«Die Marktwirtschaft hat sich als stabil erwiesen»
Ulrich Woitek hat 1996 an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert. Seit 2004 ist er Professor am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Zürich. Er beschäftigt sich mit konjunkturellen Schwankungen und Wohlfahrtsmessung. Woitek ist Referent an der Tagung Zukunftsfähige Wirtschaftssysteme der Academia Engelberg, vom 14. bis 16. Oktober.
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Ökonomen und Wirtschaftshistoriker streiten sich darüber, ob sich die aktuelle Lage eher mit 1914 oder mit 1933 vergleichen lässt. Wie sehen Sie das?
Ulrich Woitek: Solche Vergleiche finde ich schwierig. Die Phase vor dem Ersten Weltkrieg war sehr stark geprägt von der Globalisierung. Die Dreissigerjahre hingegen standen im Zeichen eines neuen Protektionismus. Es gibt Ähnlichkeiten und Unterschiede zu beiden Perioden.
Gilt also das berühmte Zitat von Heraklit: «Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen»? Mit anderen Worten: Sind historische Vergleiche sinnlos?
Nein. Die Grosse Depression ist ein gutes Beispiel dafür, dass man aus der Geschichte lernen kann.
Was genau hat man gelernt?
2008 hat die Krise zunächst schlimmer ausgesehen als zu Zeiten der Grossen Depression. Das hat sich aber rasch geändert, weil die Politik diesmal richtig reagiert hat.
Waren es nicht vor allem die Zentralbanken, die rechtzeitig eingegriffen haben?
Ich meine Wirtschaftspolitik im weitesten Sinne. Dazu gehören die Fiskalpolitik des Staates und die Geldpolitik der Nationalbanken.
Die Nationalbanken haben massiv Geld in die Wirtschaft gepumpt. Wie man aber jetzt sehen kann, kommen sie nicht mehr von der Politik des billigen Geldes weg.
Das stimmt. Nur, was wäre die Alternative gewesen? Ich sehe keine.
Die umstrittene Politik des Quantitativen Easing (QE) war also die richtige Massnahme?
Ja, als Reaktion auf die Finanzkrise hat es keine Alternative gegeben.
Zyniker sagen: Heute kann man jede Terrororganisation mit Drohnen und jede Finanzkrise mit einem QE bekämpfen. Ist es angesichts der gewaltigen Verschuldung der Staaten wirklich so einfach?
Ohne Kosten hätte sich die Krise nicht bewältigen lassen. Aber jetzt stehen andere ökonomische Probleme an. Die Schuldenkrise ist dabei das dringlichste.
«Der Zyklus ist tot», lautete ein beliebter Slogan in der Boomphase vor der Krise. Die Ökonomen wähnten sich im Gefühl, Rezessionen und Depressionen definitiv im Griff zu haben. Sie haben sich intensiv mit Zyklen befasst. Wie sieht das heute aus?
In Phasen des Aufschwungs macht sich immer wieder die Euphorie breit, die darin mündet, dass man überzeugt ist, man hätte die Zyklen überwunden. Das war beispielsweise in den 1920er Jahren in den USA sehr ähnlich. Auch damals hat man geglaubt, man hätte nun den Konjunkturzyklus verstanden, und auch, was man unternehmen muss, um ihn zu glätten. Vor der Finanzkrise 2008 hat man ebenfalls von der «Grossen Moderation» gesprochen und damit gemeint, der Zyklus sei gebändigt.
Wie hat man das begründet?
Der damalige Präsident der US-Notenbank, Ben Bernanke, hat drei Gründe genannt: Die Geldpolitik, strukturelle Änderungen und Glück. In seiner Position als Fed-Chef hat er natürlich vor allem an die Geldpolitik gedacht.
Aber die Zyklen sind wieder zurück – oder nicht?
Das es Wirtschaftszyklen gibt, ist unumstritten. Ob sie nun fünf, sieben oder zehn Jahre dauern, ändert sich mit der Zeit.
Was halten Sie vom berühmtesten Zyklus, der Kondratieff-Welle, die 50 Jahre dauert?
Dieser Befund ist umstritten, vor allem, weil es an Daten fehlt. Verlässliche Daten über das Wirtschaftssystem gibt es erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Natürlich wird von diesen Daten extrapoliert und zurück gerechnet. Aber das reicht nicht.
Generell hat sich in allen politischen und weltanschaulichen Lagern das Gefühl einer Wendezeit ausgebreitet. Teilen Sie dieses Gefühl?
Ich befinde mich sicher nicht in einer Endzeit-Depression, aber natürlich bin ich der Meinung, dass sich vieles ändern muss.
Was zum Beispiel?
Das Finanzsystem ist viel zu instabil geworden. Da müssen wir sehen, wie wir das in den Griff bekommen. Allerdings sollten wir nicht in eine Überregulierung verfallen und die Komplexität der Regeln im Auge behalten.
Was wäre Ihrer Meinung nach eine sinnvolle Massnahme?
Unter anderem fände ich eine Rückkehr zum Glass/Steagall-Act, dem amerikanischen Gesetz zur Trennung von Geschäfts- und anderen Bankaktivitäten, eine gute Idee.
Wenn wir beim Thema gute Ideen sind: Zur Zeit werden in der Schweiz Unterschriften für eine Vollgeld-Initiative gesammelt. Eine gute Idee?
Das wäre ein Systemwechsel, der die Schöpfung von Kreditgeld der Banken stoppen würde. Ehrlich gesagt: Ich weiss nicht, ob dies eine gute Idee ist.
