«Mit zweiter Tunnelröhre wird die Neat torpediert»
Die Überraschung war perfekt: Anfang Jahr ging die Meldung durch die Schweiz, die SBB-Führung unterstütze die Vorlage für den Bau einer zweiten Röhre für den Gotthard-Strassentunnel, die am 28. Februar an die Urne kommt. Noch heute kann Hans-Peter Vetsch darüber nur den Kopf schütteln. Vetsch hat über zwanzig Jahre SBB-Erfahrung als Infrastrukturplaner, zuletzt im neuen Gotthard-Basistunnel (GBT) als Leiter Sicherheit und Betrieb.
«Eine Chance wird verpasst»
Hans-Peter Vetsch ist bestürzt. Aus seiner Sicht würde die Schweiz mit dem zweiten Strassentunnel die Verlagerungspolitik und die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) torpedieren, die insgesamt 24 Milliarden Franken kostet. Für Vetsch wäre die anstehende Sanierung des Strassentunnels stattdessen die ideale Chance, um den internationalen alpenquerenden Güterverkehr definitiv auf die Schiene zu bringen.
Er nennt in diesem Zusammenhang die 100 Millionen Franken, die der Bund für Verladeterminals einer Rollenden Landstrasse (Rola) in Basel und Chiasso 1996 bereitgestellt hatte. Die Verladekapazitäten samt Gleisen – über die heute Gras wächst – stünden dazu in Basel beim Badischen Bahnhof bereit, mit Anschluss an die Autobahn. In Chiasso gebe es genügend Gleise im Rangierbahnhof, nötig sei einzig eine kurze Anschlussstrasse zur Autobahn.
Über die Verladegleise im Badischen Bahnhof Basel wachsen Gras und Büsche (Bild Google Earth Januar 2016)
«Kapazitäten stünden bereit»
Kurz: «Die Kapazitäten sind vorhanden, damit der alpenquerende Grenzverkehr der Güter ohne Zollabfertigung schnell über die Bahn erfolgen könnte.» Davon ist Vetsch überzeugt. Mit dem Gotthard-Basistunnel und dem Ceneritunnel steige die Kapazität im alpenquerenden Güterverkehr inklusive Lötschbergachse ab 2020 von 250 auf 370 Züge pro Tag. So könne man ohne weiteres die 519’000 ausländischen Lastwagen, die gut zwei Drittel des LKW-Aufkommens am Gotthard ausmachten, auf die Schiene bringen.
Auch das Verkehrsdepartement hatte in seinen früheren Abklärungen 2010 die optimalen Bedingungen für eine lange Rola in Basel und Chiasso hervorgehoben. Grosses Hindernis war damals noch die Ungewissheit, ob die Rola auch Sattelaufleger mit vier Metern Eckhöhe zum Gotthard transportieren kann. Heute ist aber klar, dass der sogenannte 4-Meter-Korridor termingerecht verwirklicht wird.
Leuthard mit veralteten Zahlen
Oskar Stalder, Ingenieur und ebenfalls ehemaliger SBB-Infrastrukturplaner, äussert sich auf Nachfrage vor allem erstaunt darüber, dass die heutige Verkehrsministerin Doris Leuthard (CVP) den zweiten Strassentunnel an Podien mit veralteten Zahlen der Studie von 2010 verteidige. Aus seiner Sicht übertreibt sie vor allem beim Platzbedarf, den die temporären Verladeanlagen in Erstfeld und Biasca hätten, die den Strassenverkehr während der Tunnelsanierung aufnehmen müssten.
Stalder ist überzeugt: «Es wird weniger als die Hälfte des Platzes benötigt.» Er und fünf weitere ehemalige Fachkollegen haben dazu ein alternatives Verladekonzept entwickelt. Kernpunkte sind ein effizienteres Verlademanagement, die Nutzung der tatsächlichen Kapazität des GBT sowie die Möglichkeiten des 4-Meter-Korridors mit dem Verlad der Lastwagen von Basel bis Chiasso. Das Konzept der ehemaligen SBB-Ingenieure enthält folgende Schwerpunkte:
- Ein Autoverlad zwischen Göschenen und Airolo könnte in beide Richtungen achthundert Personenwagen pro Stunde transportieren. Pro Jahr könnten so 5,2 Millionen Fahrzeuge pro Richtung verladen werden.
