Authentische Politiker mischen die Etablierten auf
«Authentisch» gemäss Duden: echt; den Tatsachen entsprechend und daher glaubwürdig.
Bis vor kurzem war Jeremy Corbyn ein liebenswerter Hinterbänkler der britischen Labour Party. Der 66-jährige Abgeordnete aus dem Londoner Wahlkreis Islington North gilt als kauzig: Er ernährt sich vegetarisch, kauft seine Kleider auf dem Wochenmarkt und wird dafür gerne belächelt.
Bewundert wird er hingegen für seine Prinzipien. Jeremy hat seine Frau verlassen, weil sie die gemeinsamen Kinder auf eine Privatschule schicken wollte. Er hat sich schon in den 1980er Jahren für die Freiheit für Nelson Mandela eingesetzt, ebenso für die fälschlicherweise wegen eines Attentats verurteilten IRA-Mitglieder. Und er hat nie ein Hehl aus seinen Sympathien für die Hamas und die Hizbollah und seine Abneigung gegen die Politik der Israeli gemacht.
Mehr als 500 Mal gegen eigene Partei gestimmt
Kurz: Jeremy Corbyn ist «authentisch». Seit Jahrzehnten vertritt er die gleichen Prinzipien – höhere Steuern für Reiche, die Verstaatlichung der unter Margaret Thatcher privatisierten Eisenbahnen – und scheut sich nicht, auch gegen die eigene Partei anzutreten. Mehr als 500 Mal hat er gegen die Richtlinien der eigenen Partei gestimmt.
Vom Hinterbänkler hat sich Corbyn in kürzester Zeit zum Kronfavoriten für den Posten des neuen Parteichefs gewandelt. In den Umfragen unter den Labour-Mitgliedern erzielt er bei weiten die höchsten Werte, und auch die Gewerkschaften setzen auf ihn. Authentizität ist eine sehr gefragte politische Währung geworden. «Corbyn ist sexy» zitiert die «Financial Times» eine Labour-Frau. «Er ist sexy in der Art der Menschen, die an Prinzipien glauben.»
«Eine Lektion für alle Politiker»
Die Führung der Labour Partei ist ob der neuen Popularität des authentischen Hinterbänklers entsetzt. Ein ehemaliger Vertrauter von Tony Blair erklärt unumwunden, jeder, der für Corbyn stimme, sei «ein Vollidiot». Der gemässigte Abgeordnete John Woodcock jammert, Corbyn habe «keine Hoffnung in der Hölle, um je Premierminister zu werden».
Die gemässigten Labour-Politiker fürchten eine Wiederholung der 1970er Jahre. Damals führten die «loony left» (durchgeknallte Linken) – Trotzkisten und militante Gewerkschafter – die Partei in eine jahrzehntelange Isolation. Erst mit Tony Blair und seinem sehr gemässigten New-Labour-Kurs gelang es 1996, wieder an die Macht zu kommen.
Doch die heutigen Umstände sind völlig anders. Corbyn trifft den linken Zeitgeist, wenn er mit Seitenblick auf die deutsche und französische Linke sagt: «Ich war in Griechenland und in Spanien. Es ist interessant, dass die sozialdemokratischen Parteien, welche sich der Austeritätspolitik unterwerfen, massiv an Mitgliedern und Wählern verlieren.»
Selbst die Konkurrenz ist inzwischen aufgewacht. Boris Johnson, Bürgermeister von London mit Ambitionen auf das Amt des Premierministers, erklärt unumwunden: «Jeremy Corbyn wirkt leidenschaftlich und prinzipientreu. Das ist eine Lektion für uns alle in der Politik.»
Donald Trump: Enfant terrible der Republikaner
Auf der anderen Seite des Atlantiks erteilt Donald Trump die gleiche Lektion seinen Parteifreunden. Auch er ist auf seine spezielle Art authentisch. Nicht zufällig führt er in allen Umfragen das Feld der republikanischen Kandidaten an. Zwar wechselt er seine Meinung wie andere Menschen ihre Unterwäsche, aber er bleibt dabei seinem Stil treu – und er ist auf niemanden angewiesen.
Das hat sich gerade am vergangenen Wochenende gezeigt. Die Koch-Brüder haben die republikanischen Präsidentschaftskandidaten zu einer geheimen Versammlung – die Teilnehmerliste wird nicht bekannt gegeben – nach Kalifornien beordert. Weil die beiden Erdölmilliardäre jeweils hunderte von Millionen Dollar an erzkonservative Kandidaten verteilen, sind die meisten brav diesem Appell gefolgt.
Nicht so Donald Trump. Er ist selbst Milliardär und braucht das Geld der Koch-Brüder nicht. «Ich wünsche allen republikanischen Kandidaten, die nach Kalifornien gereist sind, um dort um Geld bei den Koch-Brüdern zu betteln, viel Erfolg», spottete er und bezeichnete sie in einem Tweet als «Marionetten».
Ob links oder rechts – Authentizität ist derzeit hoch im Kurs. Wie viel diese Währung letztlich wert ist, wird sich weisen. Vielleicht spült sie eine neue Art von Politikern an die Spitze. Vielleicht handelt es sich um einen vergänglichen Polit-Hype. Oder um es mit Shakespeare und Macbeth zu sagen: «Es ist eine Geschichte, die von einem Idioten erzählt wird. Sie ist voller Klang und Wut, aber ohne jegliche Bedeutung.»
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Dieser Beitrag ist auf watson.ch erschienen
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Philipp Löpfe war früher stellvertretender Chefredaktor der Wirtschaftszeitung «Cash» und Chefredaktor des «Tages-Anzeiger». Heute ist er Wirtschaftsredaktor von «Watson.ch».