fnfjahresplan

Schriller Propaganda-Spot der KP für den neuen Fünfjahresplan © China Central Television America/YouTube

China: Reformkurs ohne Abkürzungen

Peter G. Achten /  Abschied von der Ein-Kind-Politik, Armut beseitigen und nachhaltiges Wachstum: Chinas KP hat die Zukunft des Landes erörtert.

Chinesen und Chinesinnen lieben Zahlen und Abkürzungen. Die am 29. Oktober beendete Vollversammlung des Zentralkomitees firmiert denn unter dem Kürzel 5/18, was so viel bedeutet wie 5. Plenum des 18. Parteitags. In die Geschichte eingegangen ist 3/11, als 1978 der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping die Politik der Reform und die Öffnung nach Aussen einleitete mit der Abschaffung des Klassenkampfes und der Konzentration auf die Wirtschaft. Die Folge war in den letzten 37 Jahre ein in der Geschichte beispielloser wirtschaftlicher, sozialer und politischer Wandel.
Neustart nach 60-Jahre-Zyklus
Derzeit befindet sich das Reich der Mitte in einer epochalen Umstrukturierung der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. So kommt es den roten Mandarinen nicht ganz ungelegen, dass nach alter chinesischer Tradition ein 60-Jahre-Zyklus beendet ist und ein neuer anbricht. Just zu Beginn des neuen Fünfjahresplans. Folgerichtig heisst es denn in einem Kommentar der Online-Ausgabe der Volkszeitung, des Sprachrohrs der Partei: «Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass der 13. Fünfjahresplan ein brandneuer Start für China sein wird.»
Während vier Tagen diskutierten in Peking 204 ZK-Vollmitglieder und über 100 alternierende Mitglieder die Zukunft des Reichs der Mitte. Das seit Beginn der Reform von Deng Xiaoping vor 37 Jahren vorgegebene Ziel – Xiaokang, ein moderat wohlhabendes Land – wird fortgeschrieben, jedoch nicht stur linear, sondern wie schon verschiedentlich zuvor mit kreativen, zukunftsweisenden Impulsen. Dies ist im gegenwärtigen Zeitpunkt umso nötiger, weil sich Chinas Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in einem schwierigen Umbruch befindet. Seit dem Amtsantritt von Parteichef Xi Jinping vor drei Jahren verändert sich Chinas Wirtschaft schnell von einer einseitigen Export- und Investitionsabhängigkeit hin zu mehr Binnennachfrage, Konsum und vor allem zu mehr Innovation und Umweltfreundlichkeit.
Fluss und Tiefwasser
Das Wirtschaftswachstum hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich verringert, was in China viel gelassener wahrgenommen und diskutiert wird als im Ausland. Dort bemühen hyperventilierende Kommentatoren bereits das Wort «schwere Krise», prophezeien eine möglicherweise «harte Landung» der Wirtschaft, ja malen sogar einen möglichen Untergang an die Wand. Das ist, betrachtet man die letzen drei Jahrzehnte, zwar keineswegs neu, doch eben auch nicht klüger. Oder wie Parteiveteran Deng Xiaoping einst zu sagen pflegte: Die Wahrheit in den Tatsachen suchen.
In China bezeichnet man das abnehmende Wachstum mit dem von Parteichef Xi geprägten Begriff «das neue Normale». Premierminister Li Keqiang umschrieb die gegenwärtige Situation mit der Metapher, man bewege sich jetzt im «Tiefwasser des Ozeans» – in Anlehnung an ein berühmtes Zitat von Deng Xiaoping, wonach man beim «Überqueren des Flusses die Steine an den Fusssohlen spüren» müsse.
Die magische Zahl bleibt vorerst geheim
Das Wachstum des Bruttosozialprodukts war deshalb nicht von ungefähr ein wichtiges Thema des Plenums. Das bislang offizielle Ziel wird mit 7 Prozent angegeben. Seit Monaten wird darüber auch öffentlich eine kontroverse Debatte geführt. Premier Li soll bei einer Rede in der Parteischule von 6,5 Prozent gesprochen haben. Verschiedene chinesische Ökonomen halten ein Wirtschaftswachstum von 5 bis 6 Prozent für möglich und mit den ökonomischen Zielen durchaus vereinbar. Sowohl Wang Jun, Wissenschaftler einer Pekinger Denkfabrik, als auch Lian Ping, Ökonom der Bank of Communications, halten jedoch 6,5 Prozent für das absolute Minimum. Lian: «China hat sich das Ziel gesetzt, das jährliche Einkommen pro Kopf von 2010 bis 2020 zu verdoppeln, und dafür darf das jährlich Wachstum nicht geringer als 6,6 Prozent sein.» Andere Ökonomen wiederum halten mindestens 7 Prozent für nötig, um jedes Jahr die angestrebten sechs Millionen neuen Arbeitsplätze zu schaffen.
Auch das Plenum hat sich auf ein Wachstumsziel geeinigt. Doch bekannt wird die magische Zahl streng nach den Regeln wohl erst beim Nationalen Volkskongress (Parlament) im März 2016. Für den ab 2016 gültigen Fünfjahresplan gilt jedenfalls nicht mehr «Wachstum um jeden Preis», sondern «nachhaltiges, mittelhohes Wachstum».
Strukturelle Reformen standen bei Plenum ganz oben auf der Traktandenliste, sind aber auch am schwierigsten durchzusetzen. Das gilt insbesondere für den Finanz-, Banken- und Börsenbereich sowie für die Staatsbetriebe. Wie die Anti-Korruptionskampagne von Parteichef Xi zeigt, stehen Privilegien auf dem Spiel.

