«Europa muss massiv Druck auf Israel ausüben»
Red. Helga Baumgarten lebt in Ostjerusalem und lehrt seit 1993 an der palästinensischen Birzeit Universität Politikwissenschaften. Sie ist Autorin u.a. der Bücher «Hamas: Der politische Islam in Palästina» (Diederichs Verlag 2006) und «Kampf um Palästina: Was wollen Hamas und Fatah?» (Herder Verlag 2013).
Die Gewalt in der Westbank eskaliert. Steuert das Land auf eine Dritte Intifada zu, einen neuerlichen Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung?
Helga Baumgarten: Schwer zu sagen. Als vor einigen Tagen in Tulkarm ein 18-jähriger Palästinenser beerdigt wurde, waren Vertreter aller politischen Bewegungen vor Ort. Das ruft Erinnerungen an die Erste Intifada von 1987 wach. Andererseits: Die palästinensische Gesellschaft ist am Boden zerstört. Eine Besatzung, die jetzt schon fast fünf Jahrzehnte andauert, zwei Volksaufstände, die brutal niedergeschlagen wurden, dann die tägliche Diskriminierung und Unterdrückung durch die Armee, eine Siedlerbewegung, die immer gewalttätiger wird, und nicht zuletzt die eigene Regierung, die kein politisches Programm anzubieten hat. All das macht die Palästinenser machtlos.
Also doch nichts Neues im Nahen Osten?
Es gibt ein explosives Gemisch, das neu ist. Da sind auf der einen Seite die palästinensischen Jugendlichen, die trotz Machtlosigkeit ihren Frust und ihre Wut über die permanente Besatzung der Israelis auf die Strasse tragen – und auch darüber, dass sich ausserhalb Palästinas niemand mehr darüber aufregt. Und da ist auf der Gegenseite die fast unbegrenzte Kontrolle der extremen israelischen Rechten über die politische Situation in ihrem Land. Einer Rechten, die derzeit eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung auf ihrer Seite hat und die Benjamin Netanyahu – man muss sich das vorstellen – zum Rücktritt zwingen will, weil er zu wenig hart eingreife in den gegenwärtigen Konflikt. Diese Konstellation gibt wirklich Grund zur Besorgnis.
Palästinensische Jugendliche am Qalandia Checkpoint bei Ramallah, September 2015 (Foto: Klaus Petrus)
Sie sagen, die palästinensische Führung habe kein Programm. Ende September kündigte der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas vor der UN-Vollversammlung immerhin den Friedensprozess mit Israel auf. Was hat das zu bedeuten?
Wer Abbas genau zugehört hat, weiss, dass seine Rede voller Widersprüche steckt. Die entscheidende Frage ist: Geht die Sicherheitszusammenarbeit der Palästinenserbehörde mit Israel wie gewohnt weiter? Und die Antwort lautet: Ja. Abbas scheint immer noch an Verhandlungen mit Israel zu glauben. Die palästinensische Gesellschaft aber hat diesen Glauben längst verloren.
Präsident Abbas ist unbeliebt und die Fatah – deren wichtigstes Mitglied immerhin Abbas ist – gilt als korrupt. Da bleibt, wie es scheint, nur die Hamas, die von der EU und anderen als Terrororganisation eingestuft wird. Ist sie für die Palästinenser am Ende die einzige Alternative?
Man muss unterscheiden: Zwischen der massiven Kritik an Abbas Politik und der Verankerung der Fatah-Bewegung in der palästinensischen Bevölkerung, allen Vorbehalten zum Trotz. In Jerusalem zum Beispiel sind in diesen Tagen auf Häusern, in denen es seitens der Palästinensern Opfer zu beklagen gibt, Fatah-Fahnen zu sehen. Das heisst: Es sind auch Fatah-Aktivisten, die sich an vorderster Front an den Protesten gegen die Besatzung beteiligen. Aber ja, bis dato haben die Palästinenser eigentlich nur diese beiden Optionen: Fatah oder Hamas.
