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Archivbild aus Neunzigerjahren. Heute steht da nur noch die reine Strassenbezeichnung. © Urs Oskar Keller

Der selbsternannte Held von Kreuzlingen

Urs Oskar Keller /  Raggenbass-Strasse nicht gerechtfertigt. Sagt Arnulf Moser. Wegen Flüchtlingspolitik des Statthalters von Kreuzlingen 1938-1965.

Red. «Täter, Helfer, Trittbrettfahrer» – so heisst das von Wolfgang Proske herausgegebene und eben erst im Kugelberg-Verlag erschienene Buch mit 23 Texten zur Geschichte der Bodenseeregion im Dritten Reich. Aus Schweizer Sicht besonders interessant sind die Beiträge über den Bergsteiger und Nationalsozialisten Walther Flaig sowie über den ehemaligen Kreuzlinger Statthalter Otto Raggenbass (1905-1965).
An der Veranstaltung «Walter Flaig: Ein Nazi im St. Galler Alpenclub» (Mittwoch, 9. März 2016, 19.30h, Buchhandlung Comedia, St. Gallen) hält Jürg Frischknecht, der Autor des entsprechenden Buchbeitrags, ein Referat, anschliessend Gespräch mit Stefan Keller, Historiker und Journalist.
Das folgende Interview mit dem Konstanzer Historiker Arnulf Moser, dem Verfasser des Beitrags «Otto Raggenbass: Geschichte einer Aufarbeitung ohne Folgen», führte Urs Oskar Keller.

Urs Oskar Keller: Arnulf Moser, Sie kennen die Akten zum umstrittenen Statthalter von Kreuzlingen von Otto Raggenbass wie kaum ein anderer – ist es, nach Ihrem heutigen Wissensstand, gerechtfertigt, dass die 1968 erfolgte Umbenennung der unteren Schwedenschanze in Otto-Raggenbass-Strasse (vom deutschen Hauptzollamt Konstanz-Kreuzlingen bis hinab zur Wiesenstrasse) aufrechterhalten wird?

Arnulf Moser: Eine Raggenbass-Strasse ist nicht gerechtfertigt. Seit der Ehrung mit der Strasse im Jahre 1968 hat sich die Bewertung seiner Rolle bei der Besetzung der Stadt Konstanz 1945 geändert, nämlich sehr reduziert. Seine Rolle bei der Flüchtlingspolitik des Kantons Thurgau war damals gänzlich unbekannt.

«Eine Raggenbass-Strasse ist nicht gerechtfertigt»

Mit Ihrer Expertise zu den Konstanzer Strassennamen haben Sie dem Konstanzer Gemeinderat 2010 unter anderem nahe gelegt, die Umbenennung der unteren Schwedenschanze in Otto-Raggenbass-Strasse zurückzunehmen. Nur in einem einzigen Fall, dem Wilhelm-von-Scholz-Weg, wurde eine vorgeschlagene Änderung (der Scholz-Weg heisst jetzt «Zur Therme») veranlasst. Warum blieben Ihre Arbeiten zur «Causa Raggenbass» bislang ohne Folgen?

Der Ausschuss für Strassenbenennungen, der meinen Vortrag von 2010 in seinen Unterlagen hat, hat dem Gemeinderat keinen Vorschlag zur Umbenennung unterbreitet.

Falls eine Umbenennung der Otto-Raggenbass-Strasse vorgenommen wird, welche Persönlichkeit hätte aus Ihrer Sicht einen solchen Strassennamen heute verdient? Georges Ferber beispielsweise? Der französische Offizier war massgeblich am Wiederaufbau des kulturellen Lebens in Konstanz nach dem Zweiten Weltkrieg und auch an der an der Gründung der Deutsch-Französischen Vereinigung DFV im Jahre 1950 beteiligt.

