Im Bett mit Varoufakis
Red. Regula Stämpfli ist Doktorin der Geschichte, Philosophin, Politologin, Autorin und Dozentin.
Die schlechte Nachricht zuerst: Varoufakis ist kein Revolutionär, sondern ein Intellektueller. Ihm ist sein Erstaunen immer noch anzumerken, dass die Eurogruppe unter Schäuble und Dijsselbloem tatsächlich kein einziges rationales Argument für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas hören, geschweige denn umsetzen wollten. Ihm steht der Schock, dass Schäuble und Co. wissentlich, mit voller Absicht und skrupellos die EU und Europa an die Wand zu fahren, immer noch im Gesicht.
«Und sie dreht sich doch», scheint Varoufakis im Hinblick auf faktenbasierte Ökonomie wieder und wieder zu sagen. Kein Wunder geriet die gestrige Veranstaltung in München, die unter dem Namen «underconstruction:europe» lief, .streckenweise zur universitären Vorlesung. Varoufakis brachte über zwei Stunden ökonomisches Grundwissen, Fakten, Fakten und wieder Fakten.
Die Stimmung war echt strange
Dies vor einem sehr drögen, aber typischen München-Publikum, das die meisten Witze wohl mangels Englischkenntnissen verpasste oder generell über zu wenig politischen Humor verfügte, die Spitzen, die Klarheiten, die Unglaublichkeiten von Varoufakis Amtszeit zu verstehen. Andererseits ist München ja eigentlich die Hauptstadt im Kampf gegen die unsägliche Pegida in Deutschland. Tausende und Abertausende engagieren sich bunt, kreativ, lustig und regelmässig gegen die grölenden Dumpfbacken, die in der deutschen Presse gerne als «verängstigte Bürger der Mitte» porträtiert werden.
Doch die Stimmung in der Muffathalle war echt strange und der Applaus für den wirklich lustigen OB Ude und den engagierten Varoufakis waren sehr, sehr verhalten, so dass ich mich während der ganzen Veranstaltung fragte (ich war zwischen zwei unangenehmen Anzugträgern auf der 21. Reihe festgeklemmt), weshalb denn diese Leute überhaupt ein Ticket gekauft haben. Vielleicht nur, um den europäischen Demokratinnen und Demokraten den Abend so richtig zu versauen?
Die deutsche Presse am Pranger
Apropos Ticket. Christian Ude fühlte sich bemüht, auf die deutsche Presse einzugehen, die sich offensichtlich über den Eintrittspreis von 19 Euro amüsiert hatte. Eine Presse, die sich nicht zu blöde ist, den hochintelligenten Europäer als «linken Posterboy» (Süddeutsche. Juli 2015) zu beschimpfen, dafür jedoch keine einzige der vorgestellten ökonomischen Reformen abzudrucken. Varoufakis stellte mit Fug und Recht die gesamte deutsche Presse an den Pranger. Denn der Tenor von «Süddeutscher Zeitung» über «Die Zeit» hin zur «FAZ», ja auch zur «TAZ», Tagesspiegel und alle öffentlich-rechtlichen Medien war ein Falsetto: Griechenland hätte keine Politik, kein Programm, Syriza sei ein Club von Stümpern, während die griechische Regierung genau das Gegenteil tat: Militärbudget kürzen, Steuerreformen durchsetzen (die dann vom IWF sofort wieder rückgängig gemacht wurden), nachhaltige Umweltpolitik planen. Varoufakis erzählte, dass selbst bei Deals, die mit «Handshake» und anschliessendem Drink besiegelt wurde, die Vertragspartner im Nachhinein den Deal rückgängig machten und versuchten, Varoufakis als Lügner darzustellen, da: «Troika is the tax cheats best friends.»
Der Abend mit Varoufakis bestätigte übrigens gleich zu Beginn die «mörderischen Ordnungsprinzipien», über die auch die Autorin hier schon seit Jahren forscht und publiziert. «Wenn ein Satz mit ‹Die Deutschen› oder ‹Die Griechen› beginnt, ist der Weg zu nationalen Stereotypen und Rassismus offen. Es gibt keine ‹Die Deutschen›, sondern Vielfalt. In Zukunft sollten wir diese Nationalismen wie die Subjektphrase ‚Die deutsche, griechische, französische Regierung‘ vermeiden.»
