Brüsseler Hokuspokus: Der liebe Gott hat gepfuscht
Es ist viele Jahre her. Niemandem wäre es, damals, in den Sinn gekommen, in einem Hörsaal so ein Ding, das wir heutzutage Handy nennen, im Minutentakt zu streicheln, Frühenglisch zu fordern oder Minarette zu verbieten. Keine & keiner hätte bei Terrorismus an Islam gedacht. Und der Linguistikdozent befasste sich auch nicht mit der Bedeutung von Sprachfiguren wie «Überalterung», «Flüchtlingsflut» oder «Gutmensch». Er hatte es mit den Affen. Was den Primaten das Lausen, erklärte er den staunenden Studierenden – die damals noch alle Studenten waren –, sei den Menschen das Reden.
«Affen lausen, Menschen sprechen.» Schreibt auch Margit Mertens am 28. März 2011 in der Frankfurter Rundschau. Der Inhalt des Gesprochenen, behauptete der Mann, der inzwischen ein emeritierter Professor sein dürfte – und einige von uns waren einigermassen empört –, sei grösstenteils bedeutungslos. Lausen & Reden diene vor allem der Pflege des sozialen Zusammenhalts. «Denn neben der Vermittlung von Information erfüllt Sprache zwischenmenschliche Aufgaben, auch ohne tieferen Sinn» (Frankfurter Rundschau). Reden verbindet & beruhigt. «Um sich vor Angriffen durch Raubtiere zu schützen, leben Menschenaffen in grösseren Gruppen zusammen. Beim Lausen und Kraulen entspannen sich die Mitglieder der Sippe …» (Frankfurter Rundschau). Rede isch wie Luuse. Schreiben auch.
… und irgendwo wartet ein Kind auf seine Eltern …
Nach dem Brüsseler März, zum Beispiel, geht das öffentliche Murmeln & Bramarbasieren (wieder) los. «Reflexartig reagiert unsere Politik auf Anschläge wie die gestrigen in Brüssel – und sie reagiert reflexartig falsch.» So Heiner Flassbeck am 23. März 2016 auf Infosperber. Zum Beispiel. Da wissen die einen, was die anderen falsch gemacht, und die anderen wissen, was zu tun, damit die einen es künftig nicht mehr besser wissen werden. Da wird getalkt & geschrieben, gelesen & gelauscht. Wenn wir nur alle Informationen hätten, glauben wir, wüssten wir, was zu tun ist. Wenn wir den Satz fänden, der die Welt ändert, wären wir (künftig) sicher.
Warum dauern Schweigeminuten nur sechzig Sekunden? Weil uns die Stille, nicht nur an Beerdigungen, an den Tod erinnert. Warum pfeifen wir im dunklen Wald? Weil uns die einsame Ruhe Angst macht. «Wer etwas Schreckliches erlebt hat, erhofft sich durch Teilen Erleichterung.» Schreibt Constantin Seibt am 26. März im Tages-Anzeiger. Mit Blick auf die «Lawinen» in den «Weltmedien» und «im Netz», die, so Daniel Binswanger am 2. April im Magazin, «schon fast unheimlichen Ritualcharakter haben». Schreiben, talken, lausen gegen die Todesangst, die uns in der Verlassenheit beschleicht. Obwohl wir allein am sichersten wären.
Öffentliches Reden & Schreiben sind das Abrakadabra der Moderne. Magische Gebärden & Bannsprüche sollen – wie das Sechseläuten den Zürcher Winter – Ängste & Gefahren vertreiben. Zum Beispiel mit der Beschwörungsformel «Wir sind im Krieg». Im Krieg sind Tote «normal». Kein Grund zu Verzweiflung & Panik. Waren die BesucherInnen des Pariser Bataclan-Theaters beziehungsweise die in der Abflughalle des Brüsseler Flughafens Zaventem Wartenden im Krieg?
… ein Vater hat Angst um seine Tochter …
Die Sehn-Sucht, sofort Worte zu finden & zu handeln, das ist, auch, die Unfähigkeit zur Trauer. Was wir benennen können, scheint seinen Schrecken zu verlieren. Noch die sinnloseste Tat vertreibt, Simsalabim, für einen Moment die Ohnmacht. Die Toten sind noch nicht begraben, die Verletzten noch nicht über den Berg – da fordert CVP-Ständerat Isidor Baumann schon: «Per Notrecht soll der Nachrichtendienst mehr Überwachungsmöglichkeiten erhalten, wenn nötig noch vor der Abstimmung über das Nachrichtendienstgesetz» (NZZ am Sonntag vom 27. März).
Im Sonntalk auf Telezüri will Markus Gilli am 27. März vom Berner Stadtpräsidenten & SP-Nationalrat Alexander Tschäppät wissen: «Wo stehen wir wirklich?» Als der gelassen Kardinal Koch zitiert – «Fürchtet euch nicht» – und fortfährt: «Ich glaube, wir müssen damit leben, dass wir heute in einer Zeit sind, in der halt solche Anschläge …», da unterbricht der Journalist den Politiker: «Damit möchte ich mich überhaupt nie anfreunden, mit so einer Aussage!» Unterschiedlichste Zaubersprüche wirbeln durch das Studio. Handelnstattreden. KeinGrundzurPanik.