- Zwischen Erstfeld und Biasca gäbe es einen Lastwagenverlad durch den neuen Basistunnel, der je zwei Züge pro Stunde und Richtung umfassen soll, die je 30 LKW transportieren. Das ergäbe eine Tageskapazität von insgesamt 2280 LKW.
- Der Lastwagenverlad Basel–Chiasso soll 30 LKW pro Zug umfassen. Mit einem Zug pro Stunde und Richtung ergäbe das eine Tageskapazität von 1020 LKW.
Rollende Landstrasse in Österreich (Bild cc)
Entscheid folgt bis 2019
Auf Anfrage nahm das Verkehrsdepartement zum Konzept der ehemaligen SBB-Ingenieure Stellung. Neben Übereinstimmungen geht es von einer um zweihundert Personenwagen geringeren Kapazität pro Stunde aus. Stalder und seine Kollegen argumentieren, dass mittels zweiparallel geführten Beladestellen eine rationellere Abwicklung möglich ist und somit 100 statt nur 80 Autos pro Zug transportiert werden können. Dazu kommt der viel geringe Platzanspruch, weil die Lastwagen von Grenze zu Grenze bereits in Basel und Chiasso auf die RoLa geladen werden.
Beim Lastwagenverlad wiederum hält das Verkehrsdepartement an der Studie von 2010 grundsätzlich fest und ignoriert die Möglichkeiten des 4-Meter-Korridors, das heisst: die Chance, die eine Rola zwischen Basel und Chiasso bietet. Begründung: Ein definitiver Entscheid werde erst bis 2019 gefällt, womit eine Inbetriebnahme nicht vor 2022 möglich sei. Der Bundesrat hat noch im Dezember 2015 diesen Entscheid auf 2019 verschoben, obschon seit 2014 feststeht, dass der 4-Meter-Korridor bis 2020 erstellt sein wird.
Kopfschütteln beim Experten
Dass dieser Korridor, der immerhin 990 Millionen Franken kostet, nicht in den Überlegungen des Bundes Eingang fand, will Hans-Peter Vetsch nicht in den Kopf. Denn der Korridor ermögliche es, den ganzen Lastwagenverkehr von Grenze zu Grenze über die Gotthard- und Lötschbergachse auf die Schiene zu bringen. Vetsch weiss, wovon er spricht: Er ist heute als Bahnberater in verschiedenen Ländern tätig, so für die Bundesbahnen in Deutschland und Österreich sowie für ein Güterbahnprojekt in Australien.
Bereits der Bau der 2. Röhre verfassungswidrig
Überhaupt, Vetsch wundert sich, dass der Bundesrat die 2. Röhre überhaupt zur Abstimmung bringt. Er stuft bereits den Bau des neuen Tunnels als verfassungswidrig ein. Denn als Experte weiss er, dass jeder Tunnel wegen Pannen, Störungen und Unterhalt zeitweise nicht nutzbar ist. Ein Ja zum 2. Strassentunnel würde diese Beschränkung aus der Welt schaffen. Das steht sogar im Gesetzestext, der zu Abstimmung gelangt: «Ist nur eine Röhre für den Verkehr offen, so kann in dieser Röhre je eine Spur pro Richtung betrieben werden.» Somit erhöht schon die Erstellung der 2. Röhre die Kapazität, was der Bundesverfassung widerspricht. Dazu braucht es für ihn nicht einmal die Überlegungen des Zürcher Staatsrechtler Professor Alain Griffel, der in der NZZ erklärte, bereits die später mögliche Kapazitätserhöhung auf vier Spuren sei eine Verletzung der Bundesverfassung.
Vetsch weiss, wovon er spricht. Er war während über 20 Jahren Infrastrukturplaner bei den SBB, Er ist heute als Bahnberater in verschiedenen Ländern tätig, so für die Bundesbahnen in Deutschland und Österreich sowie für ein Güterbahnprojekt in Australien.