Lob für Merkel, Kritik für Gabriel
Aus dem Nähkästchen persönlicher Anti- und Sympathien plauderte Varoufakis dann im Gespräch mit alt-OB Ude nach dem Vortrag. Dr. Schäuble war übrigens nicht der Hauptgegner von Varoufakis, erstaunlicherweise. Denn der deutsche Finanzminister verfügt gemäss Varoufakis – im Unterschied zum Rest der Eurogruppe – über hohe Intelligenz und einiges ökonomisches Sachwissen. Sigmar Gabriel hingegen muss schlimmer sein als alles, was man über den dicken Mann aus Goslar hört. Auf den «Genossen Gewichtig» angesprochen, wollte Varoufakis zunächst nicht antworten, sondern meinte sehr kalt: «He was a great disappointment.» Merkel hingegen dankt Varoufakis, da sie mit ihrer Flüchtlingspolitik als einzige europäische Politikerin das Richtige tat. Dazu meinte Ude lachend: «Tja. Merkel hat keine Probleme mehr mit ihren Gegnern, dafür umso mehr mit ihren Unterstützern.»
Leider endete der Abend mit ziemlich düsteren Prognosen was die Zukunft Europas betrifft, was mich nochmals wiederholen lässt: Varoufakis ist kein Revolutionär, sondern ein Intellektueller. Deshalb konzipiert er auch seine neue europäische Bewegung «under construction» entlang klassischer staatsrechtlicher Prinzipien, ohne zu merken, dass die europäischen Menschen schon viel weiter sind.
Demokratie wird transnational sein oder gar nicht
Meiner Analyse entsprechend wird die Demokratie von morgen nur dann Bestand haben, wenn sie eben nicht mehr ein klassisches nationales, parlamentarisches System ist. Sie wird transnational sein oder gar nicht. Sie wird direkte Demokratie leben oder gar nicht. Die Demokratie von morgen wird global, ausgestattet mit bedingungslosem garantierten Einkommen für alle Menschen und einem Grundrechtskatalog versehen sein, der sich gewaschen hat. Sie wird die Freiheit, Gleichheit und Solidarität unter allen Lebewesen mitgestalten, mitdenken und Hege, Pflege und Sorge zulassen. Es wird eine Demokratie sein, die den Menschen Daten-Souveränität garantiert. Es wird eine Demokratie sein, die der unglaublichen Fähigkeit der Technik nicht nur entspricht, sondern diese zur Grundlage einer neuen Verfassung von Menschen macht, um alles zu transformieren.
Wie der Weg dorthin aussehen wird, ist noch nicht klar, doch klar ist, dass wenn er geebnet werden soll, trotzdem auf Yanis Varoufakis Verlass ist. Denn er ist in erster Linie ein Mensch, dessen messerscharfer Verstand mit einem grossen Herzen Hand in Hand geht, was man wohl von keinem einzigen amtierenden Politiker heutzutage behaupten kann.
Nachtrag zum Titel «Im Bett mit Varoufakis»: Da der gestrige Abend in München etwas enttäuschte, zog ich mir im Anschluss die Debatte zwischen Varoufakis, Assange und Zizek in London am 23.11.2015 als Bettmümpfeli rein. Hier nur soviel: Äusserst vergnüglich und anregend, doch alles andere als beruhigend.
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Der Artikel erschien zuerst auf news.ch
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Die abschliessende Analyse von Regula Stampfli, dass Demokratie in Zukunft «transnational oder gar nicht» sein werde, ist etwas gewagt. Sie widerspricht der Realität. Denn heute ist der Nationalstaat der einzige Rahmen, in dem man funktionierende Demokratie beobachten kann.
Als Vision für eine fernere Zukunft ist nichts gegen solche Vorstellungen einzuwenden. Doch solange der Weg dorthin noch gar nicht klar ist, sollte man sich neben den Visionen auch zu bodenständiger Realpolitik herablassen!