Tschäppät nennt den Ruf nach Notrecht «fatal» und verteidigt das Referendum, auch gegen das Nachrichtendienstgesetz, selbst in diesen aufgeregten Zeiten, als demokratisches Recht. Journalist Gilli hält es kaum mehr auf seinem Moderatorensitz: «Aber, Entschuldigung, wenn die Hütte brennt, können wir nicht mehr über das Fliegengitter diskutieren!» Wobei es sein Geheimnis bleibt, welche Fliegen da in welchem Gitter hängen bleiben sollen. Es hilft nichts, dass der Politiker besonnen darauf verweist, die Hütte brenne in der Schweiz nicht, der Chefredaktor von Telezüri u.a. schleudert ihm seinen Bannfluch entgegen: «Alexander, wenn irgendetwas in diesem Land passiert, und Gott soll das verhüten, übernehmt ihr dann die Verantwortung?» Das heisst, schuld an einem denkbaren Terroranschlag auf Schweizer Boden wären SozialdemokratInnen, Jusos und Grüne, die das neue Nachrichtendienstgesetz auf die Abstimmungsagenda gesetzt haben. Taten statt demokratisches Palaver. Heisst das Gillische Credo nach Brüssel.
NZZ-Journalist Niklaus Nuspliger klagt am 29. März ungeduldig: «Die Bewältigung der Anschläge stockt … Auch eine Woche nach den Terroranschlägen von Brüssel gibt es mehr offene Fragen als Antworten …» Den coolen Zauberspruch von Daniel Binswanger im Magazin vom 2. April wird er nicht gern gelesen haben: «Der Terrorismus wird auf Jahre hinaus eine zentrale Herausforderung für Europa bleiben.» Herausforderung – eine beliebte Formel in Stellenbewerbungen.
… eine Frau ruft ihren Mann alle fünf Minuten an …
«Wer unter dem Eindruck eines schockierenden Ereignisses überstürzte Entscheide fällt, entscheidet selten richtig.» Notiert Alex Baur am 30. März in der Weltwoche, die nicht wirklich für intellektuelles Zweifeln & Zögern bekannt ist. Aber diesmal dient das skeptische DenkenvorHandeln dem eigenen Blickwinkel: «Die 2011 nach der Kernschmelze von Fukushima in einer kollektiven Hysterie proklamierte Energiewende …, ist ein abschreckendes Beispiel von vielen.» Dann greift er, wie vor ihm Constantin Seibt, zu statistischer Magie: «Terroranschläge sind schlimme Verbrechen, doch die Gefahr, wegen eines Bienen- oder Wespenstichs das Leben zu verlieren, ist in Europa nach wie vor grösser.» Beruhigt er. Grösser auch als einem atomaren GAU zum Opfer zu fallen. Das schreibt er, erstaunlicherweise, nicht.
Constantin Seibt rechnet im Tages-Anzeiger vom 26. März vor: «Seit dem World-Trade-Center-Attentat 2001 ermordeten islamistische Attentäter in Westeuropa und den USA etwa 450 Menschen. So grausam jeder dieser Morde ist, es gibt Gefährlicheres. Allein in Deutschland sterben pro Jahr über 500 Leute an einer Fischgräte.» [In der Zwischenzeit in der Online-Ausgabe abgeändert, neu: «Allein in Deutschland ersticken pro Jahr über 1000 Leute an verschluckten Fremdkörpern.»] Und ungefähr 300 Menschen an verschluckten Kugelschreiberteilen, ergänzt Jan Fleischhauer am 29. März auf Spiegel online. Zum Glück züchten TerroristInnen keine Bienen & Wespen, werfen nicht mit Kugelschreibern, Fischgräten & Krebsen um sich.
Kurt W. Zimmermann nennt solche Rechnungen – übrigens in derselben Ausgabe der Weltwoche wie Alex Baurs NurkeinePanik – «gedruckten blanken Unsinn». Seinen JournalistenkollegInnen wirft er vor: «Nicht existierende Gefahren werden zu existenziellen Bedrohungen hochgedrückt. Echte Gefahren hingegen werden zu harmlosen Banalitäten heruntergespielt … Terror hat … für das Bedrohungsszenario der permanenten Panikmache zu wenig journalistischen Sex-Appeal.» Und beweist damit, dass nicht alle dieselben Zeitungen lesen. Don Alphonso liest zwar Seibt, widerspricht aber dessen Zahlenmagie: «Es gibt gar keine Statistik über Todesfälle durch Fischgräten» (Frankfurter Allgemeine, 29. März).
