Typischtypisch oder unser Roger ist ein Deutscher
Es ist der Tag nach Roger Federers Sieg «in extremis» gegen Marin Čilić im Viertelfinal von Wimbledon. Der Morgen vor dem Halbfinal zwischen Frankreich und Deutschland an der Fussball-EM. Die Stunde von Erfolgstrainer Ottmar Hitzfeld, der im Tages-Anzeiger-Interview am 7. Juli 2016 Gründe für einen deutschen Erfolg nennt: «… die Siegermentalität, die ist ausgeprägt in Deutschland …» Lernen könne man das nicht wirklich, erklärt er auf die entsprechende Journalistenfrage: «… der ausgeprägte Ehrgeiz, der steckt einfach im Deutschen drin.»
Eine (Not-)Lüge bestätigt das rassistische Stereotyp
Ende Januar 2016 – noch dient der Kölner Silvester als Legitimation für Ausländerhetze – wird die Bundessprecherin der Jugendorganisation der deutschen Partei «Die Linke» Selin Gören von drei Migranten, vermutlich arabischer Herkunft, vergewaltigt. Sie macht am gleichen Abend eine Anzeige bei der Polizei. Wegen Diebstahls. Gegen Männer, «die deutsch gesprochen hätten» (Spiegel, 27/2016). «Sie wollte die drei Männer nicht davonkommen lassen. Aber sie wollte auch nicht, dass ihre Geschichte von Rassisten missbraucht würde», schreibt der Spiegel aufgrund eines Gesprächs mit Selin Gören. Vier Monate nach jener Nacht, in der ein Polizeibeamter sie fragt: «Waren es Flüchtlinge?» Sie habe, «wütend und trotzig», gedacht: «Das hättest du rassistischer Bulle wohl gern, dass Flüchtlinge schuld sind. Also antwortete sie: ‹Nein›. Es sei eine ‹gemischte Gruppe› gewesen, Ausländer und Deutsche». Weil ihr Freund sie drängt, eine andere Frau angibt, in der Nähe von einem arabisch Aussehenden vergewaltigt worden zu sein, weil die unbekannten & freien Täter noch anderen Frauen sexuelle Gewalt antun könnten, korrigiert sie ihre «Kurzschlussreaktion» und erzählt der Polizei nicht einmal 24 Stunden später, wie es wirklich war. So bestätigt die (Not-)Lüge nachträglich das rassistische Stereotyp – der Vergewaltiger ist immer der Araber.
Sind die Franzosen deutscher als die Deutschen?
Am 7. Juli verliert Deutschland gegen Frankreich 2:0. Sind die Franzosen deutscher als die Deutschen? AfD-Politikerin Beatrix von Storch twittert: «Vielleicht sollte nächstes Mal dann wieder die deutsche NATIONALMANNSCHAFT spielen?» (Tages-Anzeiger, 8. Juli). Nachdem der «widerlichste Tweet des Abends» (Stern) die geplanten Schlagzeilen generiert hat, macht sie den Gauland (eine politische Variante des Rückziehers), löscht das Kürzeststatement und suggeriert auf Facebook, ihr sei es nur um Sprachliches gegangen, sie werde auch künftig nicht «den politisch korrekten, weil entnationalisierten Namen» verwenden, sondern das deutsche Team «Nationalmannschaft» nennen. «Denn das ist sie, mit allen ihren Spielern. Unsere Nationalmannschaft.»
Als hätte ihr der Parteikollege Alexander Gauland nicht schon vor Wochen aus der «deutschen Seele» gesprochen, als er im Spiegel-Gespräch erklärt: «Eine deutsche oder eine englische Fussballnationalmannschaft sind schon lange nicht mehr deutsch oder englisch im klassischen Sinne.» Und, mit offensichtlicher Zustimmung, den Satz seines Freundes & AfD-Scharfmachers Björn Höcke wiederholt: «Indem ich die deutsche Grenze überschreite und einen deutschen Pass habe, bin ich noch kein Deutscher.» Meint, nicht mit deutschem Pass im schreienden, die deutsche Nationalhymne brüllenden Mund zur Welt gekommen – auf zehn Generationen zurück. Haben «die Deutschen» in den Augen der AfD – die im Moment darüber streitet, ob sie an deutsche Traditionen des Antisemitismus anknüpfen oder einen neuen deutschen Rassismus entwerfen will – verloren, weil der klassische deutsche Ehrgeiz in Özil, Boateng & Co. nicht drin ist? Wann kommt der Ehrgeiz, wann «das Deutsche» in den Deutschen?
