Klitschoplus

Vitali Klitschko mit Oleh Tjahnybok und dem heutigen Premierminister Arsenij Janzenjuk im Dez 2013 © gk

Klitschko, Kiew und die ukrainische Krise

Christian Müller /  Vitali Klitschko lädt alle Schweizer nach Kiew ein. Interessanter allerdings ist der Blick in die verschiedenen Regionen.

Das WEF in Davos ist die beste Gelegenheit für Schweizer Chefredaktoren, sich zusammen mit internationaler Prominenz ins Bild zu setzen – durchaus auch fotografisch gemeint. So etwa hat sich Patrik Müller von der Schweiz am Sonntag vor Wochenfrist volle zwei Seiten lang mit dem saudischen Polit-Promi Prinz Turki al Faisal al Saud – natürlich in dessen teurer Hotel-Suite – «öffentlich» unterhalten und auch eine ganze Zeitungsseite lang mit dem ukrainischen Sport- und Polit-Star Vitali Klitschko gesprochen. Vitali Klitschko war Schwergewicht-Boxer und gewann im Jahr 1999 zum ersten Mal die Weltmeisterschaft, später dann noch ein paarmal. Heute ist Vitali Klitschko Stadtpräsident von Kiew und Parteiboss des Block Petro Poroschenko, der Partei, die dem ukrainischen Staatspräsidenten und Milliardär Petro Poroschenko die Macht erhalten hilft. Da ist es, nach ukrainischen Umgangsformen, nicht schlecht, wenn man selber Boxer ist … (Siehe dazu das Video aus dem Parlament in Kiew!)

Das Interview mit Vitali Klitschko in der Schweiz am Sonntag bringt wenig Neues, aber es bestätigt, was man in Kiew und in der westlichen Welt einfach nicht zur Kenntnis nehmen will: Die Ukraine ist weit davon entfernt, eine Nation zu sein, ein Land mit einem gemeinsamen Ziel und einem gemeinsamen Willen, dieses Ziel auf einem gemeinsamen Weg zu erreichen. Wenn Vitali Klitschko von der «Einheit der Ukraine» redet, redet er wider besseres Wissen.

Die Realität ist: Auch heute, nach bald zwei Jahren Bürgerkrieg im Donbass, gehen die Meinungen der Bevölkerung – wie eh und je – weit auseinander. Nicht nur der Osten der Ukraine, auch der Süden ist ausgesprochen russlandfreundlich. Weite Gebiete der Ukraine fühlen sich durch die Politik Kiews überhaupt nicht vertreten. Sie verlangen mehr Kompetenzen in den Regionen, mehr Autonomie, wie das deutsche Bundesamt für politische Bildung bpb aufgrund neuer Gallup-Umfragen kürzlich erneut bestätigte (Grafik 6). Auf die Frage etwa, ob dem Donbass spezielle Rechte zugebilligt werden sollen, um den russisch-ukrainischen Konflikt zu lösen, sagen die Leute nicht nur im Osten mit 52 Prozent der abgegebenen Meinungsäusserungen Ja, sondern auch der Süden, hier mit 49,8 Stimmen. Nur 34,2 Prozent im Osten und 23,7 Prozent im Süden sagen Nein. Im Zentrum der Ukraine aber, zu dem Kiew gehört, und im Westen, in Galizien, ist es ganz anders. Hier sagen 63,9 Prozent im Zentrum und 61,8 Prozent im Westen Nein zu mehr föderalen Strukturen. (Das Wort Föderalismus im schweizerischen Sinne kennen die Ukrainer allerdings nicht, darum reden sie von mehr Autonomie.)

Der Osten und der Süden der Ukraine möchten weniger Zentralismus, sondern mehr Föderalismus

Mehr und mehr Armut

Und was hat Vitali Klitschko, der Box-Weltmeister, politisch so vor, um die Ukraine aus der Krise zu führen?

Laut Interview in der Schweiz am Sonntag vom 24.1.2016 will er aus Kiew eine Sport-Stadt machen. Kiew sei eine der schönsten Städte Osteuropas, sagt Klitschko. «Ich lade alle Schweizer nach Kiew ein, um sich selbst von der Schönheit der Stadt zu überzeugen.»

