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Flüchtlingskrisen-Bewirtschaftung mit «Sex-Appeal»... © AZ Medien

Rauf oder runter? Die Sonntagszeitungen im Dilemma

Christian Müller /  Die Sonntagszeitungen rücken näher zum Boulevard – und schaden sich dabei selbst. Ihre Situation ist schwierig geworden.

Tageszeitungen gibt es seit Urzeiten. Die NZZ zum Beispiel wurde schon 1780 gegründet. Und sie funktionierten, auch kommerziell, eigentlich immer recht gut. Klar, gelegentlich machte auch früher schon mal die eine oder andere die Kippe oder wurde von der örtlichen Konkurrenz übernommen. Vor allem die sozialdemokratischen und katholischen Parteiblätter verschwanden schon im letzten Jahrhundert, weil der Erlös aus den Anzeigen bei ihnen nicht so üppig floss wie bei den wirtschaftsnahen Blättern aus (damals) freisinnigen Häusern.

So oder so, die Zeitungen wurden immer auch wieder mal totgesagt, das erste Mal beim Aufkommen des Radios, als die News ja deutlich schneller zu hören als in den Zeitungen zu lesen waren, und dann auch wieder beim Aufkommen des Fernsehens, da der Nachteil des Radios, keine Bilder zeigen zu können, ja jetzt auch behoben war. Doch das Umgekehrte trat ein: Radio und Fernsehen weckten das allgemeine Interesse am Tagesgeschehen, und die Leute wollten zuhause «schwarz auf weiss» bestätigt und vielleicht auch kommentiert haben, was sie in den flüchtigen Medien Radio und Fernsehen tags zuvor schon mal mitbekommen hatten.

Eine grosse Marktlücke war aber lange Zeit der zeitungsfreie Sonntag. Ausgerechnet am Sonntag, da man, zumal bei schlechtem Wetter, zu Hause sass, gab es keine Zeitungen. Die Verlagshäuser zögerten lange, weil am Sonntag vor allem die Distribution extrem teuer war: Mangels Post-Verteilung musste man die Bedienung der Briefkästen selber organisieren. Aber der Start gelang, der SonntagsBlick funktionierte über den Kioskverkauf (die Männer mussten am Sonntagmorgen ja einen Grund haben, ausser Haus zu gehen…), die SonntagsZeitung schaffte die eigene Distribution, die dann lange auch das Bollwerk gegen das Aufkommen weiterer Sonntagszeitungen war.

Spät, erst 2002, stieg auch die NZZ in den Sonntagsmarkt ein, aber auch sie hatte Erfolg. Mit gut recherchierten Primeurs bei der SonntagsZeitung und mit leicht leserlichem Hintergrund bei der NZZ am Sonntag ging’s aufwärts. Und so konnte auch die schnell wachsende AZ Mediengruppe nicht mehr abseits stehen und lancierte ebenfalls eine Sonntagsausgabe – und auch sie mit Erfolg.

Die Probleme kamen mit der Digitalisierung

Die 2008 ausgebrochene Finanz- und anschliessende Wirtschaftskrise brachte mit reduzierten Inserate-Einnahmen die ersten Wölklein an den blauen Presse-Himmel. Einen Sturm aber brachte die rasend schnell um sich greifende Digitalisierung der Medien-Welt. Die Anzeigen-Erlöse, die schon immer zwei Drittel, in guten Jahren sogar bis zu drei Vierteln der Erlöse der Zeitungen ausgemacht hatten, brachen ein, nicht zuletzt die Stellen-Anzeigen, die in guten Zeiten bis zu hundert Zeitungsseiten einer SonntagsZeitung füllen konnten. Sie sind zwischenzeitlich fast ganz verschwunden. Hart getroffen wurde vor allem auch die NZZ, die ihren 50-Millionen-Jahresgewinn mit ihren Immobilien und mit anderen Finanzanlagen machte und grosszügig darüber hinwegschauen konnte, dass das eigentliche Kerngeschäft, ihre Zeitungen, schon vor der Krise kaum profitabel war.

Aber auch die Abo-Einnahmen drohten einzubrechen. Eine Weile konnte dieser Einbruch mit spürbaren Abo-Preiserhöhungen kompensiert werden, aber auch das hatte und hat seine Grenzen. Die mittlerweile überall lancierten digitalen Ausgaben der Zeitungen konnten und können noch immer die rückläufigen Abo-Erlöse nicht kompensieren. Ein – kleines – Glück für die Zeitungen ist nur noch die zunehmende Überalterung unserer Gesellschaft, denn noch immer mögen die Pensionäre lieber eine Zeitung in beiden Händen als ein iPhone oder ein Kleinst-Tablet nur noch in einer Hand.

Jetzt hat es auch die Sonntagszeitungen erwischt

Eine im April 2016 veröffentlichte Studie der (den Schweizer Medienhäusern gehörenden) AG für Werbemedienforschung WEMF zeigt, dass es nun definitiv auch die Sonntagszeitungen erwischt hat: Die Leserzahlen stagnieren oder gehen gar zurück. Schauen auch am Sonntag die Leserinnen und Leser zunehmend lieber ins Tablet als in eine Zeitung?

