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Göschenen: Neat drängt Dörfer an der alten Gotthardstrecke ins Abseits © Adrian Michael/Wikimedia Commons/CC BY-SA 3.0

Die Alpen bleiben mit der Neat auf der Strecke

Hanspeter Guggenbühl /  Je schneller der Verkehr rollt, desto weniger haben durchquerte Gebiete davon. Die Neat dient primär fernen Zentren.

Red. Im Vorfeld der Einweihung des Gotthard-Basistunnels am 1. Juni dieses Jahres veröffentlichen wir in lockerer Folge mehrere Artikel zu verschiedenen Aspekten der Neat (4).

«Wem dient’s?» Diese Frage stelle er zuerst, wenn er eine Neuerung beurteilen müsse, sagte mir einst ein älterer Kollege. Ich selber kritisiere, dass wir zu häufig «wie viel» fragen und zu selten «wozu»? Wem also dient die neue Neat mit dem Kernstück Gotthard-Basistunnel, und wozu?
Vordergründig ist die Neat ein Schienenprojekt. Sie erhöht die Kapazität und das Tempo der Bahnen im Nord-Südverkehr durch die Alpen. Ihr Kernstück, der Gotthard-Basistunnel, der am 1. Juni in Uri und im Tessin gefeiert wird, dient dem weiträumigen Verkehr. Denn die Neat-Personenzüge fahren in der Regel ohne Halt über die 110 Kilometer lange Strecke zwischen Arth-Goldau und Bellinzona; nur sechs nationale Züge sollen pro Tag einen Zwischenhalt in Uri einlegen.
«Schweizer Investition für Europa»
Die Nebenzentren Bellinzona und Arth-Goldau, die mit dem neuen Basistunnel direkt verbunden werden, rücken einander zwar näher. Doch es sind vor allem weiter entfernt liegende Zentren, die von der Neat profitieren: Innerhalb der Schweiz die Agglomerationen von Zürich, Basel und Lugano. Im Ausland die Wirtschaftsräume Mailand, Frankfurt, Ruhrgebiet sowie die Häfen der Nordsee und des Mittelmeers.
Die Neat spiegelt damit den Gegensatz zwischen Angebot, Lasten und Nutzen von Verkehrsprojekten: Die Bergkantone Uri, Graubünden und Tessin stellen ihr Terrain für den Gotthard- und Ceneri-Basistunnel sowie die auf die Tunnel zulaufenden neuen Bahnlinien zur Verfügung. Die Steuerzahler in der Schweiz tragen den Grossteil der Neat-Investitionen von 24 Milliarden Franken; nur zehn Prozent steuern ausländische Transporteure in Form von Schwerverkehrs-Abgaben bei.
Vom Nutzen aber entfällt ein wesentlicher Teil auf die EU-Staaten im Norden und Süden der Schweiz. Das bestätigt die neuste Studie über die volkswirtschaftlichen Wirkungen der Neat, die das Büro Ecoplan im Auftrag der Bundesverwaltung erstellte. Konkret: Den volkswirtschaftlichen Nutzen der Neat beziffern die Verfasser auf 525 Millionen Franken pro Jahr. Davon entfallen 240 Millionen oder 46 Prozent aufs Ausland, 54 Prozent auf die Schweiz. Stellt man diesen Nutzen den Kosten gegenüber, so bleiben der Schweiz unter dem Strich Nettokosten von 205 Millionen Franken, während die ausländischen Staaten von einem Nettonutzen von 174 Millionen Franken profitieren. Die Neat, so folgert Ecoplan aus diesen Daten, «ist eine Investition der Schweiz für Europa». Das gilt für den Güter- stärker als für den Personenverkehr.
Nutzen privat, Kosten dem Staat
Noch einseitiger fällt die betriebswirtschaftliche Rechnung aus: Die Schweiz übernimmt das Defizit, das sich während der Lebenszeit der Neat auf einen zweistelligen Milliardenbetrag summieren wird (siehe Artikel: «Wie sich die Neat rot und schwarz rechnen lässt»). Die Anrainer-Kantone tragen die Lasten der Neat ohne Garantie, dass sich ein wesentlicher Teil des lärmigen Strassenverkehrs auf die etwas weniger lärmige Bahn verlagert. Auf der anderen Seite profitieren Bahnreisende und Gütertransporteure vom subventionierten Verkehr ebenso wie die Industrie von den «just in time» rollenden Warenlagern. Wolfgang Stölzle, Professor für Logistik an der Universität St. Gallen, räumt in einem Interview mit der NZZ denn auch ein: «Die Transportpreise liegen auf einem Niveau, das verkehrsintensives Wirtschaften erlaubt.»
Das war nicht immer so. Früher erzielten die Anbieter von Verkehrsleistungen selber Profit und unterstützten damit den Staat. Die Schweizer Bundesbahnen etwa bezahlten in den 1960er-Jahre noch alle Infrastruktur-Betriebskosten, ohne vom Bund Abgeltungen für «gemeinwirtschaftliche Leistungen» zu beanspruchen. Heute decken die Tarife im Güter- und Personenverkehr weniger als die Hälfte aller Bahnkosten; die andere Hälfte steuern Bund, Kantone und Gemeinden bei.
Was die Verkehrsgeschichte lehrt
Bevor die Bahnen und später die Autobahnen die Alpen eroberten, profitierten die Berggebiete selber vom alpenquerenden Verkehr. Der Transport per Maultier und später mit Frachtwagen sowie Kutschen brachte den Menschen an den Urner, Tessiner und Bündner Passrouten jahrzehntelang Arbeit und Einkommen. Erst ab 1882, als der Eisenbahntunnel zwischen Göschen und Airolo eröffnet wurde und den Verkehr beschleunigte, verlagerte sich das Transportgeschäft in die Zentren des Mittellandes.
Der damalige Bündner Bundesrat Simon Bavier, der als Bundespräsident 1882 den ersten Eisenbahntunnel durch den Gotthard eröffnen musste und auf der festlichen Fahrt durch Amsteg schwarzen Fahnen begegnete, schrieb später in seinen Erinnerungen: «Es hat mich diese Urner Misere immer mehr in der Überzeugung bestärkt, dass bei internationalen Alpenbahnen die in den Alpen liegenden Strecken verlieren und die weiter entfernt liegenden Zentren gewinnen.»
Der Bündner Historiker Jürg Simonett, der «die Verkehrserneuerung und Verkehrsverlagerung in Graubünden»* erforschte und dabei obiges Bavier-Zitat ausgrub, analysiert: «Je schneller der Verkehr zwischen den Zentren geht, desto weniger hat die Peripherie davon.» Die Neat wird diesen Verkehr weiter beschleunigen. Die Alpen bleiben auf der Strecke.

