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Wirtschaftsprofessor Giacomo Corneo © zvg

«Wir brauchen einen Aktienmarkt-Sozialismus»

Philipp Löpfe /  Der Kapitalismus muss nicht überwunden, sondern neu organisiert werden. Das sagt der Berliner Wirtschaftsprofessor Giacomo Corneo.

Giacomo Corneo ist Professor für Öffentliche Finanzen an der FU Berlin. Er ist der Verfasser eines Lehrbuchs über die Ökonomik des Wohlfahrtsstaats, der 2006 veröffentlichten Monographie «New Deal für Deutschland» und des 2014 erschienenen Buchs «Bessere Welt». Corneo ist Referent an der Veranstaltung Zukunftsfähige Wirtschaftssysteme der Academia Engelberg vom 14. bis 16. Oktober.

Der Kapitalismus ist nicht tot, aber er riecht ein bisschen komisch, könnte man in Anlehnung an ein berühmtes Zitat des Musikers Frank Zappa sagen. Trifft dies zu?
Giacomo Corneo: Dass der Kapitalismus tot oder fast tot ist, hört man schon seit hundert Jahren. Täglich kündigt irgendein Intellektueller irgendwo auf der Welt den Untergang des Kapitalismus an.

Keine besonders originelle Aussage, also.
Nein, wirklich nicht. Es gibt allerdings Fakten, die einem Sorgen bereiten. Vor allem die rasante Zunahme der Ungleichheit.

Entsteht ein neuer Geldadel, wie das Thomas Piketty in seinem Bestseller «Das Kapital des 21. Jahrhunderts» beschrieben hat?
Vor allem für die USA gibt es inzwischen fundierte Belege, die zeigen, dass an dieser Entwicklung etwas dran ist. Heute ist der Anteil des reichsten Promilles der Amerikaner am gesamten Wohlstand von acht Prozent in den 1970er-Jahren auf aktuell über zwanzig Prozent angestiegen.

Was ist schlimm daran, wenn einige wenige sehr reich sind, und es den anderen auch besser geht?
Die Vermögenskonzentration führt zu Problemen. Sie führt beispielsweise zu einer ebenfalls starken Ungleichheit der Renditen, die aus dem Sparkapital erzielt werden können. Der normale Sparer hat grösste Mühe, überhaupt eine Rendite zu erzielen, bei den Superreichen hingegen beträgt die Rendite nach wie vor durchschnittlich bis zu zehn Prozent.

Werden die Superreichen nicht primär für ihre herausragenden Leistungen belohnt?
Keineswegs. Die meisten grossen Vermögen werden heute nicht erwirtschaftet, sondern geerbt. Die so wichtige Vorstellung für eine Marktwirtschaft – «Leistung lohnt sich» – stimmt heute nur noch bedingt.
Hat dies politische Konsequenzen?
Die riesigen Vermögen werden immer öfters dazu benutzt, um politischen Einfluss zu gewinnen und so wiederum Privilegien zu erhalten.

Mit anderen Worten: Die Demokratie gerät in Gefahr, käuflich zu werden?
Ja, es führt dazu, dass der neue Geldadel seinen Reichtum nicht durch Leistung mehrt, sondern durch so genanntes «Rent seeking», dem Abschöpfen von ungerechtfertigten Privilegien.

VW manipuliert Abgaswerte, Banken Zinssätze: Muss man heute ein Betrüger sein, wenn man im Kapitalismus noch Erfolg haben will?
Das Prinzip des Kapitalismus ist die Gewinnoptimierung. Diese kann auf zwei Arten erfolgen: Auf eine produktive und eine destruktive. Idealerweise gelingt es einem Unternehmer, ein bisher unentdecktes Bedürfnis der Gesellschaft zu befriedigen. Das ist die produktive Art des Erfolges. Destruktiv ist es, wenn man den Wettbewerb drosselt oder sogar unterbindet.

Was heisst das konkret?
Was Sie erwähnt haben: Banken manipulieren Zinssätze oder waschen Geld von Diktatoren aus Entwicklungsländern. Oder Autofirmen erzielen übermässige Gewinne, indem sie Umweltnormen verletzen. Oder multinationale Konzerne erpressen von den Staaten Steuerprivilegien.
Leider ist der destruktive Kapitalismus sehr viel rentabler als der produktive. Ein ehrlicher Unternehmer muss sich mit einer einstelligen Gewinnmarge zufrieden geben. Wer betrügt, kann mit deutlich mehr rechnen.
Der Kapitalismus weckt die Gier, und diese Gier kann nur schlecht mit Moral in Zaum gehalten werden. Damit der Wettbewerb dem Allgemeinwohl dient, braucht es faire und strikte Rahmenbedingungen. Wenn es dem Geldadel gelingt, seinen Reichtum politisch umzusetzen, dann werden auch die Rahmenbedingungen zugunsten der Gier gelockert. Die Verstrickung von wirtschaftlicher und politischer Macht hat fatale Konsequenzen. Das kann man immer wieder in Entwicklungsländern beobachten, aber auch etwa in meinem Heimatland Italien.

