Die grosse Show des kleinen Diktators
Das nach aussen abgeschottete Nordkorea ist ein Buch mit sieben Siegeln. Aber hochexplosiv. Der Ton der Propaganda aus dem nördlichen Teil der koreanischen Halbinsel ist zum Teil exorbitant rüde, und seit 2006 zischen immer mal wieder Test-Raketen in den Himmel. Derweil tanzt der 33-jährige Kim Jong-un Diplomaten und Politikern aus allen Ländern auf der Nase herum. Dabei handelt es sich nicht um irgendwelche Kleinstaaten, sondern um Schwergewichte wie China oder Japan, die USA, Russland und natürlich Südkorea.
Eine «verantwortungsvolle Atommacht»
Anfang Mai liess der junge Machthaber den ersten Parteikongress der nordkoreanischen Arbeiterpartei seit 36 Jahren abhalten. Zum Erstaunen der internationalen Öffentlichkeit schlug Kim Jong-un gemässigtere Töne an. Sein Land werde Atomwaffen nur dann einsetzen, wenn «aggressive feindliche Kräfte mit Atomwaffen» die Souveränität Nordkoreas bedrohten, sagte er in seinem exakt 14’119 Worte umfassenden und drei Stunden dauernden Arbeitsbericht vor dem Kongress. Kim ging sogar noch einen Schritt weiter und versprach, der Atomwaffenstaat Nordkorea werde die Verpflichtung zur Nicht-Verbreitung von Atomwaffen erfüllen. Sogar von einer atomwaffenfreien Welt schwadronierte der nordkoreanische Chef.
Dennoch hält Kim am nordkoreanischen Atomprogramm fest: «Mit dem aufrührenden Explosionsgeräusch einer Wasserstoffbombe haben wir das Wunder möglich gemacht, die Würde unseres Landes zu verteidigen», verkündete er. Viel ist über das Atomprogramm im abgeschotteten Land nicht bekannt. Nordkorea hat in den vergangenen Monaten mehrfach Raketen und andere Waffensysteme getestet. Ob beim vierten Test im Januar tatsächlich eine Wasserstoffbombe gezündet wurde, ist unklar. Amerikanische und südkoreanische Geheimdienstkreise gehen aber mittlerweile davon aus, dass Nordkorea technisch in der Lage ist, nukleare Kurz- oder Mittelstreckenraketen zu bauen und damit weite Teile Japans und Südkoreas treffen könnte. «Wahrscheinlich», folgert der chinesische Professor und Koreaspezialist Cui Zhiying von der Tongji-Universität, «wird Nordkorea in der nuklearen Frage im Umgang mit andern Ländern nun härter und dezidierter und nicht flexibler auftreten». Am Parteikongress hat Kim das nordkoreanische Atom- und Raketenprogramm quasi als Botschaft nach aussen verteidigt und propagandistisch aufgepeppt.
Zweigleisiger Fortschritt
Die Botschaft nach innen betraf die Wirtschaft. Marschall Kim Jong-un trat ungewohnt zivil auf, im massgeschneiderten westlichen Anzug aus feinstem Tuch mit silbergrauer Krawatte. Zivil war auch die Botschaft. Kim rückte von der «Militär-zuerst»-Doktrin seines Vaters Kim Jong-il ab und verkündete offiziell zum ersten Mal die Byung-Jin-Politik. Das bedeutet so viel wie «zweigleisiger Fortschritt» – also atomare Aufrüstung und wirtschaftliche Entwicklung parallel nebeneinander. Es sei schwer vorstellbar, so Cui Zhiying im Pekinger Parteiblatt «Global Times», dass diese zweigleisige Politik wirklich funktionieren könne. Cui betrachtet die zweigleisige Politik «eher als eine Tarnung für Pjöngjangs festen Willen, Nuklearwaffen zu bauen». Jedenfalls werde die Byung-Jin-Politik Nordkorea nicht zur wirtschaftlichen Prosperität führen. Denn das Atomprogramm ist enorm teuer, und Nordkoreas Volkswirtschaft leidet unter den auch von China unterstützten Wirtschafts-Sanktionen der UNO wegen der Raketen- und Nukleartests.
Die neureiche Klasse
Wie schon seine Vorväter verspricht auch Kim Jong-un seinem darbenden Volk das blaue Wirtschaftswunder vom Himmel. Für die 25 Millionen Einwohner jedoch hiess das immer Knappheit – und daran wird sich für die zwei Millionen Nordkoreaner und Nordkoreanerinnen vorläufig wohl nichts ändern. Das Land ist zwar weitgehend von der Aussenwelt abgeschnitten, doch Kim und die schmale Elite können dem Volk kein X für ein U vormachen. Dass Südkorea mausarm und Nordkorea das Arbeiterparadies auf Erden sei, wie die nordkoreanische Propaganda jahrelang behauptete, das glaubt heute keiner mehr. Wohl nicht einmal einer der 3400 Delegierten am Kongress der herrschenden Arbeiterpartei.