* Jürg Simonett: Verkehrserneuerung und Verkehrsverlagerung in Graubünden, Terra Grischuna Verlag 1986.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

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Auto oder Bahn: Wer zahlt Defizite?

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Eine Meinung zu

  • am 1.06.2016 um 11:27 Uhr
    Permalink

    Hanspeter Guggenbühl fasst sehr gut wesentliche Kritikpunkte an der Neat zusammen, die 1991 zum Referendum gegen den sog. «Alptransit-Beschluss» geführt haben: Grenzenlose Ausweitung der europaweiten Transportkapazitäten auf Kosten der durchfahrenen Gebiete und des Regionalverkehrs.

    Im Auftrag der Schweizer Grünen habe ich damals zusammen mit einem tollen Team und vielen HelferInnen das Referendum organisiert, unterstützt von fast allen grossen Umweltorganisationen, zuvorderst Greenpeace ("Gegen den Transitterror der EG").

    In der heutigen Neat-Jubelstimmung blenden zwar manche Organisationen und heutige Würdeträger ihre damals kritische Haltung aus, aber das ändert nichts an den historischen Tatsachen.

    Doch noch kurz in Erinnerung gerufen sei der bis heute nicht geklärte Unterschriften-Krimi von 1992.

    Mit aller letzten Anstrengungen, besonders auch unserer Freunde in der Urschweiz, gelang es uns, am 13, Januar 1992, amletzten Tag der Frist, 50’532 beglaubigte Unterschriften abzugeben.

    "Referendum gescheitert», verkündete die Bundeskanzlei am 7. Februar 1992, mit einer genauen Zusammenstellung. Das Urner Referendumskomitee bemerkte sofort: Es fehlen 350 Unterschriften!

    Darauf wurden durch zwei Zählgruppen im Bundeshaus nochmals alle Unterschriften nachgezählt. Angebliches Schlussergebnis: 50’051 gültige Unterschriften.

    War es «grenzenlose Schlamperei» (Oskar Reck), ein «Additionsfehler» (Bundeskanzlei) oder … ?

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