«Ich bin nicht stark. Ich bin wütend»
Drei Jahrzehnte lang war es so, als habe sich der Feminismus erledigt. Die Schriften von Simone de Beauvoir oder Alice Schwarzer blieben für manche zwar unverändert gültig, schienen aber trotzdem hoffnungslos aus der Zeit gefallen. Überraschend viele hielten die Forderungen von damals in der Gegenwart gar für längst erfüllt. Dann kam Laurie Penny.
Penny, 1986 in London geboren, überwindet die postfeministische Orientierungslosigkeit mit einer neuen Sprache und gibt damit der feministischen Bewegung mit der revolutionären Wucht der Wut und des Mitgefühls die verlorene Dringlichkeit zurück. Ihre Utopie ist eine Kampfansage: Sie fordert dazu auf, eine Gesellschaft, in der es so viele Geschlechteridentitäten wie Menschen geben darf, mit den Waffen der Solidarität zu erkämpfen.
Laurie Pennys 2011 erschienenes Buch «Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus» war ein Bestseller, ihr neustes Werk «Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution» elektrisiert das Publikum auf ihren Lesetouren. Seit sie 2007 das Literaturstudium in Oxford abgeschlossen hat, arbeitet sie als Reporterin für die britische Zeitung «The Indepentent», schreibt unter anderem regelmässig für «The Guardian» und findet grosse Beachtung auf Twitter unter @PennyRed.
Für das Strassenmagazin «Surprise» hat sich Laurie Penny anlässlich ihrer Lesetour in Berlin für ein ausführliches Gespräch Zeit genommen; Infosperber publiziert das Interview in der ungekürzten Version.
«ES IST NICHT DEINE SCHULD, DASS DIE WELT AM ARSCH IST»
Laurie Penny, in deinem Buch sagst du, die Revolution beginne in der Phantasie, es endet mit den Worten: «Schliesst die Augen. Blättert um. Fangt an». Womit?
Es geht darum, sich die Utopie einer besseren Welt vorzustellen. Oder wie wir die Dystopie einer Welt überleben, in der die Menschen verrückt spielen und alles schief geht. Selbst wenn du nicht politisch bist und dich aus allem raushalten willst, schreibst du an der Zukunft mit. Deshalb ist es so wichtig, deine Phantasie zu wecken, dass alles auch anders sein könnte.
Phantasie als Mittel gegen Apathie?
Es geht darum, die Geschichte zu schreiben. Wenn wir sie nicht selber schreiben, schreiben sie andere für uns. Ich meine das ganz konkret: Geschichten von Frauen, von Minderheiten und Unterdrückten, sind gefragte Geschichten, weil sie bisher nicht erzählt worden sind. «Orange is the new black», derzeit meine Lieblings-Fernsehserie, ist ein gutes Beispiel für die grosse Veränderung in der TV-Kultur. Keine der Geschichten dieser Serie ist besonders innovativ. Erstaunlich aber ist, dass die Serie Geschichten erzählt, die im Mainstream nie erzählt worden sind. Die Serie spielt im Frauengesfängnis, handelt von Armen, Schwarzen, Latinas. Ihre Schicksale fügen sich zu einem massiven grossen Ganzen zusammen, einem Gesellschaftsroman.
Woher dieses Vertrauen in die revolutionäre Kraft der Erzählung?
I’m a huge nerd. Ich lese und schaue viel Science Fiction, habe mich im Studium mit feministischer Science Fiction auseinandergesetzt. Eines der interessantesten Bücher ist «Nacht der braunen Schatten» von Katharine Burdekin. Eine ziemlich simple Geschichte über das Tausendjährige Reich nach Hitlers Triumph im Zweiten Weltkrieg. Die Juden sind ausgerottet und die Frauen zu Gebärmaschinen versklavt. Man liest es und denkt: this is cheesy, eine billige Story. Aber nein, nein, nein! Das Buch erschien 1937, bevor alles wirklich losgegangen ist, und Burdekin war eine der ersten, die sich wirklich vorstellte, wie schrecklich schief das alles gehen wird. Feministische Science Fiction ist sehr vorausschauend und auch immer politisch. Wer daran glaubt, dass das Geschlecht nur ein gesellschaftliches Konstrukt ist, schreibt über eine andere Zukunft als jemand, der glaubt, wir hätten mit der heutigen Welt die höchste Entwicklungsstufe erreicht.
Warum ist das wichtig?
Es ist doch komisch, wie sich im goldenen Zeitalter der Science Fiction männliche Autoren die unglaublichsten Technologien und die unglaublichsten Gesellschaftsformen vorstellen konnten, aber eine Zukunft, in der Frauen eine andere Rolle spielen als Hausfrauen zu sein oder Prinzessinnen, Dienerinnen oder Prostituierte, haben sie nicht hinbekommen. Dieses Versagen der Vorstellungskraft ist das, was es zu bekämpfen gilt.
Durch das Umschreiben der Heldinnenrollen in der Popkultur?
Es gab bis vor kurzem nur drei Heldinnenmodelle: Das Schätzchen, die Trophäe und die starke Frau. Und die starke Frau ist immer alleine, weil eine starke Frau nicht mehr sein kann als eine starke Frau. Mir wird derzeit diese Rolle der starken Frau zugeschrieben.
Bist du es nicht?
Absolut nicht. Ich bin ein sensibler Mensch, arbeite hart, liebe das Nachdenken und bin manchmal mutig, aber stark bin ich nicht. Mit starken Frauen sind immer Frauen gemeint, die Widrigkeiten stoisch ertragen, aber das Patriarchat nicht herausgefordert haben. Ich bin ich nicht stark. Ich bin wütend.
Kannst du das erklären?
Männer sagen oft zu mir: Ich liebe Frauen, ich liebe meine Mutter, meine Mutter war eine starke Frau. – Was meinen sie damit genau? Meine Mutter hat sich über ihre Situation nie beklagt, sie konnte nicht, das Risiko war für sie zu gross. Und ich denke mir: Wow, guys, you’ve completely misunderstood what women’s liberation is about! Das macht «Orange is the new black» so brillant: Die Serie erzählt vom Überleben in Patriarchat und Rassismus. Da werden so viele verschiedene Möglichkeiten erzählt, wie Menschen überleben, auch wenn der Kapitalismus auf sie scheisst: einige sind manchmal stark, manche oftmals schwach, und einige von ihnen sind einfach nur schreckliche Menschen. Wegen der Dinge, die sie erlebt haben, die ihnen widerfahren sind. Das ist die Realität.
Will heissen: Auch wer nicht stark ist, vielleicht manchmal sogar schrecklich, braucht Solidarität?
Hier geht es weniger um den Feminismus als um die Linken. So viele Menschen engagieren sich auf der linken Seite. Aber sie messen der Selbstsorge zu wenig Bedeutung zu und kümmern sich nicht umeinander. Überleben ist der erste Schritt, und ja, das haben viele Linke vergessen. Das ist der Grund, warum die Queer-Bewegung so viele Siege errungen hat, trotz all der Scheisse, in die sie geworfen wurde, inklusive Aids. Sie hat das Bewusstsein verbunden, dass kollektives Überleben nicht ein Nebenprojekt ist, sondern das Projekt an und für sich. Ich halte dieses Bewusstsein für sehr wichtig und glaube, dass der Feminismus die Linken daran erinnern kann. Aufeinander acht geben ist ein wichtiger Akt der politischen Wohlfahrt.
Was ändert das?
Wir überwinden damit das System noch nicht, aber wir schaffen die Voraussetzungen dafür. Es ist der erste Schritt. Wir wissen längst, dass das schöne Leben im falschen Leben nicht existiert, nicht einmal in der Schweiz. Ich komme aus London, wo Wohlstand unglaublich ungleich verteilt ist. Wer kann, entscheidet sich gegen ein aktivistisches Leben, gründet eine hübsche Familie und pflegt einen eigenen kleinen Garten. Aber damit gehen die Angst und der Schmerz nicht weg. Das einzige, was sich ändert: Jene, die keine Wahl haben, bleiben alleine zurück. Eine Freundin von mir, eine Aktivistin, hat gerade ein Kind bekommen. Sie sagte zu mir: Ich werde immer arm sein, und mein Sohn wird immer arm sein. Und ich weiss ganz genau, dass das stimmt. And it kills me!
Was also tun?
Ich lebe in einer Gemeinschaft von 12 Menschen, es ist eine Gemeinschaft für arme Leute. Das Haus, in dem wir leben, ist ein altes Lagerhaus, und es mag komisch klingen, aber die Dusche geht dauernd kaputt. Dafür bleibt die Miete, geteilt durch zwölf, für alle bezahlbar. Dieser Ort entstand aus Notwendigkeit, es war kein politisches Projekt. Wir haben einen lebenswerten Platz gebraucht, wo wir Spass haben und uns austauschen konnten. Daraus entstand ein Ort der Achtsamkeit. Wir betreuen immer wieder junge Menschen in Not bei uns, die von überall herkommen. Für sie halten wir bei uns einen Raum frei, in dem sie für ein paar Wochen bleiben können, um wieder auf die Beine zu kommen. Das ist wundervoll und für mich ein Weg, Politik zu machen. Sich Raum schaffen, Ideen austauschen und eine gemeinsame Sprache finden ist das, was ich aus der Occupy-Bewegung mitgenommen habe. Daran habe ich gedacht, als ich hier in Berlin am Gedenkzug für die toten Flüchtlinge im Mittelmeer teilgenommen habe.
Warum?
Ich habe keine einzige der Reden verstanden, was nicht nur an der Sprache lag, ich verstehe linke Reden auch auf Englisch nicht. Nach fünf Minuten dachte ich: Come on! Da kamen etwa 2000 Menschen für eine Demonstration zusammen, aber alle standen in kleinen Gruppen beieinander, ohne miteinander zu reden. Und auf der Bühne redeten Politiker schlecht über andere Politiker. Deshalb können Proteste so unwirksam sein. Wirklicher Protest ist so viel mehr als nur das Senden einer Botschaft. Sonst endet Protest wie beim Ausfüllen der Steuererklärung mit dem Gefühl, etwas erledigt zu haben – statt wirklich zu wollen.
Ist Austausch so wichtig, weil Austausch zu einer gemeinsamen Sprache führen kann?
Es geht auch darum, eine gemeinsame Sprache zu finden, ja. Wir haben definitiv ein grosses Propaganda-Problem. Ich sehe das an der Kritik, die ich von links erhalte: ich sei zu populistisch, nicht ausreichend theoretisch. Ich achte sehr auf meine Sprache, darauf, nicht beleidigend zu sein, aber was ich sage, muss deshalb nicht schwierig zu verstehen sein. Die Bedeutung von cool sein wird unterschätzt, obwohl sich auch in der linken Bewegung alles darum dreht, cool zu sein.
Linke neigen dazu, sich wegen minimaler Unterschiede zu bekämpfen, Kommt deshalb oft keine gemeinsame Sprache zustande?
Es gibt tatsächlich diese Tendenz, jemanden nicht zu unterstützen oder nicht in seinem Namen sprechen lassen zu wollen, weil er die falschen Stiefel trägt oder den falschen Haarschnitt hat. Es gibt immer noch Leute, die denken: Oh, ich kann nicht Feministin sein, weil ich gerne Nagellack trage! Ich glaube, Feminismus sollte nicht so sein, aber ich sehe, dass dieser Ruf nicht unberechtigt ist, weil tatsächlich viele Linke so denken. Ich bin übrigens viel berühmter hier in Berlin oder in Zürich als zu Hause in Grossbritannien.
Weil die Prophetin im eigenen Land nichts gilt?
Ich hätte mein Buch auf Erfolg hin schreiben können, mit weniger Marxismus und mehr privaten Sexgeschichten. Das habe ich nicht gemacht und bin vom Erfolg überrascht. Jetzt müsste die Frage ja sein: Was können wir daraus machen, dass jemandem wie mir ein Megafon in die Händen gegeben wird? Aber ich spüre vor allem viel Kritik, like: you’re doing it just for yourself. Dabei ist doch alles, was ich tun kann, mir meines Privilegs bewusst zu sein und vielleicht noch: try not to be a dick.
Du kommst nicht aus der Unterschicht, hast in Oxford studiert und bist erfolgreich. Zielt die Kritik nicht darauf, dass du dir als privilegierter Mensch anmasst, im Namen der Armen und Unterdrückten zu sprechen?
Can I be super arrogant for a second? Was ich wirklich gut kann, ist schreiben. Das ist mein Instrument. Ich bezeichne mich zuallererst als Schriftstellerin und Journalistin. Wenn ich nicht über Feminismus schreiben würde, würde ich über ein anderes Thema schreiben, und auch da würde ich dafür sorgen wollen, dass meine Geschichten möglichst viele Menschen erreichen. You choose your weapons so you’re most effective.
Aber was ist mit den Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, ihre eigene Geschichte zu schreiben?
Das ist doch genau, wofür Journalismus da ist. Im Gespräch mit Menschen zu sein, die dieses Instrument oder diese Plattform nicht haben, und deren Geschichten erzählen. Sich nicht Geschichten von anderen anzueignen, um sie zu seiner eigenen zu machen oder sie verfälscht darzustellen, ist eine Schwierigkeit. Wer politische Geschichten schreibt, muss natürlich aufpassen, nicht anmassend zu sein, aber wer sich entscheidet, diese Geschichten nicht zu schreiben, muss aufpassen, nicht komplett irrelevant zu sein. Ich glaube, dass es darum geht, das Risiko einzugehen, Fehler zu machen. Stelle viele Fragen und sei darauf vorbereitet falsch zu liegen. Aber tu was!
Zurück zu den Menschen ohne deine Waffe, das Schreiben.
Gibt es sie denn wirklich noch? Es gibt heute so unendlich viele Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen, die es vor wenigen Jahren noch nicht gegeben hat. Selbst wer kein Dach über dem Kopf hat, kann einen Blog starten und ist potenziell mit Millionen Smartphones verbunden. Bis vor kurzem lief es doch nur so, wenn man etwas zu sagen haben wollte: Man studierte in Oxford oder Cambridge, knüpfte Kontakte, wurde zuerst Journalist und dann Kommentator, dem ein öffentliches Urteil erlaubt ist. Das ist vorbei. Jeder Videoblog oder Podcast von jeder und jedem kann morgen einschlagen.
Das heisst: Alle haben das Werkzeug, ihre eigene Geschichte zu schreiben?
Ja, jeder, der ein Smartphone hat, hat auch das Werkzeug. Ich kenne Leute, die buchstäblich nichts haben ausser einer Matratze in einer Abstellkammer – und einen Laptop. Viele dieser Leute verstehen noch nicht, wie viel Macht sie damit haben.
Die Menschen glauben doch einfach nicht mehr daran, etwas verändern zu können. Der Sieg des Neoliberalismus: jede und jeder sucht den Grund für das Scheitern bei sich selbst – und wird entmutigt.
Das ist die grosse, verheerende Erzählung, mit der unsere Generation aufgewachsen ist: der Kapitalismus ist ein Naturgesetz, es gibt keine Möglichkeit, die Gesellschaft zu verändern. Wenn du scheiterst, musst du dich ändern. Wenn du arbeitslos bist oder depressiv, ist das deine Schuld. In Grossbritannien haben wir massive Probleme mit Arbeitslosigkeit und noch viel grössere Probleme mit den Working poor, die zwar arbeiten, aber nicht genug verdienen, um davon zu leben. Jetzt werden sie in den Jobcentern von Psychologen betreut, so als wäre Arbeitslosigkeit ein psychologisches Problem und keine Frage des Systems. Dass die Menschen das zu glauben begonnen haben, ist eines der ganz grossen Probleme.
Dein neues Buch hat das Potenzial, dieses Denken aus den Köpfen zu bringen. Erklärt das seinen Erfolg?
Die Botschaft des Buches ist: It’s not about you! Egal, ob du glücklich oder frustriert bist, es geht nicht um dich, sondern um kollektives Handeln. Zu realisieren, dass es nicht deine Schuld ist, dass die Welt am Arsch ist, ist sehr befreiend.
Aber wie bringt man die Menschen in Bewegung?
