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«Grenzen töten»: Flüchtlingsdemonstration in Berlin © Ch. Todte

Die Toten kommen

Heinz Moser /  Trauerzug für ertrunkene Flüchtlinge: Mit Kreuzen, Grabsteinen und Blumen marschierten am Sonntag 5000 Demonstranten durch Berlin.

Während der ganzen letzten Woche waren unter dem Motto «Die Toten kommen» Aktionen des «Berliner Zentrums für politische Schönheit» ein Medienthema: Es hatte angekündigt, dass Flüchtlinge, die an den Aussengrenzen der EU ertrunken und verdurstet sind, nach Berlin kämen. Man wolle ihnen ihre Würde wieder geben. Denn was mit ihnen geschehe, sei «pietätlos». Tote würden in Müllsäcke gepackt und in einer Kühlkammer übereinander geworfen.

Würdevolles Begräbnis oder makabre Inszenierung?

Diesen Flüchtlingen wollte das Zentrum für politische Schönheit ein würdiges Begräbnis geben. So fanden letzte Woche mehrfach Begräbnisse von Flüchtlingen in Berlin statt. Die Kommentatoren waren sich allerdings uneinig, ob es sich um reale Tote oder symbolisch veranstaltete Ereignisse handelte. Jedenfalls fand in einem Fall eine Abdankung mit 39 leeren Stühlen vor der Grabstelle statt. Diese trugen Namensschilder für die als Gäste eingeladene Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Innenminister Thomas de Maizière und Beamte, die für die verfehlte Flüchtlingspolitik verantwortlich gemacht werden.

Die Meinungen über diese Aktionen gingen stark auseinander. So hiess es in einem Artikel in der «Frankfurter Rundschau», dass die Beerdigungen medienwirksam aufgebauscht wurden. Die Pressevertreter müssten akzeptieren, dass sie Teil einer Theaterinszenierung waren, die sie nur teilweise durchschauten. Das Ganze sei eine makabre Inszenierung. «Schwarzes Revoluzzertheater mit Remmidemmi-Faktor» nennt es die «Welt»

Politikerinnen und Politiker reagierten ebenfalls pikiert. So meinte Aydan Özoguz von der SPD gegenüber der «Welt»: «Bei allem Verständnis für die Wut der Aktivisten angesichts der vielen Tausend ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer, ein Spektakel mit Leichen zu inszenieren, überschreitet eine moralische Grenze.»

«Marsch der Entschlossenen»

In dieser vergifteten Situation kündigte das Zentrum für den letzten Sonntag einen «Marsch der Entschlossenen» an. Man wollte vor dem Bundeskanzleramt nach einer Demonstration durch die Innenstadt ein Grabfeld errichten und Flüchtlinge begraben. Als provokative Ziel wird ein neu gestalteter Vorplatz mit Direktzugang ins Kanzleramt genannt: «Kanzlerin, Kabinett und Besucher müssen künftig über Leichen gehen.»

Kein Wunder, dass die Behörden diese Aktion verboten haben – wenn auch mit merkwürdig formalen Gründen. Das Mitführen von Leichen sei untersagt. Särge oder «sargähnliche Behältnisse» müssten vorher überprüft werden. Eine emotional aufgeladene Konfrontation schien angesagt.

Trotz des Theaterdonners über der Szene fand die Demonstration am Sonntagnachmittag statt. Der Zug bewegte sich friedlich und still vom Boulevard «Unter den Linden», um das Brandenburger Tor bis zur Wiese vor dem Bundestag. Mitgeführt wurden Grabsteine aus Styropor, Sperrholzkreuze und Blumen. Gesäumt wurde der Zug von Sommertouristen, die Berlin gerade besuchten und damit auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam gemacht wurden. Zum Schluss wurden auf der Bundestagswiese symbolische Gräber ausgehoben.

Das Echo auf die Berliner Aktion hat sich mittlerweile verselbständigt. Auch in anderen Städten und Ländern, von Bern und Konstanz bis Stockholm wurden für die Flüchtlinge Gräber ausgehoben.

Der eigentliche Zynismus ist die EU-Flüchtlingspolitik

Die Demonstration vom Sonntag lief nicht aus dem Ruder, sondern sie unterstreicht die Würde der Aktion. Schliesslich hat das «Zentrum für politische Schönheit» Recht, wenn es das Augenmerk auf die europäische Flüchtlingspolitik richtet. Schon im letzten Jahr hatte es mit der Entfernung der Mauerkreuze in Berlin seine Aufmerksamkeit auf die in Europa errichteten neuen Mauern gelenkt (Infosperber berichtete). Und die vergangenen Wochen zeigen, dass es nicht allein um die Aussengrenzen geht. Denn die ungelöste Frage der Verteilung der Flüchtlinge in Europa führt auch zwischen den EU-Ländern zu neuen Mauern – etwa wenn Frankreich keine Flüchtlinge aus Italien mehr zulässt, oder wenn Ungarn die Grenze zu Serbien abriegeln will, damit keine Flüchtlinge mehr ins Land kommen.

Ganz unbetroffen ist auch die Schweiz nicht. So hat der Tessiner Regierungspräsident Norman Gobbi gegenüber der «NZZ am Sonntag» erklärt: Wenn der Andrang der Asylsuchenden aus Italien anhalte, müsse das Tessin die Grenze vorübergehend schliessen.
Zum Schluss stellt sich die Frage, was zynischer ist: Die zugegebenermassen drastischen Aktionen des «Zentrums für politische Schönheit» oder die europäische Flüchtlingspolitik.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

Grenzenlos

Wo Grenzen töten

Weltweit kommt es zu Tausenden von Toten, weil anderswo Geborene als Fremde abgewiesen werden.

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Eine Meinung zu

  • am 23.06.2015 um 14:29 Uhr
    Permalink

    Zu ihren Ausführungen die ich sehr gut finde, darf ich den vorletzten Absatz zur «nicht ganz unbetroffenen Schweiz» wie folgt ergänzen: die der «NZZ am Sonntg» im Alleingang gemachte Aeusserung des Tessiner Regierungspräsidenten Norman
    Gobbi (Lega) erhält da viel zu viel Gewicht und hat zu Aerger im Tessin gefuehrt. Nicht nur unter einem Teil der Bevölkerung, auch in der Politik. Die FDP-Grossrätin Natalia Ferrrara Micocci will morgen vom Staatsrat wissen, ob diese rein persönliche Aeusserung Gobbis nicht die Grenzen der persönlichen Meinungsäusserung überschritten und somit das Prinzip der Kollegialität verletzt habe. Bundesrätin Eveline Widmer Schlumpf erklärte dazu dem Tessiner Radio und Fernsehen auf Anfrage dass die gegenwärtige Situation im Tessin zwar ernst aber sicher nicht dramatisch sei, sodass man die Schliessung der Grenze fordern müsse.

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