Umfragen sprechen für die Hamas. Wird sie sich am gegenwärtigen Aufstand beteiligen?
Anders als einige Medien immer wieder berichten, agiert die Führung der Hamas sehr pragmatisch und rational. So auch in diesem Fall. Natürlich solidarisieren sie sich, immerhin geht es den palästinensischen Jugendlichen in Jerusalem und der Westbank um das Ende der Besatzung, um die Befreiung ihres Volkes. Doch weiss die Hamas sehr genau, dass es zum jetzigen Zeitpunkt kontraproduktiv wäre, aus dem Gazastreifen heraus Angriffe zu starten.
Man hört sagen, dass sich in Gaza, aber auch in der Westbank zunehmend radikale Gruppierungen ausbreiten, darunter solche, die dem Islamischen Staat (IS) nahestehen. Könnte das den Konflikt zusätzlich anheizen?
Es gibt solche Zellen, ja. Aber ich denke nicht, dass sie eine politisch wichtige Rolle spielen – jedenfalls bislang nicht. Sicher, einige von ihnen haben sich wohl von der Hamas abgespalten, weil sie ihnen nicht extremistisch genug ist. Allerdings ziehen die meisten eher in Richtung Türkei und von dort nach Syrien und den Irak, um sich den IS-Kämpfern anzuschliessen. Und die in Gaza bleiben, werden von der Hamas mit aller autoritären Brutalität unter Kontrolle gehalten.
Fatah oder Hamas. Wieso eigentlich nicht, da strategisch sinnvoller: Fatah und Hamas?
Eine Einheitsregierung von Fatah und Hamas wurde ja schon verschiedentlich erprobt, etwa 2007 und 2014/15. Und sie wird von der palästinensischen Gesellschaft auch unterstützt. Nur eben, die beiden Bewegungen sind ganz offensichtlich nicht in der Lage, auf Dauer zu kooperieren. Stattdessen beschuldigen sie sich gegenseitig. Die Fatah wirft der Hamas vor, sie wolle die Vormachtstellung in Gaza nicht aufgeben, und die Hamas kritisiert an der Fatah, dass sie an der Sicherheitszusammenarbeit mit Israel festhält. Letztlich stellen beide ihre Parteiinteressen über die Interessen der palästinensischen Gesellschaft.
Was ist eigentlich mit der palästinensischen Linken?
Sie steckt tief in der Misere. Anders als in den 1970ern oder zu Beginn der Ersten Intifada im Jahr 1987 haben heute Parteien wie die Volkspartei – das ist die ehemalige Kommunistische Partei –, die Volksfront zur Befreiung Palästinas und noch viel mehr die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas faktisch kein politisches Gewicht mehr. Es fehlt an einer charismatischen Führungsperson, vor allem aber an einem klaren politischen Programm, mit dem die Linke die palästinensische Bevölkerung mobilisieren könnte. Und so muss sie das politische Feld der Fatah und Hamas überlassen, was in meinen Augen wirklich schlimm ist. In der Misere steckt übrigens auch die israelische Linke, die früher noch einen gewissen Druck auf die eigene Regierung ausüben konnte. Heute ist sie geschwächt und hoffnungslos überaltert. Ihr stehen junge Israelis gegenüber, die immer extremistischer und in der Tendenz rassistischer werden.
Das klingt sehr danach, als sei die Region aus eigener Kraft nicht mehr in Lage, etwas zum Positiven zu verändern.
Wenn Europa wirklich ein Interesse hat, dass hier dauerhaft Ruhe herrscht, dann muss es endlich aktiv werden und sich einmischen. Was nichts anderes heissen kann als: massiven politischen Druck auf Israel auszuüben. Das gilt natürlich auch für die Schweiz. Vielleicht ist das ja die List der Geschichte: dass die Massen an Flüchtlingen, die jetzt nach Europa kommen, sowie die Angst vor dem IS für den Nahen Osten am Ende mehr bewirken können als eine Dritte Intifada. Europa, die internationale Gemeinschaft generell, engagiert sich ja nur, wenn es um ihre eigenen Interessen geht. Jetzt ist für Europa wohl zentral, den Zustrom von Flüchtlingen zu stoppen. Also hat man keine andere Wahl, als politisch an die Katastrophe heranzugehen, die man mit einer völlig verfehlten Politik – nicht zuletzt mit Waffenexporten – in der Region verursacht hat. Und da werden nicht nur Syrien und der Irak, sondern gerade auch Palästina wieder ins Zentrum rücken müssen.
