Mongolei: Nomaden sind Opfer des Wirtschaftsbooms
Die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion anfangs der 1990er-Jahre gegründete Republik Mongolei hat sich vom teilweise rigiden stalinistischen Kommunismus befreit und zu einer recht stabilen Demokratie entwickelt. Betrachtet man die nackten Wirtschaftszahlen, hat sich auch der Übergang von der sowjetisch geprägten Plan- zur kapitalistischen Marktwirtschaft gelohnt. Das Brutto-Inlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung betrug 2014 nominal 4000 und kaufkraftbereinigt (PPP) gar über 6000 Dollar. Insgesamt hat sich das Brutto-Inlandprodukt in den Boomjahren von 2002 bis 2012 von 1,4 Milliarden auf 10,3 Milliarden Dollar erhöht. Allerdings ist das soziale Gefälle, die Kluft zwischen Stadt und Land, Arm und Reich, im letzten Vierteljahrhundert sehr viel grösser geworden. Über 40 Prozent der 3,2 Millionen Einwohner leben heute in extremer Armut. Viele Menschen sind chronisch unterernährt. Die Teuerungsrate ist mit rund 10 Prozent hoch, und das soziale Netz ist sehr weitmaschig geworden.
Der Traum: Arbeit, Wohlstand, Bildung
Die Hauptstadt Ulaanbaatar (nach russischer Schreibweise Ulan Bator) boomt. Baukräne beherrschen das Bild. Der Blue Sky Tower überragt die moderne Skyline der Kernstadt. Verkehrsstaus gehören ebenso zur Ein-Millionen-Metropole wie Nobel-Boutiquen, wo die Neureichen des Landes shoppen. Doch rund um die Hauptstadt wuchern fast unkontrolliert Siedlungen mit traditionellen mongolischen Jurten (Ger) und Wellblechhütten. Es gibt dort kein fliessendes Wasser, keine Kanalisation, kaum Elektrizität. Viele Nomaden sind nach Ulaanbaatar gekommen mit der Hoffnung auf Arbeit, dem Traum von etwas Wohlstand und Bildung für die Kinder. Doch daraus wird meistens wenig bis nichts. Die der Viehzucht kundigen Nomaden können zwar meist lesen und schreiben, doch andere Fertigkeiten besitzen sie nicht. Deshalb ist es für sie extrem schwierig, einen Job zu ergattern. Die städtische Arbeitslosigkeit wird zwar offiziell nur mit etwas über 6 Prozent ausgewiesen, ist aber nach Einschätzung der Weltbank um einiges höher.
Die euphorische Stimmung des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts ist inzwischen einer realistischeren Sicht gewichen. Die Hochstimmung von einst gründete im Überfluss an natürlichen Ressourcen: Kohle, Erdöl, Kupfer, Gold, Silber, Zink und Diamanten. Direktinvestitionen flossen ins Land, in den ersten Jahren vor allem vom Rohstoffhungrigen grossen Nachbarn China. Seit 2007 investieren vermehrt auch andere Länder in der Mongolei, zumal Kanada, Australien und Europa. Das Brutto-Inlandprodukt BIP wuchs ab 2000 bis heute um durchschnittlich 10% im Jahr (mit Ausnahme des weltweiten Finanzkrisenjahres 2009). Vor vier Jahren betrug der Spitzenwert 17,5%, sank dann im Jahr 2012 auf 12% und erreichte 2014 noch 7,9%. Für das laufende Jahr werden gar nur noch 6% prognostiziert. Diese Zahlen sind aus dem Blickwinkel der Industriestaaten noch immer sehr hoch, allerdings startete die Mongolei 1990 nach dem Kollaps der Planwirtschaft auf einem äusserst bescheidenen Niveau.
Bergbau wichtiger als Viehwirtschaft
Die nomadische Viehwirtschaft, einst Kern von Wirtschaft und Kultur in der Mongolei, hat an Bedeutung eingebüsst. Zwar arbeitet noch immer ein Drittel der Bevölkerung in den Grassteppen mit Schafen, Ziegen, Rindern und Pferden und produziert Fleisch, Schaf- und Kaschmirwolle sowie Milch und Käse. Doch der Anteil des Agrarsektors an der nationalen Wertschöpfung ist seit 1990 von 45% auf rund 15% gesunken. Wie andere Bereiche der Wirtschaft wurde auch die Viehwirtschaft privatisiert. Eine Folge davon ist die Überweidung der Böden, und dies bedroht die nomadische Lebensgrundlage ernsthaft.
Geradezu raketenhaft entwickelte sich der Bergbau. Alimentiert von Auslandinvestitionen wurde die Ausbeutung der Rohstoffe vorangetrieben. Es ist sehr viel Geld im Spiel. Daher überrascht es nicht, dass Umweltschutzauflagen und Genehmigungen oft missachtet wurden, nicht zuletzt mit aktiver Mithilfe von korrupten Regierungsbeamten. Das Parlament, die Grosse Volksversammlung, agierte häufig wenig hilfreich. Investitionsgesetze wurden verschiedentlich abgeändert, was das Vertrauen der Investoren schmälerte. Solange die Rohstoffpreise hoch waren, nahm alles seinen Lauf. Als dann aber 2012 bis 2015 an den globalisierten Rohstoffmärkten die Preise einbrachen, verdüsterte sich der mongolische Wirtschaftshorizont. Die Direktinvestitionen aus dem Ausland gingen stark zurück, von 2012 bis 2014 um 80%.
«Ausbeutung durch das Ausland»
Jetzt, wo das Wachstum immer mehr abflacht, wird in Ulaanbaatar und darüber hinaus der Ruf unter Mongolen immer lauter, sich im Bergbau von der «Ausbeutung durch das Ausland» zu befreien. Das in diesem Zusammenhang am meisten zitierte Beispiel ist die potentiell grösste Kupfer- und Goldmine der Welt in Oyu Tolgoi in der südlichen Gobi-Wüste an der Grenze zu China. Bereits wurden zehn Milliarden Dollar investiert. Das 2009 gegründete Gemeinschaftsunternehmen gehört zu 34% dem mongolischen Staat und zu 66% dem multinationalen Rohstoffriesen Rio Tinto und Ivanhoe Mines. Es sind aber nicht nur die Besitzverhältnisse, die von Mongolen in Frage gestellt werden. Immer mehr erheben sich in der Zivilgesellschaft auch Stimmen, die ökologische Bedenken anmelden. In vielen Bergwerken werden die Ressourcen im Tagbau gefördert. Das hinterlässt riesige Kraterlandschaften. Umweltauflagen werden auch anderswo nur sehr locker und nachlässig beachtet.
Staatspräsident Tsakhiagiin Elbegdorj jedenfalls ist bemüht, die Phase der Konsolidierung der Wirtschaft einzuleiten. Er rief das Volk und vor allem die Politiker dazu auf, «den Gürtel enger zu schnallen». Sanierung der Staatsfinanzen – hohe Verschuldung und schmelzende Devisenreserven – und Wiedergewinnung des Vertrauens der Auslandinvestoren stehen ganz oben auf der Agenda. Die makroökonomischen Ungleichgewichte müssten rechtzeitig für die Wahlen 2016 ins Lot gebracht werden. Denn nicht nur die Parlamentarier werden neu gewählt, sondern auch der Präsident.
Enger Kontakt zu China
Der mongolischen Demokratie ist in den letzten 25 Jahren viel gelungen. Ein angestrebtes Ziel ist jedoch in weite Ferne gerückt. Nach der Befreiung von der sowjetischen Abhängigkeit suchte die Mongolei Rückendeckung für ihre Unabhängigkeit bei demokratischen Staaten. Die USA, Europa und Japan boten noch so gerne Hand. Allerdings hat sich in der Folge gezeigt, dass die Abhängigkeit vom grossen Nachbarn China wirtschaftlich und somit indirekt auch politisch immer grösser wurde. Heute gehen rund 90% der Exporte nach China, und China ist der mit Abstand grösste Investor in der Mongolei.
Der enge Kontakt zu China kommt historisch nicht von ungefähr. Kublai Khan, der Enkel des grossen Dschingis Khan, gründete im 13. Jahrhundert die chinesische Yuan-Dynastie. Die Mongolei blieb auch nach dem Fall der Yuan am Ende des 14. Jahrhunderts zunächst integraler Bestandteil des Reichs der Mitte bis zum Fall der letzten Kaiserdynastie 1911. Auch danach blieb die Mongolei immer in engem Kontakt zu China. In der chinesischen «Autonomen Region Innere Mongolei» leben zudem mit 22 Millionen Mongolen mehr als siebenmal so viel Mongolen wie in der Äusseren Mongolei, der unabhängigen Republik. Freundschaft und vor allem gemeinsame Interessen sind für die Regierenden in Ulaanbaatar deshalb überlebenswichtig. Neben dem makroökonomischen und ökologischen Gleichgewicht sucht die Mongolei derzeit auch eine diffizile politische Balance. Mit den traditionellen mächtigen Nachbarn China und Russland, aber als Korrektiv auch mit Japan, Europa und Amerika.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.