Weniger Armut, mehr Kinder

Ein weiteres Ziel in den nächsten fünf Jahren ist das Verkleinern der Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, dem reichen Küstengürtel und den inneren Provinzen. Eine der Massnahmen, die das Plenum verabschiedet hat, ist die Besserstellung der rund 300 Millionen Wanderarbeiter. Das von Mao einst in den 1950er-Jahren eingeführte Hukou-System – Niederlassungs-Bewilligung – soll reformiert und schliesslich abgeschafft werden. Die Wanderarbeiter erhalten dann gleiche Rechte wie die Städter, zum Beispiel bei der Einschulung der Kinder und bei weiteren Sozialleistungen.
Der Entschluss des Plenums, die vor 35 Jahren eingeführte Ein-Kind-Politik aufzugeben und künftig zwei Kinder pro Familie zu erlauben, hat sogar international für Schlagzeilen gesorgt. Das Ziel ist klar: Die drohende Überalterung der Gesellschaft muss gestoppt werden. Heute beträgt der Bevölkerungsanteil der Alten (in China verwendet man noch nicht den Euphemismus «Senioren») 10 Prozent, bis zur Jahrhundertmitte soll dieser Anteil nur wenig grösser als 30 Prozent sein. Ob das gelingen wird, bleibt auch mit der neuen Familienpolitik fraglich.
Gemäss den meisten westlichen Kommentaren soll die Ein-Kind-Politik auch verantwortlich sein für den Frauenmangel in China – auf 118 Männer kommen 100 Frauen. Allerdings ist das Geschlechterverhältnis in den demokratischen Staaten Südkorea oder Indien, wo die Kinderzahl Privatsache ist, nicht wesentlich ausgeglichener. Der internationale Durchschnitt liegt bei 105-106 Knaben auf 100 Mädchen.

«Fundamentale Lösungen» aber «keine Abkürzungen»

Im neuen Fünfjahresplan sind zahlreiche weitere Ziele formuliert, die bis ins Jahr 2020 erreicht werden sollen. Rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Partei im Jahr 2021, wie das Parteiblatt «Renmin Ribao» (Volkszeitung) schreibt. Zu diesen Zielen gehören etwa das Abschaffen der Armut, bis zu sieben Millionen neue Arbeitsplätze jedes Jahr, Ausbau des noch immer weitmaschigen Sozialnetzes (Renten, Krankenkassen etc.), Urbanisierung, neue grüne Landwirtschaft, Nahrungsmittel-Sicherheit, nachhaltiger Umgang mit Ressourcen, Armee-Reform. Und: Innovation, Kreativität…
Sollten all diese Ziele erreicht werden, wären die Ziele für 2050, die Reform-Architekt Deng Xiaoping vor fast vierzig Jahren erträumt hat, vorzeitig erreicht. Doch die Tageszeitung «Global Times», ein Ableger der parteiamtlichen Volkszeitung, warnt: «China sieht sich im ‹Tiefwasser›-Stadium mannigfaltigen dornigen Problemen gegenüber. Die Gesellschaft sollte sich bewusst sein, dass nicht all diese Probleme sofort gelöst werden können. Das Volk braucht deshalb Vertrauen.» Die amtliche Nachrichten-Agentur Neues China (Xinhua) geht in einem Kommentar noch einen Schritt weiter: «Es gibt keine Abkürzungen beim Wechsel in ein neues ökonomisches Modell. (…) Reform und Innovation sind die fundamentalen Lösungen». Erfolg, fügt der Kommentator an, hänge von der unverzichtbaren Führung der Partei ab.

Kontinuität und langfristiges Denken

Bei Beratungen des höchsten Führungsorgans der Volksrepublik geht es stets auch um Personalfragen. Von den 205 ZK-Vollmitgliedern sind nicht weniger als 104 von Veränderungen betroffen. 7 Mitglieder wurden ausgeschlossen, 16 gemassregelt und auf weniger wichtige Posten abgeschoben, 81 wurden befördert. Derart umfangreiche personelle Änderungen sind laut Global Times «in der Geschichte der Partei extrem rar». Zhang Xixian, Professor an der Parteischule, kommentiert die Mutationen im besten Partei-Jargon so: «Diese grosse Umbildung hat geholfen, mutige und anpackende Führer auszuwählen in einem Augenblick, in dem China solche Führer braucht um die ökonomischen Probleme zu meistern und einen guten Beginn der Fünf-Jahres-Periode zu garantieren.»
Die Personalien sind auch wichtig für den Parteitag im Jahr 2017. Dann nämlich werden bereits die Weichen gestellt für die Nachfolge des 2012 angetretenen Parteichefs Xi Jinping. Drei Charakteristiken des reformorientierten China nach Mao Dsedong sind so gesehen Stabilität, Kontinuität und langfristiges Denken.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.

Zum Infosperber-Dossier:

Flagge_China

Chinas Innenpolitik

Hohe Wachstumszahlen; riesige Devisenreserven; sozialer Konfliktstoff; Umweltzerstörung; Herrschaft einer Partei

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