Die Grenzen zu China sind porös. Geschmuggelt wird alles bis hin zu CDs und DVDs aus Südkorea. In den letzten zehn Jahren sind in Nordkorea wenige legale und sehr viele illegale Märkte entstanden. Der Staat lässt sie meist gewähren, denn das staatliche Verteilsystem funktioniert kaum noch. Korruption auf allen Ebenen ist die Folge.
Während der Grossteil des Volkes darbt, lässt es sich eine schmale Elite im Land gut gehen. Mit den staatlich geduldeten illegalen Märkten ist eine neureiche Klasse entstanden. Wer Geld hat, kann in Nordkorea (fast) alles kaufen. Zugang zum Internet und zu auslandtauglichen Handys freilich hat nur der Kim-Clan und einige Hunderttausend der obersten kommunistischen Nomenklatura.
Verlässliche Zahlen zu Nordkoreas Wirtschaft gibt es keine. Der private, meist illegale Sektor generiert aber nach Schätzungen des russischen Nordkorea-Experten Andrei Lankow heute zwischen 30 und 50 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung.
Wie der Vater, so der Sohn
Kim Junior tut summa summarum dasselbe, was bereits sein Vater, der «geliebte Führer» Kim Jong-il, und sein Grossvater, Staatsgründer Kim Il-sung, immer mit Erfolg getan haben: viel versprechen, Vorteile ergattern – zum Beispiel Nahrungsmittelhilfe für das darbende Volk – und kaum ein Versprechen einhalten. Am Parteitag präsentierte sich Marschall Kim Jong-un dem eigenen Volk als der grosse, weise Führer. Er liess sich bejubeln, und er darf sich nun mit einem neuen Titel schmücken: Jong-un wurde zum «Vorsitzenden der Arbeiterpartei» ernannt. Der Titel «Generalsekretär» bleibt ihm verwehrt, denn sein 2011 verstorbener Vater trägt den Titel «Generalsekretär in alle Ewigkeit».
Offiziell liess sich Kim nicht zum König krönen, denn das wäre in krasser Weise feudal-bourgeoise. Doch Kim Jong-un ist jetzt formal der uneingeschränkte Führer Nordkoreas. Ob er die Zügel tatsächlich in der Hand hält, weiss im Ausland niemand. Jedenfalls hat er seit Machtantritt in der Armee, der Partei und Regierung hart aufgeräumt. Selbst die Nummer Zwei Nordkoreas, seinen Onkel, liess der junge Kim propagandawirksam verhaften, vor Gericht demütigen und schliesslich hinrichten. Jetzt, so heisst es unter Nordkorea-Spezialisten, sind auch das Zentralkomitee, das Politbüro und dessen Leitender Ausschuss der rund drei Millionen Mitglieder zählenden Partei mit neuen, wohl jüngeren Köpfen vervollständigt worden. Kims Schwester, knapp dreissig Jahre alt, soll künftig für die Propaganda verantwortlich sein. Wie ihr Bruder ging auch sie mehrere Jahre in Bern zur Schule.
Unklar blieb nach Ende des VII. Kongresses, welche Geschenke die Delegierten nach Hause tragen durften. Viele hofften auf einen Farbfernseher, wie einst die Abgeordneten des Parteitags von 1980. Jetzt aber natürlich mit Flachbildschirm.
In Nordkorea wird sich wenig ändern
Wie wird Kim Jong-un nun politisch agieren? Trotz der gemässigten zivilen Töne bleibt vorerst alles wie zuvor. «Es ist keine klare Änderung der Politik zu erkennen. Leider», sagt Lu Chao von der Akademie für Sozialwissenschaften im chinesischen Liaoning. Doch Kim Jong-un ist wie schon seine Vorväter kein Verrückter, kein Psychopath, wie viele Kommentatoren im Ausland locker schreiben. Er ist vielmehr ein genau kalkulierender, der Realität verpflichteter Diktator.
Die Atomwaffe garantiert Nordkorea, ihm, seinem Clan und der schmalen nordkoreanischen Elite das Überleben. Zähneknirschend müssen die Realpolitiker Xi Jinping in China, Präsident Obama in den USA, Präsident Putin in Russland sowie die Präsidentin in Südkorea und der Premier in Japan diese Realität anerkennen. Kim Jong-un will vor allem Gespräche mit den USA. An die von China geforderte Wiederaufnahme der seit 2009 unterbrochenen Pekinger Sechser-Gespräche denkt er nicht einmal im Traum. Leider ist der Status Quo für alle Beteiligten im Augenblick wohl die billigste Lösung.
Was tun? – hätte Lenin gefragt. Nun, entweder lässt Kim es nochmals atomar knallen, um seine am Parteikongress vorgetragenen Forderungen zu untermauern. Oder er begibt sich als «lieber Führer» auf seine erste Auslandreise zum grossen, reformorientierten Nachbarn, um seinem Volk nach erfolgreichem chinesischem Muster mehr Nahrung und Wohlstand zu ermöglichen. China-Besuch und Atomknall, das geht wohl nicht. Trotz der neuen, zweigleisigen Byung-Jin-Politik.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.
Angeblich soll Kim Jong-un im Kanton Bern die Mittelstufe der Primarschule besucht haben. Unglaublich! Vielleicht sollten wir an unseren Schulen mehr Demokratieverständnis vermitteln.