Von armen Hunden und verspielten Schweinen
«Die Chinesen essen mehr Hund als alle anderen Nationen», meint der Anthropologe Hal Herzog. Besonders beliebt sei Welpenschinken. Trocken seziert er die Ziele der Fleischhundezüchter: Schneller wachsende Rassen mit besserem Fleisch laute die Devise. Zuerst hätten sie es mit Deutschen Doggen probiert, dann kamen sie auf den Bernhardiner. «Weil die Hunde gutmütig sind und die Rasse für ihre grossen Würfe mit schnell wachsenden Welpen bekannt ist», erklärt Herzog in seinem Buch «Wir streicheln und wir essen sie».
Fleischhundwelpen werden im Alter von sechs Monaten geschlachtet. Da sei das Fleisch noch zart, sagt Herzog. In China glauben viele, dass Hundefleisch gesundheitsfördernd wirkt. Dennoch greifen gerade Junge vermehrt zu anderem Fleisch. Um den Verzehr von Hundefleisch in der Bevölkerung zu fördern, so Herzog, setzt die Industrie auf verarbeitete Produkte: Hundefleisch-Brot, Hundefleisch-Mayonnaise oder Hundefleisch-Hamburger.
Im Westen: Hundefleisch ist Kannibalismus
Jeden Sommer findet in Yulin in der südchinesischen Provinz Guangxi ein grosses Hundefleisch-Fest statt. An zwei Tagen werden dort tausende Hunde verzehrt. Seit einigen Jahren sind auch westliche Medien vor Ort, um über das Ereignis zu berichten – der Aufschrei im Ausland gehört mittlerweile zur Festival-Routine. Der Anblick gehäuteter Hunde verdreht gar so manchem Kulturrelativisten den Magen.
Laut Hal Herzog rührt das Tabu, Hunde zu essen, von zwei unterschiedlichen Facetten der Mensch-Tier-Beziehung her: «Menschen essen keine Tiere, die sie verachten, und sie essen keine Tiere, die sie mögen.» Hunde würden zum Beispiel in den meisten Auslegungen des islamischen Rechts als unrein und folglich als Ungeziefer gelten. Anders im Westen: «In amerikanischen Haushalten sind Hunde keine Tiere – sie sind Familienmitglieder», so Herzog. So käme es dem Kannibalismus gleich, wenn man seinen Hund isst.
Ähnlich argumentiert der Anthropologe Nick Fiddes in seinem Buch «Fleisch – Symbol der Macht». «Wir schliessen Haustiere als Nahrungsressource aus, weil sie uns Menschen zu nahe kommen». Fiddes erinnert daran, dass wir Haustiere als Individuen kennen und keine entfernten Wesen ohne Gesicht und Charakter sind. «Wir lassen Haustiere in unser Haus und dann und wann sogar in unser Bett.» Und weiter: «Wir machen uns Sorgen, wenn es ihnen nicht gut geht, und weinen, wenn sie sterben. Manchmal beerdigen wir sie sogar neben unserem Grab.»
In der Schweiz: Hundefleisch ist Privatsache
Das Schweizer Tierschutzrecht schützt Hunde nur bedingt. «Es existiert kein ausdrückliches Verbot, Heimtiere zur Fleischgewinnung zu töten», sagt Michelle Richner, Juristin bei der Stiftung für das Tier im Recht (TIR). Hundefleisch dürfe aber weder verkauft noch unentgeltlich abgegeben werden. «Wenn ein Hund von den im selben Haushalt lebenden Personen gegessen wird, ist das völlig legal», so Richner.
Was Richner fehlt, ist ein rechtlicher Lebensschutz für Tiere. «In der Schweiz darf jeder sein Tier töten, sofern die Tötung tierschutzkonform ist und nicht aus Mutwillen erfolgt.» Folglich dürfe jede Heimtierhalterin ihr gesundes Tier einschläfern lassen, wenn sie dafür einen Tierarzt findet, der den Eingriff vornimmt.
Statistische Erhebungen über den Konsum von Hunde- und Katzenfleisch gibt es nicht. In gewissen Schweizer Landesgegenden landen laut Richner Hunde oder Katzen regelmässig in der Pfanne. Die Politik pocht auf Eigenverantwortung. «Das Schweizer Parlament überlässt den Verzehr von Heimtieren dem ethischen Empfinden des Einzelnen», so Richner.
Gleiche Tiere gleich behandeln
Aus der Sicht der empirischen Verhaltensforschung ist es unbestritten, dass Hunde den Schweinen an Intelligenz, sozialen Fähigkeiten und Empfindsamkeit ähnlich sind. Wie Menschen, die gerne Hunde streicheln und Schweinswürste essen, mit dieser Information umgehen sollten, ist in der Philosophie eine viel diskutierte Frage.