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Dieses Interview ist erstmals im deutschen Nachrichtenmagazin «Hintergrund» erschienen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Klaus Petrus ist freischaffender Publizist und Fotograf mit den Schwerpunkten Protestbewegungen und Tierschutz.
Frau Baumgarten beklagt also den miserablen Zustand der Linken auf beiden Seiten der Konfliktparteien, lehrt aber gleichzeitig an der Hamas-Hochburg Bir Zait (http://goo.gl/OOQYKG), auf deren Gelände eine «geschätzte Genossin und Freundin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah» keinen Zutritt hat, weil «(jüdische) Israelis auf dem Gelände der Universität nicht erwünscht» sind (http://goo.gl/Cvr92P)? Da beisst sich aber die Katze in den Schwanz …
Vielen Dank an die mutige Frau Baumgarten und Sie, Herr Petrus.
Wer in der Schweiz lebt, denkt, Konsens und Frieden sei ein Gut, das jeder anstrebt.
Das scheint für die Inhaber der am besten hochgerüstete Armee nicht zu gelten. Diese Haltung ist nicht nur für diejenigen, die sie an den Tag legen äusserst gefährlich, sondern für uns alle.
Ich war öfters in Israel und hab gelernt, dass die Standpunkte zu Frieden im Konsens sehr differieren. Frieden bei (mund-)totem Gegner ist oft eher der Standpunkt, den ich in Israel gehört habe. Doch das ist verdammt einfach – scheinbar. Und offensichtlich geht nicht einmal das, wie die letzten Jahrzehnte zeigen.
Es braucht solche starke öffentliche Standpunkte zum Ausgleich, die andern sind uns allen hinlänglich aus der Tagespresse bekannt.
Erst wenn sich beide Seiten zeigen können und wirklich gesehen werden können in ihrem Schmerz, dann kann die Bewegung aufeinander hin erfolgen.
Deshalb, nochmals. Herzlichen Dank.
Und einen herzlichen Dank an alle Israelis und jüdischen Freunde, die auch wirklichen inneren, langfristigen Frieden anstreben. Ihr habt mich immer wieder versöhnt.
Interessant, dass im Titel nur von «Gewalt in Palästina» gesprochen wird.
Es müssten sich schon beide Seiten ernsthaft für echten, dauerhaften Frieden einsetzen. Dazu würde halt auch gehören, sich gegenseitig zu akzeptieren. Solange auf allen Seiten die Spinner an der Macht sind und die kleinsten Kinder schon mit Hass vergiftet werden, sehe ich leider schwarz.
Es ist leichter, Druck auf die Schweiz auszuüben als Druck auf Israel. Letzteres blüht uns, wenn wir wirklich glauben, wir könnten so unabhängig sein wie Australien oder eben auch Israel, welches selber definiert, was unter Humanität zu verstehen ist. Israel bleibt ein Land, wo die Grundbedingungen der staatlichen Existenz Tag für Tag im Ernst reflektiert und realisiert werden müssen. Man kann sich dort aufgrund von Erfahrungen den Ernstfall noch real vorstellen. Umso mehr Tapferkeit ist allerdings für Opposition in Israel erforderlich. Sie werden sehr schnell und nicht nur rhetorisch als Landesverräter hingestellt. Noch interessant sind für mich jeweils die Debatten auf der grundsätzlich israelfreundlichen libertären Seite «Die etwas andere Kritik», die von einer Frau Brant in Basel lanciert wurde.