Es ist mit Statistiken wie mit Mythen & anderen magischen Denkfiguren – wenn sie der eigenen Beruhigung dienen, werden sie wider besseres Wissen und gegen «harte» Fakten weiterverbreitet. Bei mir zumindest ist die Wahrscheinlichkeit, irgendwann mit einem Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt zu werden, deutlich grösser als die «Chance», wegen einer Gräte zu ersticken – ich esse keinen Fisch. Allerdings, sage ich zu meiner Freundin, die Gefahr, in den nächsten zwanzig Jahren an irgendeinem Krebs zu sterben, ist x-fach grösser als ausgerechnet in jenem Theater zu sitzen oder vor jenem Check-in-Schalter zu stehen, den sich irgendwelche TerroristInnen für ihre nächste «Aktion» ausgesucht haben werden. X = über 1000, schätze ich. Wirklich beruhigend ist das nicht.
… ein Mann weint um seine Frau …
Äusserst beliebt ist der Voodoozauber des Grenzenzu & Ausländerraus. Dann sind wir, einszweidrei, wieder sicher – weil unter uns. Nach dem Attentat von Paris im November 2015 und dem Anschlag in San Bernardino, Kalifornien, kurz danach verlangt Präsidentschaftskandidat Donald Trump «die totale und komplette Schliessung der US-Grenze für Muslime, bis die Vertreter unseres Landes herausfinden können, was zum Teufel hier vor sich geht …» (SRF-DOK «200 Tage mit Donald Trump», 30.3.2016). Den BelgierInnen hätte das Trumpsche Abrakadabra nicht wirklich geholfen – «ihre» AttentäterInnen lebten schon lange unter ihnen.
Für den Schweizer SVP-Nationalrat Roger Köppel ist klar: «Paris und jetzt Brüssel sind akute Symptome einer falschen, kranken Zuwanderungspolitik» (Weltwoche, 31.3.2016). Die Sonntagszeitung beklagt am 27. März das «Totalversagen der belgischen Polizei». Wie nach jedem «Ereignis» – ob Terroranschlag, Atomkraftwerkunfall oder ganz gewöhnlicher Todesfall – wird umgehend die Fehlerkeule geschwungen. Die AKW-Technologie von Tschernobyl war nicht auf dem neusten Stand, die Anlage von Fukushima hatte Konstruktionsmängel, die Behörden haben «einmal mehr Fehlfunktion an Fehlfunktion gereiht», fasst die NZZ am 1. April den Verweis von Le Soir auf die belgische «Tradition» zusammen, «die über die Dutroux-Affäre bis zur Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadium [Stadion] 1985 zurückreiche». Die Hausärztin hat die ersten Symptome nicht ernst genommen.
…«Warum gerade sie?» Fragen eine Frau & ein Mann …
Was sich hinter der Magie des Fehlers (der anderen) versteckt, macht Tom Wolfe in seinem Roman «Die Helden» sichtbar. Da treffen sich die Mitglieder einer Testpilotengruppe nach jedem Absturz eines Kollegen zum Leichenessen und analysieren, was er falsch gemacht, bis sie sich gegenseitig überzeugt haben, Tod oder Leben liege in ihrer eigenen Hand. Am anderen Tag steigen sie mit todsicherem Gefühl in ihre Jets. Überzeugt, dass ihnen so ein Fehler nicht passieren wird. Derjenige, der beim nächsten Leichenessen widersprechen würde, das ist der, den sie vor dem ersten Gang beerdigt haben.
Jetzt müsse man, beschwört Alexander Tschäppät – als er im bereits zitierten Sonntalk nochmals zu Wort kommt – bessere Zeiten, jetzt müsse man «schauen, dass man die Gefahr richtig einschätzt, dass man richtig reagiert, dass man die richtigen Massnahmen ergreift». So wie das in allen vorausgehenden Fällen bereits geschehen ist. Die magische Vorstellung, wenn wir alles richtig machten, könne uns nichts (mehr) passieren, würden wir in letzter Konsequenz nie sterben, wird durch die Realität als fauler Zauber entlarvt. Wir machen laufend «Fehler».
Wirklich helfen könnte uns Zerbrechlichen höchstens, wenn wir unsere Haut, wie Siegfried, mit Drachenblut einstrichen, aber sorgfältiger als der Held der Nibelungensage. Oder wenn der liebe Gott – der, wenn es ihn gäbe, auch ein Allah, Brahma oder Jehova sein kann – keine Fehler machen würde. Aber alle haben sie, die Göttlichen, gepfuscht. Deshalb werden Menschen wieder töten & sterben. Weil sie zu MörderInnen werden. Weil wir so unvorstellbar verletzlich sind. Eine Fischgräte, ein Kugelschreiber, ein Wespenstich, eine selbstgebastelte Bombe oder ein irgendwo geklauter Revolver genügt und – Exitus. Deshalb müssen wir Angst haben. Sogar vor uns selbst. Dagegen hilft kein magisches Lausen. Kein Hokuspokus. Und nicht einmal das Abrakadabra des Schweigens.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine