HELVEZIN1

Wo Leserfreundlichkeit ein Fremdwort ist: Titel-Typographie in HELVEZIN © HELVEZIN

HELVEZIN – Die Zeitschrift für meine Schweiz

Christian Müller /  Ein paar besorgte Schweizer lancieren eine neue Zeitschrift. Die Nullnummer allerdings ist noch kein Anlass für Optimismus.

Wenn im Impressum einer neuen Publikation ein paar Namen aus der Bieler Medien-Szene auftauchen – etwa Mike Sommer, Thorsten Kaletsch oder auch Verleger Marc Gassmann –, ist Aufmerksamkeit angesagt: Zu lebendig noch sind die Erinnerungen ans legendäre «Büro Cortesi» in Biel, aus dem nicht nur die Wochenzeitung «Biel Bienne», sondern auch Medien-High-Flyers wie Frank A. Meyer oder Peter Rothenbühler hervorgegangen sind. Kommt hier in Biel jetzt erneut eine Publikation heraus, beflügelt vom Genius Loci der Stadt Biel, wo die gelebte Zweisprachigkeit für Deutschschweizer «Gschaffigkeit» ebenso sorgt wie für welsche Weltoffenheit? Und das jetzt, im Jahr 2015, wo andere Verlage den Tornado der medialen Digitalisierung kaum durchzustehen vermögen oder bereits pleite gegangen sind?

Also mache ich mich ans Lesen der mir zugeschickten Nullnummer der Zeitschrift – aus Neugier, aus beruflichem und auch aus politischem Interesse. Für einmal wirklich von vorne nach hinten, angefangen beim Namen.

HELVEZIN? Ist das eine Kombi-Kreation aus den Wörtern HELVEtien und MediZIN? Ja, dass Helvetien gelegentlich verarztet werden sollte, ist schon plausibel. Aber ausgerechnet mit einem neuen Magazin? Doch mit dieser Frage und mit dem Wort Magazin fällt auch der Zwanziger: Wahrscheinlich ist HELVEZIN eine Wortkombination aus HELVEtien und MagaZIN, heisst doch der Untertitel: DIE ZEITSCHRIFT FÜR MEINE SCHWEIZ.

Die Zeitschrift für meine Schweiz: Im Normalfall würde ich eine Zeitschrift mit einem solchen Untertitel gleich wieder zur Seite legen. Für meine Schweiz? Wo doch die heutige Schweiz alles andere ist als meine Schweiz! Und wo ich heute doch deutlich mehr Mühe habe als je, mich mit dieser Schweiz, mit dieser Schweiz vielleicht noch meiner Eltern, zu identifizieren? Meine Schweiz: Wenn ich denn etwas zu sagen hätte, sähe sie wahrlich anders aus!

Pessimisten und Bremser, zur Seite!

«Pessimisten und Bremser, zur Seite!» So lautet die Headline über dem Editorial von Herausgeber Beni Lehmann. Da kann ich denn auch lesen, was das Programm der neuen Zeitschrift ist: «Wir machen uns stark dafür, dass sich die Schweiz auch weiterhin als Willensnation konstituiert. () Unser Magazin soll vielmehr eine Plattform für verschiedene Meinungen sein. Ein Projekt für Konsens, Dialog und Respekt.» Ok. Konsens vor Dialog? Und: Als gelernter Historiker bin ich natürlich näher bei Jakob Tanner, der als Wissenschafter an der Uni Zürich dem Begriff Willensnation wenig abgewinnen kann. Man denke etwa an den Wiener Kongress vor 200 Jahren, wo die umliegenden Grossmächte diktiert haben, wie die Schweiz künftig auszusehen hat. Und natürlich wünschte ich mir lieber ein Magazin für mehr Toleranz, für mehr Solidarität – und vor allem für neue Ideen.

Aber ich lese weiter. Constantin Seibt, brilliant wie immer in Argumentation und Formulierung, schreibt über das neugeborene Magazin, «Ob das ‹Helvezin› also funktioniert? Ob es es schafft, zu leben? Das ist die Sache seiner Macher – und von Ihnen als Leser: Wollen Sie es oder nicht?»

Dumm nur, dass ich die Headline über diesem Artikel nicht lesen kann. Siehe Bild oben: Die Titel-Typographie in HELVEZIN ist die reine Katastrophe! Eine per se schon fast unleserliche Schrift, und dazu alles versal, in Grossbuchstaben: eine typographische Todsünde! Wie kann man nur ein neues Magazin unter die Leute bringen wollen, in dem man ausgerechnet die Headlines nicht lesen kann?! Die Headlines, die doch zum Lesen anregen sollten!

(Und wenn wir schon beim sogenannten Design sind: Auch den anderen Kardinalfehler, den Zeitschriften-Layouter machen können, haben sie gemacht, diese HELVEZIN-Nullnummer-Macher: Die Bilder haben keine Legenden – keine Bildunterschriften, wie Bildlegenden in deutschen Redaktionsbüros richtigerweise heissen. Wo man Bildlegenden zuerst irgendwo auf der Seite zusammensuchen muss, ist schneller umgeblättert als gefunden und gelesen.)