Ein gutes Anschauungsbeispiel ist die Schweiz am Sonntag. Ihr Chefredaktor Patrik Müller ist ein blitzgescheiter, cleverer, um nicht zu sagen genialer Macher – mit Betonung auf «Machen». Und Müller hat ein klares, allem Anderen übergeordnetes Ziel: Auflage-Bolzen. Mit Unterstützung auch des Verlages: Die Lancierung des Sonntags, wie das Blatt anfänglich hiess, erfolgte mit einer Quasi-Pflicht der Abonnenten der Tageszeitungen des damaligen Zeitungsverbundes Mittelland-Zeitung (Aargauer Zeitung, Solothurner Zeitung, Zofinger Tagblatt, u.v.a.). Die Abonnenten erhielten die Sonntagsausgabe unaufgefordert, und auch die (jetzt höhere) Abo-Rechnung bezog sich auf «Sonntag-Inklusive». Wer sich allerdings aktiv wehrte, musste den Sonntag nicht übernehmen, so etwa etliche Pietisten aus dem (zum Kanton Bern gehörenden) Berner Aargau, die den (echten) Sonntag aus religiösen Gründen frei halten wollten.

Der Start gelang und der erhoffte Erfolg stellte sich ein. Patrik Müller, der Chefredaktor, verstand es, ein beachtetes Blatt zu machen. Dem Erfolg zuliebe biederte er sich aber auch mehr und mehr bei Blocher und der SVP an – unbesehen des Umstandes, dass Verleger Peter Wanner als überzeugter Liberaler zweimal (vergeblich) versuchte, als FDP-Mitglied in den Nationalrat gewählt zu werden: journalistische Freiheit eines Chefredaktors eben. Im Mai 2014 etwa gab er dem niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders seitengross eine laute Stimme. Klar, wer im Schweizer Medienmarkt Erfolg haben will, muss auch den Gläubigen des Gurus vom Herrliberg etwas nach deren Gusto zu bieten haben.

Aber auch in anderen Bereichen gab es Neuerungen. So etwa wurde eine Seite für Kinder (die Idee stammte von der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT) aufgegeben und durch LifeStyle ersetzt. LifeStyle ist in den Medien das neue Wort für redaktionelle Empfehlungen von Produkten von echten und/oder potenziellen Inserenten. Wir, die Leserinnen und Leser, haben zwar schon alles, was wir zum Leben brauchen, aber wir müssen ja irgendwie motiviert werden, auch Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen. Unser System basiert auf Wachstum, und das ist nur noch mit unnötigem Konsum zu erreichen. LifeStyle eben.

In den letzten Monaten versucht es Patrik Müller aber vor allem auch mit Prominenz. Es gibt keine Ausgabe der Schweiz am Sonntag mehr ohne irgend ein Gespräch mit einem Polit-, Wirtschafts- oder Sport-Promi, wobei dann immer Patrik Müller zu den Autoren des Artikels gehört: Wer selber Promi werden will, muss sich eben unter die Promis mischen. Müllers – im doppelten Sinne des Wortes – letzter Gag: eine regelmässige Kolumne in der Schweiz am Sonntag von Sepp Blatter.

Die Tageszeitung wird hintergründiger

Die im gleichen Medienhaus erscheinende Tageszeitung Nordwestschweiz (Aargauer Zeitung, Solothurner Zeitung, Basellandschaftliche Zeitung, u.a.) geht einen anderen Weg: Sie wird tendenziell hintergründiger. Welches Thema immer auch aktuell ist: die Seiten 2 und 3 der Tageszeitung sind immer einem Thema gewidmet. Mal Politik, mal Wirtschaft, mal Sport, mal Kultur, mal Medien. Mit grossen Headlines, gewiss, aber (fast) immer auch mit viel Information. Eigentlich eine ganz gute Sache – aber auch eine Konkurrenz zur Sonntagszeitung, die ja, aus der Sicht der Leserinnen und Leser, den Hintergrund zu den News der Wochentage bringen sollte.

So ist es nicht verwunderlich, wenn neben dem SonntagsBlick, der SonntagsZeitung und der NZZ am Sonntag nun auch die Schweiz am Sonntag an Reichweite eingebüsst hat (gemäss WEMF-Studie um 5,7 Prozent), zwar weniger als der SonntagsBlick (- 8,2 Prozent), aber mehr als die SoZ (-1 Prozent) und die NZZaS (-2,4 Prozent). Ganz offensichtlich passt Boulevard und sonntägliches Lese- und Unterhaltungsbedürfnis nicht mehr so richtig zusammen.