Oder wir kehren zurück zum Goldstandard. Ist das eine gute Idee?
Im 19. Jahrhundert hatte der Goldstandard seine Vorteile, er garantierte langfristig stabile Preise und Wechselkurse. Der Nachteil liegt darin, dass bei einem Goldstandard die Nationalbanken keine eigenständige Geldpolitik mehr betreiben können, sondern in einem Goldkorsett gefesselt sind.
Ein QE wäre dann nicht mehr möglich.
Genau. Das bedeutet auch, dass sich eine Volkswirtschaft nicht mehr gegen Schocks von aussen schützen kann und hilflos den Launen der Weltwirtschaft ausgeliefert ist. Daher finde ich es keine gute Idee.
Heute spricht man von einer dritten industriellen Revolution. Ist das mehr als ein temporärer Hype?
Nein, es findet ein Strukturwandel statt. Das kann man nicht mehr leugnen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass man sehr viel in das Humankapital, sprich die Ausbildung der Menschen, investiert. Nur so können wir uns flexibel an die neuen Anforderungen der Arbeitswelt anpassen.
Der französische Ökonomen Thomas Piketty stellt in seinem Bestseller «Das Kapital des 21. Jahrhunderts» fest: Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die «goldenen Jahrzehnte» der sozialen Marktwirtschaft, waren eine historische Ausnahme. Jetzt kehrt der Kapitalismus zu seinem ursprünglichen, eher hässlichen Ausbeutungsmechanismus zurück. Wie beurteilen Sie das?
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war sicher speziell. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass wir in Europa wieder in die Zeiten eines reinen Manchester-Kapitalismus zurückfallen werden. Der Sozialstaat hat sich allen Mängeln zum Trotz bewährt.
Es gibt aber Bemühungen, die sozialen Errungenschaften wieder rückgängig zu machen, zumindest teilweise.
Aber es gibt auch sehr grossen Widerstand gegen diese Bemühungen. Ich glaube nicht, dass sich der Sozialstaat wieder zurück entwickeln lässt.
Was ist von der These zu halten, wonach bald 80 Prozent der Arbeitskräfte nicht mehr gebraucht werden, weil sie durch Maschinen ersetzt werden? Wird es in Zukunft sehr viele Hundesitter und Yoga-Lehrer geben?
Die Gefahr ist mittlerweile erkannt, und es gibt keinen Grund, dieser Entwicklung bloss passiv zuzuschauen.
Wie könnte man sich aktiv dagegen wehren?
Wie gesagt, wir werden um das Thema Ausbildung nicht herumkommen.
Andere Massnahmen braucht es nicht, beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen?
Sicher müssen wir über neue Modelle eines Sozialstaats nachdenken und sich überlegen, ob die neuen Herausforderungen nicht auch neue Strukturen und Institutionen brauchen. Ob das Grundeinkommen ein taugliches Mittel ist, weiss ich nicht.
Lässt sich die bestehende Wirtschaftsordnung noch reformieren, oder brauchen wie nicht ein neues System?
Die Marktwirtschaft hat sich als relativ stabil erwiesen. Selbst auf dem Höhepunkt der letzten Krise – die bekanntlich sehr schwer war – wollte niemand ernsthaft das System abschaffen. Daran wird sich so schnell nichts ändern.
Und was ist mit der sich abzeichnenden Klimaerwärmung und deren möglicherweise katastrophalen Folgen?
Das ist ein Riesenproblem, keine Frage. Ich denke aber, dass man auch eine nachhaltige Entwicklung mit Marktmechanismen steuern kann. Wir haben über die Regulierung des Finanzmarktes gesprochen. Auch bei der Umwelt gilt: Mit unüberlegten Regulierungen richtet man mehr Schaden als Nutzen an. Aber ich bin grundsätzlich zuversichtlich, dass sich Lösungen finden lassen.
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Dieses Interview ist auf watson.ch erschienen.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Philipp Löpfe war früher stellvertretender Chefredaktor der Wirtschaftszeitung «Cash» und Chefredaktor des «Tages-Anzeiger». Heute ist er Wirtschaftsredaktor von watson.ch.
Der Herr Woitek wirkt erschreckend hilflos. Auf Löpfes These, wonach «bald 80 Prozent der Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzt werden», fällt ihm bloss dieser Satz ein:
"Wie gesagt, wir werden um das Thema Ausbildung nicht herumkommen.»
Vermutlich meint er, dass 80% der Leute damit beschäftigt sein werden, die kleine Minderheit auszubilden, die noch produktiv arbeitet.
Und die Stabilität der Marktwirtschaft macht er daran fest, dass niemand ernsthaft daran denke, diese abzuschaffen. Klar, wenn niemand denkt, muss man selber auch nicht, selbst wenn man vom Staat eigentlich dafür bezahlt wäre.
Ärgerlich.
Werner Vontobel
…. und er weiss auch nicht, ob Vollgeld eine gute Idee ist, er weiss nicht, ob das bedingungslose Grundeinkommen eine gute Idee ist….
Der Sozialstaat habe sich aber bewährt – weiss denn der Professor, dass dieser Sozialstaat zum grossen Teil durch Abgaben auf Erwerbslöhnen bezahlt wird?
Und hat er eine Vorstellung, wie die sozialen Lasten von den Löhnen entkoppelt werden könnten, für den Fall, dass nur noch wenig Leute eine Erwerbsarbeit finden sollten?
Ja gewiss, Ausbildung ist gut, insbesondere für Professoren.