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Dieser Beitrag erschien in einer leicht gekürzten Version am 28.1.2016 in der «Berner Zeitung».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Aus meiner Sicht sind die Güter genau ein Anliegen (und das sollte nicht nur von Grenze zu Grenze angegangen werden). Viel wichtiger ist der Personenverkehr – und da haben wir mit der zweiten Röhre einfach die besseren Karten – bezüglich Sicherheit und bezüglich Kapazität. Ich will weder Stau auf der der Nor-Süd-Achse noch will ich auf 17km Gegenverkehr ohne Pannenstreifen. Es ist Zeit für den nächsten Schritt.
Für Autofans ist es legitim, dass sie den Tunnel wollen, um ihr Sicherheitsgefühl und ihre «freie Fahrt» zu verbessern. Es ist aber misbräuchlich, das Argument «Sicherheit» zu verwenden, wie Leuthard, bürgerliche Parteien, Bau- und Autolobbies uns vorlügen. Denn die Sicherheitsverbesserung im Tunnel selbst führt zu *mehr* Verkehr und zu einer gesamtheitlichen *Reduktion* der Sicherheit. Die viele zusätzlichen Tote durch Unfälle und Luftverschmutzung stehen in keinem Verhältnis zu den Verbesserungen im Tunnel selbst, der ja in der Regel nur ein kleines Teilstück eines viel längeren Weges darstellt.
Übrigens hat es im Artikel bei mir Textblöcke aus einem andern Artikel über Waffen drin. Durch Autos sterben aber viel mehr Leute als durch Waffen.
Dass dereinst unter dem Druck der EU beide Röhren für den doppelspurigen Verkehr geöffnet würden, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Damit würden grosse Teile unseres Landes zum intensivst befahrenen Nord-Süd-Lastwagenkorridor der EU. Umweltschutz und Lebensqualität der Bevölkerung würden mit Füssen getreten.
Das Sicherheitsargument ist stark subjektiv, aus dem Bauch heraus. Nach dem Unfall 2001 wurde das Betriebskonzept des Tunnels wesentlich verbessert (z.B. Mindestabstand für Lastwagen, Wärmebildkameras, die Brandherde aufdecken). Seither ist der Gotthardtunnel sicherheitsmässig absolut im normalen Bereich.
Auf Kantonsstrassen ist das Fahren mit Gegenverkehr bei Tempo 80 absolut Standard. Und das, ohne generelles Überholverbot, und mit vielfach schlechteren Sichtverhältnissen (Kurven, Hügel, …)
Wer damit nicht klarkommt, gehört nicht ans Steuer!
Ich bin vor noch nicht allzu langer Zeit durch den Gotthard gefahren und hatte den Tempomat auf etwas über 80 geregelt. Mehrfach hatte ich aber einen grossen Laster im Mindestabstand von weniger als 5 Meter (subjektive Einschätzung) hinter mir. Offenbar «schlief» der Chauffeur oder wollte sich mit den kleinen Personenwagen «amusieren». Ich fand das nicht besonders lustig.
Mindestabstände und Höchstgeschwindigkeiten gibt es auch anderswo. Im Mont-Blanc Tunnel wurde das in den ersten Jahren nach der Inbetriebsnahme auch effektiv kontrolliert. Das wäre wohl auch im Gotthard möglich, wird aber offensichtlich nicht gemacht.
Das Tropfenzählsystem ist wohl das einzig vernünftige und das soll ja auch weitergeführt werden. Dass es übrigens auch in der Leventina Unternehmen gibt, welche ihre Ware nur schwer auf die Schiene geben können, wird nördlich der Alpen gerne «vergessen».
Wenn schon so viel über die Vorteile der Schiene gesprochen wird > kann mir jemand erklären, warum die zweite Neat Röhre 2 km südlich von Frutigen nicht fertig gebaut wurde. Wohl weil es hier keine Strassenkonkurrenz gibt ? Der Tunnel steht immer noch leer.