Peter Singer, der australische Pionier der zeitgenössischen Tierethik, plädiert seit den 1970er Jahren für universale Regeln im Umgang mit «nichtmenschlichen Tieren». Im Sinne des Gleichheitsprinzips sollen gleiche Interessen gleich berücksichtigt werden. Zum Beispiel das Interesse, nicht zu leiden. Das hätte Konsequenzen: «Wenn Tiere einen eigenen Wert besitzen, wird unsere Verwendung von Tieren als Nahrung fragwürdig», so Singer. In Industrienationen sei es heute problemlos möglich, sich ohne Tierfleisch zu ernähren, meint der Philosoph in seinem Aufsatz «Ethik und Tiere – Eine Ausweitung der Ethik über unsere eigene Spezies hinaus».
Singers Tierethik fusst auf der Ablehnung des sogenannten Speziesismus, den er als «ein Vorurteil oder eine Voreingenommenheit gegenüber Wesen aufgrund ihrer Spezies» definiert. Der Begriff soll eine Parallele zum Rassismus oder Sexismus aufzeigen – Einstellungen, bei denen soziale Gruppen aufgrund von körperlichen Merkmalen entwertet werden. Das Interesse, nicht zu leiden, führt für Singer zu moralischem Wert – unabhängig von der Spezieszugehörigkeit. In Anlehnung an Darwin erinnert er daran, dass es zwischen Menschen und Tieren keine scharfe Grenze gibt. Damit kratzt Singer an der menschlichen Sonderstellung im Kosmos.
Tierindustrie als Übel
«In einer Welt ohne Speziesismus würden Menschen nichtmenschlichen Tieren kein erhebliches Leid zufügen, um ihre eigenen unwesentlichen Interessen zu befriedigen», so Singer. Damit meint er insbesondere moderne Formen der Intensivtierhaltung, die der Maxime folgen würden, dass uns Tiere als Objekte zur Verfügung stehen.
Die Schweiz hat ein Tierschutzgesetz, das sich teilweise von jenen im benachbarten Ausland unterscheidet. Laut Juristin Richner gewährt es auch den Nutztieren keinen ausreichenden Schutz. «Die Tierschutzgesetzgebung enthält viele Vorschriften, die den Ansprüchen an einen ethischen Tierschutz nicht genügen.» Die meisten Vorschriften bezüglich Stallgrössen würden etwa in keiner Weise einer artgerechten Haltung entsprechen. «Im Gegenteil», findet Richner, «die Tierschutzvorschriften stellen meist Kompromisse und somit lediglich Mindeststandards dar». Wer diese nicht einhält, macht sich der Tierquälerei schuldig.
Der italienische Philosoph Marco Maurizi will den Speziesismus indes nicht auf ein moralisches Vorurteil reduzieren. Für ihn ist der Speziesismus nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. «Aus einer soziologischen Perspektive betrachtet, beuten wir die Tiere aus, nicht weil wir sie als minderwertig betrachten, sondern: Wir sehen sie so, weil wir sie ausbeuten», so Maurizi im «Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen».
Egal ob man Hunde und Schweine nun als moralische oder als politische Objekte betrachtet, sie sind gleichermassen neugierig, verspielt und sozial. Doch könnte ihr Schicksal unterschiedlicher nicht sein. Als Heim- respektive als Nutztiere haben sie unterschiedliche Verwendungszwecke: Heimtiere werden primär aus emotionalen Gründen, Nutztiere primär aus ökonomischen Gründen gehalten.
Die Ideologie des Fleischessens
Für die Sozialpsychologin Melanie Joy ist die unterschiedliche Behandlung von Hunden und Schweinen eine Folge der sozial konditionierten Wahrnehmung. «Wie wir ein Tier einordnen, bestimmt dann wiederum, wie wir uns zu ihm in Beziehung setzen: ob wir es jagen, vor ihm fliehen, es ausmerzen, lieben oder essen», meint Joy. Daraus resultiere ein Überzeugungssystem, das uns den Verzehr von gewissen Tieren ermöglicht, indem es dabei jedes emotionale oder psychische Unbehagen von uns fernhält. «Das System bringt uns bei, nicht zu fühlen.» In ihrem Buch «Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen» bezeichnet Joy dieses System als Karnismus.
«Karnismus ist das Überzeugungssystem, das uns darauf konditioniert, bestimmte Tiere zu essen», erklärt Joy. Er präge als dominante Ideologie die Wertvorstellungen unserer Kultur. Zudem, so Joy, verzerren psychische Abwehrmechanismen unsere Wahrnehmung. Als Beispiel nennt sie die Entindividualisierung, die dazu führt, dass wir Tiere bloss als Mitglieder einer anonymen Masse betrachten. Hunden geben wir Namen, Schweinen geben wir Nummern. Hunde betrachten wir als Familienangehörige, Schweine als anonyme Fleischlieferanten.
Um klar und unabhängig von karnistischer Vorprägung denken zu können, müssten wir uns in Tiere hineinversetzen. «Mit diesem Akt der Empathie schliessen wir die Lücke in unserem Bewusstsein: jene Lücke, die das Gewaltregime des Karnismus am Leben hält», meint Joy.