Die Raggenbass-Strasse sollte nicht an Georges Ferber gehen. Ferber ist kein «Wanderpokal», den man weiterreichen kann, bis irgendwann die Bewohner einer Strasse ihn akzeptieren. Er wird eine Strasse in einem Neubaugebiet bekommen.
Ich bin dafür, dass der Konstanzer Gemeinderat den Beschluss von 1968 aufhebt. Die Strasse heisst dann wieder Schwedenschanze. Die Anwohner können da eigentlich nicht dagegen sein. Diese Benennung hat einen konkreten Bezug zur Konstanzer Stadtgeschichte im Dreissigjährigen Krieg. So wie die Spanierstrasse einen konkreten Bezug hat zur Konstanzer Stadtgeschichte in der Reformationszeit.

Konnten Sie auch Dokumente in Frankreich zum Fall Otto Raggenbass einsehen oder sind diese noch gesperrt?

Das Archiv der französischen Besatzungszone, früher in Colmar, jetzt in Paris, hat seinerzeit mitgeteilt, dass es keine Unterlagen zu Raggenbass hat. Das Archiv des französischen Aussenministeriums hat mir 1996 mitgeteilt, dass ich gerne kommen könnte, hat aber nicht spezifiziert, was dort vorhanden ist. Ich bin nicht hingefahren.


Arnulf Moser, Historiker und Autor von «Otto Raggenbass: Geschichte einer Aufarbeitung ohne Folgen» (Bild: Urs Oskar Keller)

Solange die Archive in Frankreich noch nicht frei sind, lässt keine definitive Aussage zum Fall Raggenbass machen. «Herr Moser hat ja nur einen kleinen Aspekt herausgenommen. Vieles ist ungenau. Er ist sicher ein Kenner der Sache, das habe ich bei einem Vortrag im Rosengartenmuseum von ihm auch öffentlich gesagt», erklärt Otto Raggenbass› Sohn, der Pfarrer und Jurist Niklas Raggenbass. Was sagen Sie dazu?

Natürlich ist meine Position einseitig. Sie versucht nachzuweisen, warum Raggenbass für eine Strasse in Konstanz nicht geeignet ist. Welche Verdienste der Bezirksstatthalter für den Kanton oder den Bezirk erworben hat, können andere besser beurteilen. Meines Wissens gab es nie einen Vorschlag in Kreuzlingen für eine Raggenbass-Strasse. Dafür war er viel zu umstritten. In seinem Nachlass in Frauenfeld liegen Flugblätter aus den verschiedenen Wahlkämpfen. Im Bundesarchiv Bern gibt es eine interessante Akte der Bundesanwaltschaft zu Raggenbass.
Aus den Flugblättern – zum Beispiel zweijähriges Heiratsverbot – und dem Dossier der Bundesanwaltschaft – beispielsweise Verfehlungen beim Militär – ergeben sich auch charakterliche Probleme, die einer solchen Ehrung entgegenstehen. Das steht alles in Reto Wissmanns Beitrag «Otto Raggenbass aus versch. Perspektiven» im Buch «Kreuzlingen» (herausgegeben von M. Bürgi, 2001).

«…nie ein Vorschlag in Kreuzlingen für eine Raggenbass-Strasse»

Obwohl der Grenzzaun für Zivilisten noch geschlossen war, luden Kreuzlinger Familien auf Initiative von Frieda Sigrist (1888-1979) im Winter 1946/47 200 Konstanzer Kinder zweimal pro Woche zu einem Mittagessen ein. War Raggenbass auch an der Schulspeisung von Kindern aus Konstanz beteiligt?

Es gibt in Konstanz seit einiger Zeit einen Weg für Frau Sigrist als Dank für die Kinderspeisungen beim Humboldt-Gymnasium, von der Unteren Laube zur Schottenstrasse. Ich denke, mit Raggenbass hat das Thema Kinderspeisung nichts zu tun.

Im April 1945 engagierte sich Statthalter Raggenbass, nach eigenen Aussagen, als (geheimer) Vermittler zwischen den französischen und deutschen Truppen im Schweizer Hotel Trompeterschlössle an der Konstanzerstrasse in Tägerwilen TG und erreichte eine friedliche Übergabe der Stadt Konstanz. Stimmt das nach heutigem Wissensstand und Ihren Recherchen?