Ein Porträt von Guido Fluri: ja gerne

Den solothurnischen Unternehmer Guido Fluri vorzustellen, den Self-made-Man und Multimillionär, der unendlich viel Geld in eine Stiftung gesteckt hat, die sich im Sozial- und Gesundheitsbereich engagiert, ist eine gute Idee. Ihn aber anhand eines Zwiegesprächs ausgerechnet mit Peach Weber aus dem Aargau vorzustellen, der sein Geld mit Blödeleien auf unterstem Niveau verdient? Ist das der Konsens, der gemäss Editorial angestrebt wird? Der Konsens zwischen Geld, Geist und Gopfertori-Geplauder?

Man liest vergrault weiter. Immerhin finden sich da auch noch Artikel von Autoren, die wie fast immer lesenswert sind – etwa Peter Krebs mit eine Glosse oder Willi Wottreng mit einem Appell für Toleranz gegenüber Minderheiten. Auch ein paar andere Texte kann man lesen, so man denn noch mag.

Auch ein Patronat gibt es schon

Drei rot hinterlegte Seiten der Nullnummer von HELVEZIN werden dafür verwendet, 10 der 23 Mitglieder des Patronats vorzustellen, darunter etwa Prof. Dr. Thomas Cottier mit dem Satz: «Helvezin wird eine wichtige Lücke füllen». Oder die Politologin Regula Stämpfli mit dem Werbespruch: «Helvezin – das Plädoyer für viele unterschiedliche Stimmen.» Und weitere zwei Seiten, ebenfalls rot unterlegt, dienen der Werbung für einen Trägerverein für HELVEZIN. Der Mitgliederbeitrag beträgt 120 Franken im Jahr, ein Abo auf HELVEZIN immerhin inklusive.

Guter Wille, Engagement und viel Arbeit

Gewiss, die Initiative von Beni Lehmann, dem Herausgeber, als Reaktion auf den 9. Februar 2014 ein neues Magazin zu gründen, ist lobenswert. Jeder Versuch, in diese mehr und mehr von rechts aussen auf Abschottung getrimmte Schweiz ein wenig Offenheit zu bringen, ist grundsätzlich unterstützenswert. Aber reicht guter Wille? Die Lancierung einer neuen Zeitschrift verlangt auch eine gewisse Professionalität. Krasse Fehlleistungen wie etwa jene des Designs sind beste Voraussetzungen für einen Fehlstart.

Guter Wille schafft Goodwill…

Immerhin, auf Goodwill scheint HELVEZIN zählen zu können.
Im Journal B in Bern etwa konnte man einen doch ziemlich wohlwollenden Artikel über HELVEZIN lesen. Zitat: «Die Null-Nummer ist ein ansprechendes, 68-seitiges Probestück mit grosszügigen Bildern in Farbe.»

Im Bieler Tagblatt prophezeit der Rezensent künftig mehr Tiefe: «Die Nullnummer des Magazins zeigt, in welche Richtung es publizistisch gehen soll: Darin findet sich beispielsweise eine Fotoreportage von einem Bauernbetrieb im Jura, ein Hintergrundtext zur Raumplanung, ein Interview mit Komiker Peach Weber und Unternehmer Guido Fluri oder Porträts von Einwanderern (). Wer denkt, die ‹Helvezin›-Macher agierten allein aus politisch linker Perspektive, der irrt: In der Nullnummer erhält etwa auch der Schaffhauser SVP-Ständerat Hannes Germann eine ‹carte blanche›. – Die Pilotnummer soll das Spektrum aufzeigen, inhaltlich geht noch nicht jeder Beitrag in die Tiefe, die sich Beni Lehmann vorstellt. Ab dem nächsten Juli sollen die regulären Ausgaben erscheinen, die idealerweise 100 Seiten oder mehr enthalten und jeweils einem Schwerpunktthema gewidmet sind. Das erste lautet ‹Die Welschen›.»

Wer sich HELVEZIN selber anschauen will, kann das Magazin als pdf unter helvezin.ch herunterladen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Christian Müller war 25 Jahre journalistisch tätig und 20 Jahre als Verlagsmanager und Berater. Seit Anfang 2014 ist er ehrenamtlicher Chefredakteur der deutschen Vierteljahreszeitschrift DIE GAZETTE.

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Eine Meinung zu

  • am 24.08.2015 um 20:20 Uhr
    Permalink

    … na, nur grad wohlwollend war Fredi Lerchs Rezension im «Journal B» denn auch wieder nicht. Zitat: «Eher ist «Helvezin» ein verdruckster linksliberaler Impuls von unten. Es ist, als solle mit dieser Zeitschrift publizistisch moderierte Mediation als Gesellschaftspolitik erfunden werden, als würden die sich verschärfenden Verteilkämpfe mit einer gepflegten Gesprächskultur aus der Welt geschafft."
    Ich habe die Nullnummer auch erhalten, mit mässiger Begeisterung gelesen – und warte nun mal ab. «Abwarten» werden wohl auch die meisten anderen potenziellen Abonnenten, womit das Schicksal des Projekts schon fast besiegelt erscheint …

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