Lügen aus «gutem» Grund
Wenige Tage nachdem Selin Gören sich als Lügnerin aus «gutem» Grund geoutet hat, erfährt sie, dass die Frau – deren Schicksal sie mit zu diesem Schritt bewogen hat – «ihre Geschichte offenbar nur erfunden» hatte (Spiegel). Wenn die Wirklichkeit das Vorurteil nicht bestätigt, werden Realitäten bewusst oder unbewusst erfunden oder durch (unzulässige) Verallgemeinerungen sowie selektive Wahrnehmung konstruiert. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die mutmassliche Falschbeschuldigerin «vermutlich psychisch krank ist» und nicht, wie die «Sozialistin und Internationalistin» (Gören über Gören) – die jetzt laut Spiegel Angst vor Arabern hat – ihr unterstellt, «aus rassistischen Motiven handelte» (Spiegel). Unabhängig vom Motiv im Einzelfall – Erfindung und Verleugnung arabisch oder so ähnlich aussehender beziehungsweise redender Täter sind gleichermassen Ausdruck eines gesellschaftlichen Klimas, das empfänglich ist für rassistische Denkfiguren. Die das Einzelne zum Allgemeinen, das Individuelle zum Kollektiven erklären. Typischtypisch.
Hauptsache nicht «die Deutschen»
In der Schweiz werden sich einige über die Niederlage von Schweinsteiger & Kollegen gefreut haben. Hauptsache nicht «die Deutschen», hoffen hierzulande nicht wenige, wenn irgendwo um irgendwelche Titel gespielt wird. «Die Deutschen», behaupten sie etwa, glaubten, sie seien die Grössten. Glauben das rund 80 Millionen Menschen? Wenn wir zwei überhebliche Schwaben, drei unpünktliche Italiener*innen, vier charmante Pariser*innen oder fünf besoffene Russ*innen sowie sechs fette US-Amerikaner*innen treffen, greifen wir gern & schnell zur Formel: Typischtypisch. Denn: Sie macht die komplizierte Einteilung der menschlichen Arten so viel einfacher.
Rassistische Denkfiguren sind das Produkt von Verallgemeinerung, Kulturalisierung und Biologisierung des Einzelfalls. Ottmar Hitzfeld würde, vermutlich und womöglich zu Recht, von sich sagen, er sei kein Rassist. Aber er behauptet, der Ehrgeiz «steckt einfach im Deutschen drin». Natürlich, würde er einräumen, gäbe es auch ehrgeizige Schweizer*innen, Schwed*innen und Chines*innen. Aber es steckt nicht in ihnen drin. Treffen wir einen geschwätzigen Älpler oder eine schweigsame Städterin, sagen wir dann «Laute Berge – leises Tal; eine Frau, ein Wort – ein Mann, ein Wörterbuch»? Nein, wir nehmen sie – um die Bilder in unseren Köpfen nicht zu gefährden – nicht als typische Vertreter*innen ihres kollektiven Klischees wahr.
Kriminalität und (sexuelle) Gewalt lassen wir nicht als typische Merkmale für Europäer*innen beziehungsweise Schweizer*innen gelten. Wie wir es, zum Beispiel, «den Arabern» zuschreiben. Auch wenn die Mehrheit von ihnen noch nie eine Frau vergewaltigt hat, gilt sie, diese arabische Mehrheit, als Ausnahme, welche die Regel bestätigt. In den anderen, in den Fremden, da steckt sie drin – die Gewalt, auch die sexuelle. Im einen Fall wird das Verhalten des Individuums beziehungsweise einer kleinen Gruppe als repräsentativ für eine Kultur definiert, im anderen Fall gilt es als untypisch. Das ist Rassismus.