Die letzten Ausgaben der Schweiz am Sonntag lassen vermuten, dass trotz politischem Rechtsrutsch und trotz anhaltendem Promi-Kult das Pulver des Machers Patrik Müller weitgehend verschossen ist. Man kann sich die Verzweiflung einer Redaktion vorstellen, wenn sie als Aufhänger auf der Frontseite einer Sonntagszeitung die folgende Headline zu platzieren beschliesst: Altersbestimmung: Flüchtlinge müssen zum Genitalcheck. Da kann es nur zwei Überlegungen gegeben haben: a) Die mediale Bewirtschaftung der Flüchtlingskrise verspricht immer Erfolg, und b) wenn kombiniert mit irgendetwas aus der Sex-Schublade, dann erst recht.

Nur: eine solche Headline ist auch ein Eingeständnis, dass man a) selber nichts Substanzielles zu bieten hat, und b) dass man die Leserinnen und Leser für einfältig und dumm hält.

Die Geschichte, wie den Flüchtlingen die Hosen heruntergelassen werden, ist damit zu einer ganz anderen Geschichte geworden: Wie eine (noch) erfolgreiche Sonntagszeitung ihre eigenen Hosen herunterlässt.

Die Sonntagspresse ist im Dilemma: mehr Hintergrund oder mehr Boulevard? Die Leserinnen und Leser wollen glücklich gemacht werden. Die Anzeigenerlöse werden nicht wieder anwachsen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor war zum Zeitpunkt des Starts der Schweiz am Sonntag (damals noch Der Sonntag) CEO der Vogt-Schild Medien Gruppe in Solothurn, zu der auch die Solothurner Zeitung, das Grenchner Tagblatt, das Langentaler Tagblatt u.a. gehörten. Er hat das Abo-Quasi-Obligatorium der Sonntagsausgabe im Rahmen des Mittelland-Zeitungsverbundes damals mitgetragen.

Zum Infosperber-Dossier:

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4 Meinungen

  • am 18.06.2016 um 16:35 Uhr
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    Relevant, weil genauer sind die Reichweitenverluste. Dabei gibt eine langfristige Betrachtung das klarste Bild ab. Seit 2013-2, als die Studie erstmals nach einem neuen Konzept erschien, hat die Schweiz am Sonntag 26,8% ihrer Reichweite von damals 10,0% in der deutschen Schweiz eingebüsst und kommt jetzt noch auf 7,3%. Vor ihr platziert ist die NZZ am Sonntag mit 8,7% und einem Verlust von 15,8%. Spitzenreiter ist nach wie vor der Blick am Sonntag mit 13,3%. Das sind aber 26% weniger als im Herbst 2013. Die Sonntagszeitung hat nur 7,9% eingebüsst und liegt jetzt mit 13,1% nur noch knapp hinter dem Sonntagsblick zurück. Dies allerdings um den Preis einer riesigen Papierschlacht in Bern und Basel wo lange Zeit zehntausende von Exemplaren gratis an die Abonnenten von Bund und Basler Zeitung verteilt wurden.

  • am 20.06.2016 um 14:57 Uhr
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    Christian Müllers Lobgesang auf den «Schweiz am Sonntag» Chefredaktor Patrik Müller – «ein blitzgescheiter, cleverer, um nicht zu sagen genialer Macher» – scheint mir etwas gar einseitig ausgefallen zu sein: kein Sterbenswörtchen zu Müller Patriks trüber Rolle in Müller Geris trüber Selfie-Affäre, der Schmierenkommödie, zu welcher der geniale Macher Patrik Müller sich vom trüben Meinungsmanipulator Sacha Wigdorovits bereitwillig hat instrumentalisieren lassen und sich dabei weniger als genialer Macher, als vielmehr als Schmuddeljournalist der übleren Sorte profiliert hat.

  • am 20.06.2016 um 20:41 Uhr
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    Ich habe alle Sonntagszeitungen ausprobiert, abonniert habe ich keine. Zuviel bedrucktes Papier, zuwenig Inhalt, zuviel Boulevard und Lifestyle, zuwenig Hintergrundinformation. Eine Sonntagszeitung sollte eine Wochenzeitung sein, wie seinerzeit das Magazin FACTS.

  • am 8.07.2016 um 02:08 Uhr
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    Nur eine Anmerkung: Im Satz «Wer sich allerdings aktiv wehrte, musste den Sonntag nicht übernehmen, so etwa etliche Pietisten aus dem (zum Kanton Bern gehörenden) Berner Aargau, …» ist die Klammerbemerkung nicht zutreffend, sofern es sich wirklich um den Berner Aargau handelt. Als Berner Aargau wird das Gebiet der aargauischen Bezirke Brugg, Lenzburg, Aarau, Kulm und Zofingen bezeichnet, die in der Alten Eidgenossenschaft bernisches Untertanengebiet waren. Vermutlich fand hier eine Verwechslung statt mit dem Oberaargau, der 1803 beim Kanton Bern blieb.

    Red.: Peter Berger hat recht, es sollte Oberaargau heissen. Wir erlauben uns, dies im Text jetzt zu ändern. Danke für den Hinweis. cm.

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