Sie wollen trotzdem das Herzstück des Kapitalismus, die Börse, erhalten und fordern einen Aktienmarkt-Sozialismus. Ist das nicht ein Widerspruch?
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Tatsache, dass wir die zunehmende Vermögenskonzentration nicht mit Steuern in den Griff bekommen, wie das beispielsweise Piketty mit einer Kapitalsteuer vorschlägt. Deswegen gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir resignieren, oder wir suchen nach neuen Möglichkeiten. Ich will nicht resignieren und bin auf die naheliegende Möglichkeit gestossen, über eine andere Verteilung der Kapitaleinkommen zu mehr Gerechtigkeit zu gelangen.

Wie soll dies nun geschehen?
Grundsätzlich erwirbt der Staat Aktien, bildet ein diversifiziertes Portfolio und verteilt die Dividenden an die Bürgerinnen und Bürger. So kann jede und jeder – unabhängig von seinen persönlichen Vermögensverhältnissen – von den Renditen der Unternehmen profitieren.
Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Nestlé. In Ihrem Modell übernimmt der Staat die Aktienmehrheit, eine Minderheit bleibt im privaten Besitz und würde wie bisher an der Börse gehandelt werden. Die Dividenden würde der Staat an seine Bürger ausschütten. Verstehe ich das richtig?
Grundsätzlich schon. Mein Vorschlag ist ausführlicher und besteht aus zwei Schritten: Der Aktienmarkt-Sozialismus muss vorsichtig und in kleinen Schritten eingeführt werden. Beim ersten Schritt spielt das öffentliche Kapital bei den Unternehmen eine rein passive Rolle. Es verhält sich also wie ein kollektiver Rentier. Dabei sind aber seine Anlageentscheidungen ethisch gebunden, ähnlich wie beim heutigen Staatsfond Norwegens.

Allerdings verwendet er die Dividende anders.
Ja. Sie dient der Finanzierung einer sozialen Dividende, also einer einheitlichen Transferleistung, die jeder Bürger regelmässig auf sein Konto erhält. Wenn dieser Fond gut funktioniert, dann erfolgt der zweite Schritt, die Überführung der Mehrheit des Aktienkapitals in die öffentliche Hand.

Ist das nicht einfach eine Verstaatlichung durch die Hintertür?
Nein, es bedeutet, dass diese Unternehmen im Sinne einer produktiven Gewinnmaximierung geführt werden. Gleichzeitig wird auch die Mitbestimmung in den Unternehmen gefördert. Gewerkschaften, Konsumentenschutz- und Umweltschutzverbände werden als Wachhunde fungieren. Die Dividenden aus dem Staatsfond werden nun als soziale Dividende an alle Steuerzahler zurückverteilt.
Zurück zu Nestlé. Heute schon liegt die Mehrheit indirekt bei der öffentlichen Hand, bei den Pensionskassen und anderen institutionellen Anlegern. Die müssten sie enteignen und würden dann den Rentner bestrafen und den Steuerzahler belohnen.
Die bisherigen Aktionäre werden nicht enteignet. Der Staatsfond kauft die Mehrheit am Markt sukzessive auf. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass dieser Staatsfonds nicht in ethisch zweifelhafte Bereiche investiert, beispielsweise in Waffenhersteller oder ökologisch unverantwortliche Unternehmen. Wenn der Staatsfond die Mehrheit von Nestlé erworben hat, dann wird er auch seine Vertreter in den Verwaltungsrat schicken. Sie werden dafür sorgen, dass das Unternehmen sozial verantwortlich geführt wird, also beispielsweise keine überrissenen Boni an das Management bezahlt.

Wie wollen Sie dann erreichen, dass diese Unternehmen auch effizient arbeiten?
Mit mehr Mitbestimmung der Angestellten und mehr Transparenz. Das erhöht die Loyalität der Mitarbeiter, das wiederum die Produktivität des Unternehmens und so könnten höhere Löhne bezahlt und mehr Gewinne ausgeschüttet werden.

