anthropozentrische Sicht, will er das Besondere bleiben – wenn schon nicht das «Höchste», dann wenigstens der einzige, dafür kapitale Bock, den «Mutter Natur» geschossen hat. Dies, obwohl Naturwissenschaften längst den Mythos des Aussergewöhnlichen zerstört und aufgezeigt haben: Es gibt im Weltall, wahrscheinlich, Millionen von belebten Sternen, und auf der Erde sind wir Menschen nur eine von Millionen verschiedener Formen des Lebens, wenn auch eine besonders expansive. Aber wir sehen uns lieber als das der «Natur» Entgegengesetzte, als Antwort des Teufels auf die Schöpfung Gottes, als dass wir diese über die kopernikanische Wende hinausgehende Verletzung unserer Eitelkeit akzeptierten.
Produkt & Gestalter der «Natur»
Nur, woher soll «der Mensch» mit seiner «naturfremden» Kultur in die so harmonisch funktionierende «Natur» eingefallen sein? Und welche «Natur» ist gemeint, wenn ihre Rettung, Erhaltung und Wiederherstellung gefordert wird? Gibt es «Natur» überhaupt als Zustand? Oder nur als dauernde Entwicklung? Ist «der Mensch» mit all seiner Technologie & Zerstörungskapazität nicht ebenso Teil der «Natur» wie die Ameisen mit ihren Staaten? Eine Atombombe ebenso «natürlich» wie eine Bienenwabe?
«Der Mensch» ist Produkt der «Natur» einerseits, Gestalter der «Natur» andrerseits – was, übrigens, auch für alle anderen Formen des Lebens gilt. Alle stehen in einem Wechselwirkungsverhältnis mit dem «Naturganzen», wobei die Einflussmöglichkeiten anderer Lebewesen, zumindest auf diesem Planeten, ungleich geringer sind als jene «des Menschen», wenn wir, beispielsweise, den Bau eines Vogelnestes oder eines Ameisenhaufens mit dem Bau eines Nationalstrassen-Netzes oder der Installierung des weltweiten Zerstörungspotenzials vergleichen. Wie es schon Karl Marx formuliert hat, «Natur ist nicht nur das, was aller menschlichen Tätigkeit vorausliegt und gegenübersteht, sondern auch das, was durch diese selbst lebendig fortwirkt.»
So gesehen, ist es absurd, «den Menschen» als Gegenpart der «Natur» zu betrachten beziehungsweise «den Menschen» mit seiner von ihm entwickelten Technologie – zum Schutz des «Naturganzen» vor «Fehlentwicklungen» – aus der «Natur» auszugrenzen. Er ist unauflöslich Teil der «Natur». Oder wie es Serge Moscovici formuliert: «Menschliche Kunst drängt nicht die Natur zurück; vielmehr wird ein Zustand dieser Natur durch das Erscheinen eines anderen Zustands umgestürzt. Das bedeutet jedoch nicht die Umwandlung der natürlichen in eine technische Welt, sondern die Evolution der natürlichen Welt als solcher.»
Die «Natur», der wir heute begegnen, ist, innerhalb der irdischen Biosphäre, zu einem grossen Teil immer schon eine «soziale», das heisst vom «Menschen» & seiner Geschichte mitgestaltete, auch jene Teile, die uns ihrer Vertrautheit (oder Unvertrautheit) wegen noch als «unberührte Natur» erscheinen mögen. Sie sind in den meisten Fällen längst «berührt», durch unsere Vorfahren. «Was man heute oft als den Frieden und die Schönheit der Natur geniesst», so Norbert Elias, «ist weithin menschengeschaffen. Es ist eine selektiv vom Menschen kultivierte und zivilisierte Natur, die wir bewundern.»
Wo «Natur» im Sinne eines «reinen» Zustandes zum Fetisch gemacht wird, wo sie das Unberührte, Zurückliegende, das Ursprüngliche, das einmal Gewesene & Wiederherzustellende meint, da wird sie als Leerformel beliebig manipulierbar und für ganz unterschiedliche gesellschaftliche & kulturelle Konzepte (miss)brauchbar. Und: Welches wäre überhaupt jener ominöse Zustand der Welt, der zurückgewonnen werden soll? Die «reine» Agrarwirtschaft, die Zeit der Jäger & Sammler oder der gasförmige «Urzustand» unserer Erde?
- Lesen Sie hier «Im Namen der Natur zum Zweiten» im Engadiner Tagebuch 6
(*) Das Essay «Im Namen der Natur» ist veröffentlicht in: «Der Mann, dem die Welt zu gross wurde – Variationen zur letzten Aussicht», Nürnberg: Lectura-Verlag, 2001. Erste Fassungen erschienen 1984 im Widerspruch und 1987 im Bücherpick.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Infosperber-Redaktor Jürgmeier macht Ferien im Engadin und notiert, was er da von Welten mitbekommt.