Leute, die sich gegen das Kämpfen stellen, weil es in so vielerlei Hinsicht einfacher ist, das Leben zu akzeptieren, wie es ist, selbst wenn es ein unglückliches Leben ist, dafür aber ein sicheres Leben – ja, die sind schwierig dazu zu bewegen, das Risiko eines Umdenkens einzugehen. Es ist anstrengend, macht Angst und es kann dich isolieren, was es so wichtig macht, sich dafür mit anderen Menschen zu verbünden.
In der Schweiz stellt sich die Frage: Wie werden aus gesättigten Menschen hungrige oder wütende Menschen?
Geht ihr häufig shoppen? Mir ist aufgefallen, dass Zürich voller Geschäfte ist und einkaufen eine Haupttätigkeit zu sein scheint (lacht). Die Wahrheit ist doch: You’ll never have enough stuff to fill the hole. Egal, ob in deiner Karriere oder deiner Idee von romantischer Liebe, es wird nie genug sein, weil nicht vorgesehen ist, dass es je genug ist. Selbst wenn du erkannt hast, dass es grössere, wichtigere und vor allem andere Dinge gibt als noch mehr Kleider kaufen, romantische Liebe oder Schönheit, kannst du diesem Sog nach noch mehr kaum entkommen. Das ist sehr beängstigend.
Welche Strategie verfolgst du bei Menschen, die sich gegen dich und deinen Aufruf zur Meuterei stellen?
Mitgefühl. Wut gewürzt mit Mitgefühl.
Mitgefühl?
Es ist wichtig, Menschen bei aller Wut mit Mitgefühl zu begegnen. Ich verstehe, dass viele Leute nicht wollen, dass ich meine Arbeit mache. Ich verstehe aber auch, dass viele Aktivistinnen keine Lust haben, meine Arbeit zu machen. Sie haben jahrelang hart und oftmals einsam für Veränderung gekämpft, und dann kommen gleichgesinnte junge Männer und fragen: Wie lerne ich das? Und sie antworten: Fuck off! Ich reagiere nicht so, weil es meine Arbeit ist, zu vermitteln. Und weil es bisher kein Mann getan hat, schreibe ich jetzt an einem feministischen Männerbuch.
Was ist die Idee des neuen Buches?
Ich werde als Kummerkastentante Fragen von Männern beantworten, die ich zugeschickt erhalte.
Fragen wie: Kann ich als Mann Feminist sein?
Der Klassiker. Was wären eure Fragen?
Muss ich ein Sexist sein im Bett?
Good one.
Am Ende deines Buches schreibst du, dass wir unsere Geschichte nicht nur selber schreiben müssen, sondern auch, dass wir Geschichten umschreiben müssen. Wie meinst du das?
Ebenso wichtig wie das Schreiben neuer Geschichten ist das Umschreiben all dieser alten Geschichten über Liebe, Gemeinschaft und Macht. Ich werde oft gefragt, ob das ein neuer Feminismus sei, den ich vertrete. Nein, ist es nicht, es sind die gleichen Fragen, vielleicht in einer anderen Sprache formuliert als derjenigen von Simone de Beauvoir. Es gibt viele neue Fragen, Probleme äussern sich auf neue Weise, aber die alten Probleme sind immer noch nicht gelöst. Das ist die Herausforderung für den Feminismus, überhaupt für linke Anliegen: zu versuchen, die gleichen Dinge zu sagen, wie sie immer schon gesagt worden sind, aber auf eine neue und spannende Art, die auch verstanden wird.
Wenn wir am Ende dieses Gesprächs fragen, was deine drei wichtigsten und dringlichsten Fragen sind, was antwortest du?
That’s a big question! Okay, ich versuche es. Erstens: Wie überleben wir die Zukunft, ohne uns gegenseitig umzubringen? Damit meine ich nicht nur gesellschaftlich, sondern auch in der Liebe. Zweitens: Wie schaffen wir reproduktive Gerechtigkeit? Und drittens: Wie bekämpfen wir Vergewaltigungen?
Wie gehst du um mit dem Glück, ein privilegiertes Leben leben zu können, ohne Angst zu haben, deine Wut zu verlieren?
Jeder ist berechtigt, glücklich zu sein. Es ist wichtig zu lernen, sein Glück zu akzeptieren. Try it. Your anger will always flame up and come back again.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Das Interview erschien zuerst im Strassenmagazin "Surprise".