Moderne Narren geben Tieren ein Gesicht
Der 2014 gegründete Lebenshof Hof Narr – inspiriert von der kritisch-subversiven Rolle des Narren am Königshof – will ehemaligen Nutztieren ein Gesicht geben. Auf 5,5 Hektaren im Zürcher Oberland leben rund 70 Tiere, darunter auch vier Schweine. «Schweine zu retten, war uns besonders wichtig», erklärt Mitbegründer Georg Klingler. Hausschweine würde man heutzutage kaum noch zu Gesicht bekommen, obwohl Schweinefleisch am meisten konsumiert wird.
Menschen und Schweine auf dem Lebenshof Hof Narr / Foto: Klaus Petrus
Den Hof betrachtet Klingler als Experiment, um die kulturelle Entwicklung voranzutreiben. Die Hof Narren laden dazu ein, sich von dem zu emanzipieren, was heute als selbstverständlich gilt. «Die Normalität zerstört unseren Planeten«, sagt der Landwirt und ETH-Umweltwissenschaftler. Narren würden das Bestehende kritisieren, ohne zu moralisieren.
Fast einmal pro Woche veranstalten sie Hofführungen für Private, Schulklassen oder Unternehmen. «Ich bin überzeugt, dass der emotionale Kontakt zu den Tieren wichtiger ist als harte Fakten», sagt Klingler. Wenn sich die 200 Kilogramm schweren Schweine wie Hunde auf die Seite werfen, um gekrault zu werden, gehe ein Lächeln durch jede Gruppe.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Tobias Sennhauser ist freischaffender Publizist und Präsident der Tierrechtsorganisation «Tier im Fokus»
Mich verwundert es immer wieder, wie Leute, die sich gegen einen vermeintlichen Speziesimus wenden, im gleichen Atemzug rassistische Stereotypen bedienen wie jenes, dass «der Chinese» als solches Hund isst. Wie Peter Achten im verlinkten Beitrag zu Yulin deutlich macht, ist der Verzehr von Hundefleisch auch in China alles andere als unbestritten. Aber das Vorurteil passt so schön und lässt (im Westen) regelmässig die Erregung hochkochen: «Westler verlangen nun von Nicht-Westlern, ihre Essgewohnheiten zu ändern, weil sie der Ansicht sind, ihre Kultur und ihre Gefühle verdienten mehr Respekt als andere», schreibt die chinesische «Global Times» treffend.
Kommt hinzu, dass wer mit Peter Singer argumentiert, sich kaum gegen das Einschläfern von (Haus-)Tieren aussprechen kann, zumal Singer sich mehrfach für die Euthanasie – auch für eine nicht-freiwillige, z.B. im Fall von «missgebildeten Säuglingen» – ausgesprochen hat, so z.B. in seiner «Praktischen Ethik». Persönlich lehne ich diese Position nicht grundsätzlich ab, sie erscheint mir in sich valide und schlüssig – wenn auch zu extrem. Es geht mir hier einzig darum, auf den inneren Widerspruch jener hinzuweisen, die nicht, wie Singer, bereit sind, die ganze Angelegenheit – also das Gleichheitsprinzip – bis zum (bitteren?) Ende durchzudeklinieren.
Fleisch sollte die Ausnahme auf dem Teller sein. Die Tiermast und auch die übertriebene Milchwirtschaft verschlingt zu viele Nahrungsmittel (Mais, Getreide, Soja). Soweit die Nutztiere Gras / Heu resp. Resten und unverkäufliches fressen, ist das in Ordnung. Mit halb so vielen Milchkühen und Masttieren ginge es uns und unserem Land besser.
Kunstdünger ist ebenfalls unnötig und macht den Boden kaputt.
Als tier- /Menschen- und Umwelt-liebende Hundehalterin verzichte ich seit 35 Jahren konsequent auf jeglichen Fleisch(nicht)Genuss!
@Gattiker: Und der Hund? Woher stammt das Fleisch in seinem Fressen? Oder versorgt er sich durch Jagd selber? Wäre man als Vegetarier und besonders als Veganer konsequent, hielte man auch keine Haustiere.
Und nur am Rande: trinken Sie Nespresso-Kaffee? Da sind tierische Fette drin. Für’s Schümli.
@Gisiger: Der Artikel sagt allerdings nirgends, dass alle Chinesen Fleisch essen würden. Nur, dass in China mehr Hund gegessen wird als anderswo – das ist faktisch korrekt.
Zudem haben Tierrechtler – unter anderem Singer – tatsächlich kein Problem mit Euthanasie. Das sind Utilitaristen, die wollen das grösste Glück der grössten Zahl erreichen. Und dazu gehört nun mal, dass man Leute und Tiere sterben lässt, wenn sie nur noch leiden, bzw. wenn erwachsene Menschen selbst den Wunsch dazu äussern.
Die Schlachtindustrie kann man so jedenfalls nicht rechtfertigen.