Die Realität in der Ukraine ruft allerdings wenig nach einer Sport-Stadt. Die Ukraine, mit 46 Millionen Einwohnern ein riesiges Land, hat andere Probleme: «Laut Angaben der Weltbank betrug das ukrainische Bruttonationaleinkommen pro Kopf im Jahr 2014 8’560 Dollar (Internationaler Dollar in Kaufkraftparität), was lediglich der Hälfte des Bruttonationaleinkommens pro Kopf im Nachbarland Weissrussland entspricht! Kleinere Werte haben in Europa nur Moldawien (mit 3,1 Millionen Einwohnern), Georgien (mit 3,7 Millionen Einwohnern) und Armenien (mit 3 Millionen Einwohnern). Im Jahr 2014 schrumpfte die Wirtschaft der Ukraine um 6,8 Prozent, wobei 2015 ein weiterer Rückgang zwischen 7 und 12 Prozent erwartet wird! Die enorme Abwertung der Hrywnja gegenüber Dollar und Euro und die Anhebung der Energiepreise haben die Inflation ruckartig steigen lassen. Sinkendes reales Einkommen und steigende Preise führten in den letzten zwei Jahren dazu, dass viele Familien in der Ukraine eine deutliche Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Situation in Kauf nehmen mussten. Einen dermaßen niedrigen Lebensstandard wie in den letzten zwölf Monaten hat die ukrainische Bevölkerung zuletzt in den 1990er Jahren erlebt. Die aktuelle Wirtschaftskrise, die unter anderem stark durch den andauernden Konflikt im Osten des Landes – und die damit verbundene Industriezerstörung sowie den Handelskrieg mit Russland – bedingt ist, wirkt sich äußerst negativ auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung aus. Das Ausmaß der extremen Armut ist dramatisch gestiegen. Die traditionell am meisten von der Armut betroffenen Gruppen sind nach wie vor Rentner, kinderreiche Familien und die ländliche Bevölkerung. Ebenfalls besonders armutsanfällig sind die Binnenvertriebenen, deren Anzahl in der Ukraine mittlerweile über 1,5 Millionen liegt.» (Deutsche Bundeszentrale für politische Bildung). (Kursiv-Auszeichnungen und Ausrufezeichen von cm)

An anderer Stelle in diesem Bericht, wörtlich: «Die Durchschnittsrente lag Anfang 2015 bei 1’536 Hrywnja (79 Euro!) pro Monat. Aufgrund der niedrigen Renten ist eine Fortsetzung der Arbeit unter Rentnern verbreitet. Seit April 2015 wird diese Gruppe zusätzlich belastet: Einem neuen vorübergehenden Gesetz zufolge wird arbeitenden Rentnern die Rente um 15 Prozent gekürzt.

Auch wenn man das Ausmaß der Schattenwirtschaft – die laut Expertenmeinungen etwa 50 Prozent der Wirtschaft erreicht – in Betracht zieht, reichen die Einkommen der breiten Bevölkerungsschichten kaum zum Überleben! Niedrige Einkommen stellen ein großes Problem für das ganze Land dar, wobei die Situation in der Hauptstadt Kiew etwas besser als an anderen Orten der Ukraine ist.»

Auch die Mittelschicht schrumpft

Aber nicht nur die Armut nimmt zu, gleichzeitig leidet auch der Mittelstand. «Laut Umfrageergebnissen aus dem Jahr 2015 leben weniger als ein halbes Prozent der Familien in der Ukraine im Wohlstand. 12,9 Prozent der Befragten geben an, dass ihr Haushalt ein Einkommen bestreitet, das mehr als nur die Basisbedürfnisse zu decken ermöglicht, und weitere 2,7 Prozent haben zusätzlich noch die Möglichkeit, Ersparnisse zu bilden. Gemeinsam machen diese letzten zwei Gruppen, also der Mittelstand, 15,6 Prozent der Bevölkerung aus. Im Zuge des Wirtschaftswachstums in den 2000er Jahren erreichte die Mittelschicht in der Ukraine 24,5 Prozent (2008) – also ein Viertel der Bevölkerung; nach der globalen Finanzkrise schrumpfte sie auf 19,3 Prozent (2010). Die aktuellen Tendenzen in der ukrainischen Wirtschaft deuten auf einen weiteren Rückgang der Mittelschicht hin.»

Ein halbes Prozent Wohlhabende und 15,6 Prozent Mittelstand – und also 84 Prozent Armut. 17 von 20 Ukrainern haben, wenn’s gut kommt, gerade genug zu essen. Wenn überhaupt.

Ob es da klug von Vitali Klitschko ist, die Partei von Petro Poroschenko anzuführen – von Poroschenko, dem Milliardär, einem der sieben reichsten Oligarchen der Ukraine? Die Partei von Petro Poroschenko, der noch unter dem vom Meidan in die Wüste geschickten Staatspräsidenten Janukowitsch Direktor der ukrainischen Nationalbank war, und jetzt selber superreicher Staatspräsident?