Mit einem Literaturstudium im Kopf und Wut im Bauch soll man die Gesellschaft vorwärts bringen können?! Das glaubt allerdings auch der IS aufgrund gründlichen Koranstudiums. Diese mittelalterliche Haltung ist leider sehr verbreitet und ist ebenso erbärmlich wie erschreckend. Penny ist eine herrliche Vertreterin dieser Gattung! Die typischen Infosperber-Journis reihen sich da bestens ein, nicht wahr Frau Walter Kohl und Herr Moser? Ihre Haltung kommt in den Fragen ebenso deutlich zum Ausdruck wie ihre Ignoranz, z.B. mit dem heiss geliebten Agitprop-Begriff «Neoliberalismus». Nur schon ein Blick auf eine Wiki-Definition würde ausreichen (https://de.wikipedia.org/wiki/Neoliberalismus), um Sie vor grösserer Dummheit zu schützen; aber Sie wollen diesen Kampfbegriff wahrscheinlich nicht aus der Hand geben.
„Ich werde als Kummerkastentante Fragen von Männern beantworten, die ich zugeschickt erhalte.“
Wie muss man sich das jetzt genau vorstellen?
"Wie bekämpfen wir Vergewaltigungen?"
Kampf ist doch althergebracht ein maskuliner oder noch eher «macho"-Begriff. Wenn Feministinnen zu «kämpfen» beginnen, übernehmen sie vom Mann genau diese Eigenschaft, die auf dieser Welt am meisten Unheil anrichtet. «Kampf» ist das Mittel, sich mehr Macht anzueignen als man dem Gegner zugestehen will, (wenn man ihm solche überhaupt zugestehen will..!)
"Macht» ist aber eine Eigenschaft, die sich am Schlechtesten auswirkt, wenn sie mit Kampf erzwungen wurde.
Kann man Vergewaltigung mit «Kampf» » aus der Welt schaffen? Wenn schon, dann eher mit «BE-kämpfung» von allem, was echter Liebe entgegensteht. Das heisst also mit allem, was nicht mit «Kampf erkämpft» werden muss.
Das Grundübel des Feminismus, sich alles «erkämpfen» zu wollen, was sie dem Manne gegenüber unterlegen erscheinen lässt.
Aristoteles, geboren 384, gestorben 322 vor Chr., erklärt sehr schön „ … Die einzig wirkliche Freundschaft ist die Selbstliebe, womit nicht etwa Selbstherrlichkeit, Narzissmus, Egoismus gemeint ist, sondern vielmehr die Entwicklung und der Aufbau einer sittlichen Persönlichkeit. Liebt ein Mensch sich selbst, wird sich diese Liebe im besten Fall schliesslich auch und im selben Masse auf andere Menschen richten.“ …
Quelle: Die Gazette, Nr. 45, D. Hoffacker, Zu Freundschaft und Demokratie
Frauen sind mehrheitlich sozialere Wesen; was wären wir Männer ohne sie! Ich wünsche mir so sehr, dass wir Schweizerinnen und Schweizer bei den Wahlen im Herbst Persönlichkeiten wählen, welche die Inschrift in der Kuppel des Bundeshauses “unus pro omnibus, omnes pro uno”, “Einer für alle, alle für einen” beherzigen und befolgen wollen.
Zu meinem obigen Bericht möchte ich noch erklärend beifügen, dass ich unter «bekämpfen» das Gegenteil von «kämpfen» verstehe, also einen Vorgang, der nicht aus Kampf besteht, sondern aus allem anderen als aus Anwendung von Gewalt. Wenn die Feministin Laurie Penny dies auch so meint, gehört sie zu jener Sorte Feministinnen, die mir nicht zuwider sind. Nur müsste sie eben nicht eine Missetat als solche bekämpfen, sondern Dinge mit allen andern Mitteln zu ändern versuchen als mit Kampf, wenn sie zu dem geändert werden sollen, was man als richtig erkennt.
Dazu ein weiser Spruch:
"Alles, was den Menschen groß gemacht hat, ist aus dem Versuch entstanden, das Gute zu festigen, und nicht aus dem Kampf, das Schlechte zu verhüten."
Bertrand Russell