Der Ausnahmefall, der Klischees & rassistische Denkfiguren bestätigt
Pastor Roger Jimenez von der Verity Baptist Church in Sacramento erklärt nach dem Massaker an den Besucher*innen eines «vorwiegend von Homosexuellen besuchten Nachtclubs in Orlando»: «Ich denke, dass Orlando heute Nacht ein bisschen sicherer ist. Die Tragödie ist, dass nicht noch mehr von ihnen gestorben sind. Ich ärgere mich, dass er seinen Job nicht zu Ende gebracht hat!» (Humanistischer Pressedienst h/pd).
Dass der Täter vermutlich ein «homophober IS-Sympathisant mit homosexuellen Neigungen» ist, «dass die grausame Tat in der islamischen Welt lautstarke Befürworter fand, während muslimische Stimmen, die das Massaker verurteilten, kaum Gehör fanden», bestätigt Ängste vor dem Islam und anti-muslimische Vorurteile. Aber der Gottesmann, der sich wünscht, «die Regierung würde sie alle zusammentreiben, an die Wand stellen, ein Erschiessungskommando vor ihnen antreten lassen und ihnen die Hirne rausblasen» (Humanistischer Pressedienst h/pd), wird nicht als Beleg für ein ungeklärtes Verhältnis des Christentums zur Gewalt instrumentalisiert. Auch das folgende Zitat auf der Website der Verity Baptist Church, Sacramento, Kalifornien, nicht: «Wir glauben, dass Analverkehr* (Homosexualität) eine Sünde und abscheuliche Tat vor Gott ist, die Gott mit der Todesstrafe ahndet.» Islamistische Hassprediger und IS-Terrorist*innen aber gelten als Beweis für den gewalttätigen Kern des Islams. Das Muster erinnert an den «Kalten Krieg»: Da galt Armut & Hunger bei den anderen als systembedingt; Hunger & Armut in der eigenen Hemisphäre als individuelles Versagen. Aktuelle Parallele: Russisches Doping hat System, im Westen sind Dopingsünder*innen schwarze Schafe in weissem Umfeld.
Kritik fremder (und eigener) Kulturen, Religionen, Wirtschafts- und Gesellschaftsformen ist kein Rassismus. Erst die Verallgemeinerung des («positiven» oder «negativen») Einzelnen erzeugt generelle & konstruierte Differenzen zwischen Kulturen, Nationen und Ethnien (vergleichbar der Geschlechterdifferenz). Verherrlichung & Überordnung des Eigenen, Entwertung & Unterordnung des Fremden, die Erklärung des «Positiven» zur Ausnahme & die Verallgemeinerung des «Negativen» bei den anderen, die Individualisierung des «Negativen» und die Kollektivierung des «Positiven» in der eigenen Kultur oder Gesellschaft – das ist Rassismus. Oder wie es der tunesisch-französische Schriftsteller & Soziologe Albert Memmi in seinem Buch «Der Rassismus» formuliert hat: «Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.»
Alles ist lernbar, auch die Friedfertigkeit
Der deutsche Bundestrainer Joachim Löw verlässt sich künftig besser nicht mehr auf die Hitzfeldsche Formel, Ehrgeiz & Winnermentalität seien im Deutschen, seien schon in seinen Mannen drin, sondern setzt darauf, dass Siegen lernbar ist. Das gilt allerdings auch für alle andern. Alles ist lernbar, was Kulturen so zugeschrieben, was uns so im Blut liegen oder in anderen drin sein soll – Bescheidenheit & Grössenwahn, Rhythmus & Jodel, Fussball & Skifahren, Gewalt & Friedfertigkeit, Emanzipation & Unterdrückung. Und am Ende lernen die Isländer noch, Weltmeister zu werden.
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* Englisch: sodomy
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine