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Tim Guldimann: Der SP-Nationalrat und frühere Diplomat analysiert die Schweiz aus Distanz © Nagel & Kimche

«Der Nationalstaat stösst zunehmend an Grenzen»

Urs P. Gasche /  Ob Flüchtlinge, Kriminalität, Steuerhinterziehung, Organhandel, Klimaschutz: Die Probleme sind nicht nationalstaatlich zu lösen.

Das Bewahren einer unbeschränkten Souveränität sei eine «Illusion», sagt Tim Guldimann. Der ehemalige Schweizer Botschafter in Berlin und Vermittler auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Tschetschenien antwortet den fragenden Journalisten Christoph Reichmuth und José Ribeaud undiplomatisch offen.
Die Souveränität sei eine Illusion, weil wir in einer zunehmend verflochtenen Welt nicht mehr selbständig über alles entscheiden könnten: «Die Autonomie gibt es nicht mehr. Im Rahmen unserer bilateralen Beziehungen mit der EU übernehmen wir laufend alle neuen Binnenmarktregeln, fast immer diskussionslos.» Diesen Souveränitätsverlust würden wir mit dem Begriff «autonomer Nachvollzug» beschönigen. «Tatsächlich unterwerfen wir uns einem xenonomen Nachvollzug (griechisch xenos = fremd)», erklärt Guldimann und nennt diese bilaterale Beteiligung als «Mitfahrgelegenheit ohne Einfluss auf die Fahrtrichtung».
Rechtspopulisten wollten EU-Recht nicht «autonom» übernehmen, sondern jedes Mal das Recht bewahren, eine Weiterentwicklung des EU-Rechts abzulehnen. Dazu Tim Guldimann: «Das kann nicht mehr lange funktionieren und trifft auch auf wachsendes Unverständnis bei unseren europäischen Partnern.» Die EU-Länder würden sich auf die Weiterentwicklung des gemeinsamen Rechts «mühsam unter 28 Staaten» einigen. Es sei verständlich, dass die EU der Schweiz immer weniger Ausnahmen zugestehen wolle.
Nicht anders werde es der Schweiz ergehen, wenn sich die EU mit den USA über das Freihandelsabkommen TTIP einigen. Die Schweiz werde dann vor die Alternative gestellt: «Take it or leave it». Die Schweiz konnte nicht mit verhandeln, werde aber keine Ausnahmeklauseln aushandeln können.
«Die Einschränkung der direkten Demokratie wird überschätzt»
Die Schweiz müsse in den nächsten Jahren wählen zwischen

  • der souveränen Isolation
  • einer bilateralen Anbindung mit wachsenden politischen Kosten
  • dem Beitritt.

Für eine grosse Mehrheit sei der EU-Beitritt heute inakzeptabel, weil er unsere direkte Demokratie einschränke. Doch dieses «Opfer» werde überschätzt, argumentiert Guldimann und nimmt die Volksabstimmungen der Jahre 2013 und 2014 auf Bundesebene als jüngste Beispiele. Von den 21 Vorlagen hätten nur zwei dem europäischen Recht widersprochen: die Masseneinwanderungsinitiative und die Ecopop-Initiative.
Weiter prüfte Guldimann die insgesamt 18 kantonalen Vorlagen, die 2013 und 2014 im Kanton Zürich zur Abstimmung kamen: Keine einzige habe das europäische Recht tangiert.
Gegen einen Beitritt zur Euro-Zone
Auch bei einem oder nach einem Beitritt der Schweiz zur EU würde Guldimann den Schweizer Franken behalten und nicht der Euro-Zone beitreten wollen. Es sei ein Vorteil, wenn die Nationalbank den Kurs des Frankens gegenüber dem Euro und dem Dollar «dosiert beeinflussen» könne.
Für Guldimann war der Euro «im Rückblick ein zu kühnes Projekt auf schwachen institutionellen Füssen». Die Zukunft der EU hänge nicht vom Euro ab, meint Guldimann und widerspricht damit der Aussage der deutschen Bundeskanzlerin Angelika Merkel: «Scheitert der Euro, dann scheitert Europa

Wir haben uns hier auf Guldimanns Meinung zur EU und zum Euro beschränkt. Im Buch «Tim Guldimann: Aufbruch Schweiz!» äussert sich der ehemalige Diplomat und heutige SP-Nationalrat ebenso pointiert über die «Willensnation» Schweiz, eine «Mitte-Links-Verständigung für die Zukunft der weltoffenen Schweiz», die Migration und schliesslich über seine Vermittlertätigkeit in Tschetschenien und im Mittleren Osten. Seine Einschätzungen stützen sich auf breite praktische Erfahrungen an Verhandlungsfronten und nicht auf ideologische Vorurteile.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Das neue Buch enthält ausführliche Gespräche mit Tim Guldimann: «Tim Guldimann: Aufbruch Schweiz!», Verlag Nagel & Kimche 2015, CHF 24.90 (eBook CHF 16.20). HIER bestellen.

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7 Meinungen

  • am 21.02.2016 um 11:50 Uhr
    Permalink

    Bei exlibris.ch kostet das E-Book CHF 13.9

  • am 21.02.2016 um 16:33 Uhr
    Permalink

    … und die gebundene Ausgabe statt CHF 24.90 noch CHF 18.30.

  • am 22.02.2016 um 13:54 Uhr
    Permalink

    «Der Nationalstaat stösst zunehmend an Grenzen»
    Wieviel Nationalstaaten gibt es? Die Schweiz ist keiner, auch wenn man das mit dem Begriff der ‹Willensnation› verbrämt. In der Schweiz gibt es 4 Verfassungsnationen, in GB 3 und in Deutschland auch 3 (Deutsche, Dänen, Sorben).
    Der Begriff allein ist irreführend. Richtig ist, dass Staaten zunehmend überflüssig werden. Nationen bleiben, weil die durch ihre Sprache und ihre Kultur definiert sind. Die Schweiz hat keine Nationalsprache und keine Nationalkultur, deshalb verschwindet die eher, als Staaten wie Deutschland oder Frankreich, welche sich bisher das Nationale erhalten haben. Aber nur bisher, tragfähig ist das Konzept Staat = Nation nicht.

  • am 22.02.2016 um 14:35 Uhr
    Permalink

    «Die Probleme sind nicht nationalstaatlich zu lösen.» Ja, wie denn sonst? Mit transnationalen Gebilden vielleicht? Mit der Union? Mit «vereinigten Staaten"? Oder gar mit der NATO? WER regiert dann diese?
    Wo immer in der Welt ich war, hielt ich sowas wie einen Nationalstaat für das Fassbarste. Er muss ja nicht gerade so Minderheiten ausschliessend sein wie die ‹moderne› Türkei. Und Kastilien könnte ja den Katalanen endlich Steuerhohheit gewähren, so dass der spanische Nationalstaat erhalten bliebe, wenn die Katalanen das denn wollten.
    Den Nationalstaat halte ich für einigermassen demokratiefähig. Aber vereinigte Nationalstaaten können natürlich auch zu Plutokratien werden.
    Die Europäische Union von Vereinigten Staaten ist natürlich Glaubenssache.

  • am 22.02.2016 um 20:12 Uhr
    Permalink

    > …. trifft auf wachsendes Unverständnis bei unseren europäischen Partnern. <

    Länder sind Zweckggemeinschaften auf Zeit, nicht Partner, höchstens Parteien, wie die SP, aufgrund ihrer internationalistischen Kultur, die sich immer nur als Teil einer sozialistischen Welt sah.

    Die SP-Doktrin schreibt den Weg auch vor, kristallklar, und seit mehr als 100 Jahren schon. Auch wenn jetzt Linke wiederum behaupten werden, sie selber würden es ja gar nicht so ‹extrem› sehen, und wie Einer immer schrieb, die SP hätte sich ja bereits vor gut zwei Jahrzehnten von ihrer ehemeligen Weltanschauung gedanklich / inhaltlich verabschiedet, und es stehe nur noch so in ihrer Verfassung,

    Und genau das Gleiche erleben wir doch auch überall sonst, in der Politik, alles dreht und windet sich im Kreis, lamentiert jahrelang rum, ohne auch nur in einem einzigen Fall wirklich Lösungen anstreben zu wollen. Und, wird einmal etwas beschlossen, kommen die Gegner sofort mit sogenannt übergeordnetem Recht daher, also Dingen, über welche die Schweizer Bevölkerung nie abstimmte, unser Land aber, gemäss diesen Linksideologisten, aber trotzdem daran gebunden sei.

    Da muss man dann nur noch SP Bundesrätinnen haben, die sogar öffentlich machen, immer noch auf der Suche nach sich selbst zu sein, um zu erkennen, weshalb man so nicht mehr weiter kommt Mit solchen Leuten wäre man damals freiwillig ins ‹Reich› zurückgekehrt, nicht aus Ueberzeugung, aus reiner Angst, selber auch noch Verantwortung tragen zu müssen.

  • am 22.02.2016 um 21:00 Uhr
    Permalink

    "Die Souveränität sei eine Illusion» Ja oder besser nein, d. h. ich weiss gar nicht, was ich sagen soll. Nur, die Aufgabe der Souveränität resp. zugeben, dass wir die nicht mehr haben ist auch nicht die Lösung. Weil die Entscheidungsmacht übernimmt dann nicht ein übergeordnetes demokratisch gewähltes irgendwas, das dann noch im Sinne der Menschen versucht zu handeln, sondern internationale Grosskonzerne bestimmen knallhart zu ihren Gunsten (siehe TIPP: von Grosskonzernen für Grosskonzerne geschrieben und ihr eigenes Schiedsgericht soll über deren Einhaltung wachen).
    Da müsste man sich die Souveränität wieder zurückholen und dies ist meiner Meinung nach nur im Kleinen, regional möglich und sicher nicht auf europäischer Ebene. Ich plädiere aber nicht für eine Isolation. Wenn aber dies die einzige Möglichkeit ist, sich den Grosskonzernen und einigen wenigen mächtigen Staaten zu unterwerfen oder souverän aber relativ isoliert bleiben, dann ist mir das zweite lieber. Nicht weil ich das Gefühl habe, die Schweiz sei einzigartig und müsse darum erhalten werden sondern weil für mich die Mitbestimmung etwas fundamentales ist.

  • am 23.02.2016 um 01:38 Uhr
    Permalink

    Herr Abächerli, kein vernünftiger Mensch spricht doch von Isolation, zumindest nicht in diesem Land. Es sind die Anderen, die bekannten Namen, die uns immer wieder Isolation androhen, ganz genau so, wie diese Anderen Gleiches mit den Griechen machen, und den Ungaren, den Tschechen, den Polen, den Russen, und allen Anderen, die sich weigern, sich dem Diktat einer ehemaligen OSSI zu unterwerfen, die offenbar jeden Sinn für Realität aus den Augen verlor, und so sogar das eigene Land täglich zunehmend damit in Aufruhr bringt.

    Aber solange es auch in diesem Land Leute gibt, die an diese Frau glauben, und wahrscheinlich sogar für sie beten, solange führt man uns doch wirklich nur noch an der Nase rum, und redet über Schengen, und Dublin, als wäre auch nur Eines dieser Ziele heute noch Realität.

    Um es klar zu stellen, ich liebe Frauen. Aber ich war nicht nur aufmerksam kritischer Sohn, ich bin auch aufmerksamer und kritischer Ehemann, und führe zudem ein Business, wo ausser mir nur Frauen einer Tätigkeit nachgehen. Ich erlaube mir daher, ohne Maske, Schminke und Schmuck zu denken, reden und schreiben.

    Und es geht auch nicht um Macho-Gehabe, es geht um den schlichten Erhalt einer Gesellschaft, Kultur, und Nation. Sich aber in solch elementaren Krisenfällen vorbehaltlos anpassungsfähige Frauen in Exekutivpositionen zu leisten, und sich auf Diese verlassen zu müssen, ist ein Risiko, welches ein unabschätzbares Gefahrenpotential beinhaltet, Frau Merkel liefert den klaren Beweis

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