Auch beim Aktienmarkt-Sozialismus müssen die Unternehmen stetig wachsen. Wie verträgt sich das mit dem Gedanken der nachhaltigen Entwicklung?
Die Umweltorganisationen sollen, wie erwähnt, als Wachhunde eingesetzt werden, und sie sollen erleichterten Zugang zu den relevanten Informationen erhalten.
Das wiederum könnte eine Verminderung des Gewinnes zur Folge haben.
Nein, immer mehr Konsumenten achten darauf, dass die Produkte, die sie kaufen, auch ökologisch hergestellt werden. Deshalb muss jetzt VW mit einem riesigen Verlust rechnen. Nachhaltigkeit wird zu einem Erfolgsfaktor auf dem Markt. Generell würde der Aktienmarkt- Sozialismus bedeuten, dass kapitalistische Dominanz aufgehoben wird und Konzerne demokratisch gesteuert werden. Dies würde zur Folge haben, dass der rein materielle Aspekt in Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr so dominant wäre wie heute.

Könnte man das nicht viel einfacher mit anderen Mitteln erreichen, mit Genossenschaften beispielsweise, oder einer Sharing Economy, die auf Tausch beruht?
Es hat viele Versuche gegeben, den Kapitalismus von unten zu verändern, sei es mit Genossenschaften, anderen Geldsystemen, und ähnlichem. Sie sind alle gescheitert. Ich bin aber hoffnungsvoll, dass wir allmählich unseren Lebensstil verändern.

Weshalb?
Weil wir heute genug für alle produzieren. Der Berlusconi-Kapitalismus, die Vorstellung, dass man immer mehr von allem braucht und dass man alles kaufen kann – minderjährige Mädchen, Richter und Politiker – ist ein Anachronismus geworden. Diesem Kapitalismus müssen wir mit einer demokratischen Steuerung einen Riegel schieben.

Was halten Sie von der These, wonach sich der Kapitalismus mit seiner Gratiskultur selbst zerstört?
Das ist bloss eine neue Version des alten Liedes vom Untergang des Kapitalismus, das wir seit hundert Jahren jeden Tag hören. Ich würde mich niemals auf ein natürliches Absterben des Kapitalismus verlassen.

Dieses Interview ist auf watson.ch erschienen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Philipp Löpfe war früher stellvertretender Chefredaktor der Wirtschaftszeitung «Cash» und Chefredaktor des «Tages-Anzeiger». Heute ist er Wirtschaftsredaktor von watson.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

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2 Meinungen

  • am 13.10.2015 um 18:37 Uhr
    Permalink

    Das ist wahrscheinlich ein Wunschtraum, dass sich der Kapitalismus demokratisch regulieren liesse. Kapitalismus ist per se antidemokratisch und zerstörerisch.
    Die Menschen, die den Kapitalismus hervorbringen und am Leben erhalten, könnte man nur ändern, wenn man chirurgisch in ihren DNA-Strang eingriffe. Diese Möglichkeit wird bald praktiziert werden können – aber anders herum: von den Kapitalisten.

  • am 14.10.2015 um 17:57 Uhr
    Permalink

    „Gewerkschaften, Konsumentenschutz- und Umweltschutzverbände werden als Wachhunde fungieren“. Sehr schön. Da können wir uns ja schon mal gefasst machen auf den totalen Big-Brother-Staat. Verblasenes Kapitalismus-Bashing und antiliberale Eingriffe in die Marktwirtschaft haben noch NIE in der Geschichte zu einem allgemein steigenden Wohlstand für alle geführt.
    „Mehr Mitbestimmung der Angestellten (…) erhöht die Produktivität des Unternehmens, was zu höheren Löhnen und Gewinnen führt“. Für diese Aussage möchte ich um ein konkretes Beispiel bitten. Wo ist durch gesetzliche Eingriffe und Vorschriften zur betrieblichen Mitbestimmung die Produktivität eines Unternehmens gesteigert worden? Solche Eingriffe haben stets zu höheren Lohnnebenkosten geführt, die z.B. in Deutschland bereits rund 50% der Löhne betragen. Trotz ausgebauter Mitbestimmung beträgt in Deutschland der BRUTTO(!)-Mindestlohn seit dem 1. Jan. 2015 gerade einmal 8,50 Euro, der in einigen Branchen bis Ende 2017 sogar unterschritten werden darf.
    [https://de.wikipedia.org/wiki/Mindestlohn#Gesetzlicher_Mindestlohn]
    Also: Ein bisschen mehr Realität als unausgegorene Utopien – bitte.

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