Ja, lassen wir uns doch von Vitali Klitschko nach Kiew einladen! Gehen wir nach Kiew – die Stadt ist tatsächlich schön, ich kenne sie – und fragen Vitali Klitschko, woher sein Parteifreund, Staatspräsident Petro Poroschenko, sein Geld hat!

Im Interview in der Schweiz am Sonntag wurde diese Frage leider nicht gestellt.

Kleiner Nachtrag vom 4.2.2016: Jetzt hat sogar der extra für Reformen aus Schweden eingeflogene Minister Aivaras Abronavicinus seinen Rücktrott aus der Regierung erklärt. Grund: Er werde zu Geschäften und Personalentscheiden gedrängt, die er nicht verantworten könne. Siehe dazu NZZ online. Etwas anders als die NZZ sieht es allerdings Euronews.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Ukraine_Sprachen

Die Ukraine zwischen Ost und West: Jetzt von Russland angegriffen

Die Ukraine wird Opfer geopolitischer Interessen. Die Nato wollte näher an Russland. Seit dem 24.2.2022 führt Russland einen Angriffskrieg.

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3 Meinungen

  • am 1.02.2016 um 14:48 Uhr
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    Ein informativer Artikel!
    Hinzufügen möchte ich noch, dass mehrere Millionen Ukrainer in Russland, Polen , Kanada und in anderen Ländern der EU arbeiten, um ihre Familien zu Hause über Wasser halten zu können!
    Und weiterhin möchte ich hinzufügen, dass die ukrainischen Streitkräfte und die faschistischen Freiwilligenbatallione täglich den «Terroristen"-Donbass beschiessen!!!
    Und Europa schweigt und ist mitschuldig!

  • am 1.02.2016 um 17:29 Uhr
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    Diese Umfrage, wie auch Ergebnisse von Wahlen (vor und nach dem Umsturz) sollten doch jedem Politiker und allen Leitmedien zeigen, dass solch anti-Russland Haltung der amtierenden ukr.Regierung nicht das Volk wiederspiegelt.
    Wenn man sich dann zB gerad Heute die Pressekonferenz (Merkel und Poroschenko); bin ich sprachlose! Herr Poroschenko wiederholt ununterbrochen «Russland ist böse und an allem Schuld"!
    Die Ukraine und die amtierende Regierung ist beinah komplett von westlichen Staaten nun Heute abhängig. Und diese Staaten schaffen es nicht positiv auf die ukr.Regierung einzuwirken? Wie soll unter solch Regierung ein einheitlicher Staat werden?

  • am 2.02.2016 um 13:14 Uhr
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    Klitsch, the US-Bitch, lädt ganz Europa ein, für die USA in den Krieg zu ziehend uns gratis zu opfern, angeblich wegen der Krim, tatsächlich aber damit die USA ihren Angriffskrieg gegen Russland durchführen können, den sie bereits seit Jahrzehnten planen (vgl. preisgekrönten Doku-Film von Dirk Pohlmann,"Täuschung – die Methode Reagan"): Die USA sind maximal pleite (you remember «Staatsstillstand"?), mogeln sich seit Jahrzehnten mit Tricks (Bretton-Woods, Goldstandardlüge, Petrodollarzwang etc.) und primär ihrer Militärgewaltdrohung (USA haben weit mehr Waffen als die gesamte Restwelt zusammen!) und Russland soll die Weiterführung (the USA didn’t never stop ist!) des Raub(zuges)mordes an den Native Americans sein (Russland/Europa as the nowadays Native Americans in continuing); Prinzip Plünderung und «Verbrannte Erde» (kontaminiert radioaktiv, Monsanto, Frackinggifte ubiquitär etc.) – die USA wollen Mond-/Mars-dörfer, weil sie alles kaputtmachen, wo sie bisher waren/sind, vorerst müssen aber noch WIR dafür herhalten (dran glauben), denn «US-National-Security» ist ein tödlich-todernster Allzweck-Vorwand, auch und erst recht wenns beispielsweise um Trinkwasser geht.
    Unsere einzige Rettung gegen das US-Weltmonopol (das dann weder für uns noch Snowden irgendeinen «letzten» Zufluchtsort böte und mittels NSA und Drohnen «kostengünstig und volleffizient» die Welt abdecken würde) wäre: Amis sofort raus aus Europa und Bündnis Europa-Russland.

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