Ich verweise auf das Buch «Geschichte der Stadt Konstanz, Band 5/1990» von Lothar Burchardt, emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Konstanz. Otto Raggenbass wird dort in Zusammenhang mit der kampflosen Übergabe der Stadt gar nicht mehr erwähnt. Das liegt auch daran, dass diese Geheimgespräche im Trompeterschlössle für die kampflose Übergabe der Stadt heute nicht als wesentlich angesehen werden.

«Durch Bodensee geschwommenen Halbjuden ausgeliefert»

Seit 1996 die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, auch Bergier-Kommission genannt, ihre Arbeit aufnahm, stand Otto Raggenbass im Fokus der Öffentlichkeit, weil er 1944, der restriktiven Schweizer Flüchtlingspolitik folgend, den von der Gestapo verfolgten Berliner Halbjuden Auerbach, der durch den Bodensee von der Insel Reichenau nach Ermatingen geschwommen war, an das Deutsche Reich ausgeliefert hatte. Bereits 1938 hatte er als neuer Bezirksstatthalter verfügt, dass jüdische Schulkinder aus Konstanz künftig nicht mehr in Kreuzlinger Schulen ausweichen durften. Darauf weisen Sie dezidiert hin. Was ist dazu heute zu sagen?

Das Grenzwachtkommando des II. schweizerischen Zollkreises in Schaffhausen hatte Ende Juli 1944 festgelegt, dass Flüchtlinge, die durch Rhein und Bodensee schwimmend oder mit dem Boot über die Grenze kämen, über die «trockene» Grenze bei Kreuzlingen auszuschaffen seien. Also war das Bezirksamt Kreuzlingen auf jeden Fall mit Flüchtlingen befasst.

Ende 1945 verweigerte Raggenbass kraft seines Amtes einigen Juden aus Konstanz die Einreise zu einer Gedenkfeier in Kreuzlingen für die Toten des Konzentrationslager Bergen-Belsen. Fanden Sie dazu Beweise?

Die Episode mit der Einreisesperre für Juden nach Kriegsende steht im Kapitel über Raggenbass im Kreuzlingen-Buch von Reto Wissmann et al. Quelle ist ein Protokoll der Israelitischen Gemeinde Kreuzlingen vom 12. Januar 1946.

Otto Raggenbass wurden «gute Beziehungen» zur Gestapo nachgesagt. Sind diese Vermutungen zutreffend, bewiesen und aktenkundig?

Raggenbass hat sicher zu allen deutschen Dienststellen zwischen 1938 und 1945 Kontakte gehabt. Aber von einer Kooperation mit der Gestapo kann man sicher nicht sprechen. Der Polizeidienst der Bundesanwaltschaft warf ihm vor, dass er auf deutschen Dienststellen zu offen über Schweizer Angelegenheiten gesprochen habe und dass der Kreuzlinger Journalist Ferdinand Bolt Informationen über Flüchtlinge veröffentlichen konnte, die aus dem dienstlichen Wissen von Raggenbass stammen mussten. Wegen der monatelangen Grenzsperre von 1945 für Raggenbass kam es im November 1945 zu Kontakten zwischen dem Polizeidienst der Bundesanwaltschaft und der Sécurité Militaire der französischen Besatzungsmacht wegen «Gehilfenschaft bei illegalem Grenzübertritt von deutschen Offizieren in die Schweiz». Dabei stellte der Polizeidienst fest: «grosse Leichtfertigkeit seitens der französischen zuständigen Organe, indem Denunziationen nicht abgeklärt werden, sondern lediglich Anordnungen getroffen werden, ohne dem Beschuldigten das rechtliche Gehör zu schenken.» Und der französische Offizier Monnier schrieb Inspektor Schmid vom Polizeidienst: «Cher Monsieur Schmid, je vous confirme que le résultat de l’enquête concernant Mr. Raggenbass a été négatif. Rien n’a été relevé à l’encontre du préfet de Kreuzlingen, au point de vue de notre sécurité.»


Erstmals erschienen in der aktuellen März-Ausgabe des Ostschweizer Kulturmagazins «Saiten».

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Urs Oskar Keller ist freier Journalist und Fotograf BR am Bodensee (www.urs-ok.ch).

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