Gerichtsurteil wirft Schatten auf Rechtsextreme
Für den britischen Untersuchungsrichter bestand kein Zweifel: Die Theorie, an der die deutschen Behörden seit zwölf Jahren festhalten, ist falsch. Nach einer dreitägigen gerichtlichen Untersuchung in London urteilte Andrew Walker am 21. Mai, dass der Tod Jeremiah Duggans kein Selbstmord war.
Frühmorgens am 27. März 2003 lag der 22-jährige jüdische Brite tot auf einer Schnellstrasse in Wiesbaden.
Er hatte zuvor an einer Veranstaltung der LaRouche-Organisation teilgenommen, einer rechten Politsekte mit Ablegern in mehreren Ländern. Die deutsche Polizei hatte sich schnell auf die Theorie festgelegt, dass Duggan absichtlich vor die Autos gesprungen sein musste. Die Ermittlungen wurden bald eingestellt, viele Zeugen wurden nur oberflächlich befragt, andere gar nicht.
In seinem Urteil verwarf Andrew Walker die Selbstmordtheorie kategorisch. Duggan sei durch eine Kollision mit zwei Autos ums Leben gekommen, aber er habe sich nicht absichtlich vor die Fahrzeuge geworfen, wie die Polizei in Wiesbaden behauptet. Möglicherweise sei er in einem Zustand der Verzweiflung vor Mitgliedern der LaRouche-Organisation geflohen; zudem habe er unerklärte Verletzungen erlitten, die auf eine Auseinandersetzung vor seinem Tod hindeuten.
Mutter des Opfers blieb mit Erfolg hartnäckig
Dass die gerichtliche Untersuchung überhaupt stattfand, ist allein der Hartnäckigkeit von Jeremiahs Eltern zu verdanken, Erica und Hugo Duggan. Sie hielten einen Suizid von Anfang an für ausgeschlossen. Erica drängte die Polizei und die Staatsanwaltschaft in Hessen, im Umfeld der LaRouche-Organisation zu ermitteln, doch diese schienen daran kein Interesse zu haben.
Also machte sich Erica Duggan selbst daran, Beweise zusammenzutragen: Sie sammelte Informationen, spürte Zeugen auf, suchte Unterstützung bei Politikern, Anti-Rassismus-Organisationen und Sektenexperten. Im Dezember 2012 urteilte das Oberlandesgericht Frankfurt, dass es für die These des Selbstmords keine Anhaltspunkte gab, und wies die Staatsanwaltschaft an, Ermittlungen aufzunehmen – im deutschen Rechtswesen ist eine solche Ermittlungserzwingung äusserst selten.
Schlechtes Licht auf Wiesbadener Behörden
Der britische Richter Andrew Walker hat Erica Duggans Zweifel jetzt bestätigt. Sein Urteil lässt nicht nur die Arbeit der Behörden in Wiesbaden in einem äusserst ungünstigen Licht erscheinen, sondern weist auch auf die Gefahren der rechten Politsekte hin, die in Deutschland kaum bekannt ist. Ein Blick in die Geschichte der seltsamen LaRouche-Organisation und ihrer vielen Ableger zeigt, wie eine rechte politische Gruppierung ihre wahre Identität zu verschleiern vermag – und wie sie sich sogar den westlichen Geheimdiensten nützlich machen kann.
Der Wirrkopf und rechte Verschwörungstheoretiker Lyndon LaRouche, 1922 in New Hampshire geboren, baute eine Organisation auf, die zahlreiche Organisationen, Parteien und Publikationen in verschiedenen Ländern umfasst, dazu einen eigenen Nachrichtendienst, die Executive Intelligence Review (EIR). Zunächst gab er sich als Trotzkist aus, doch bereits in den frühen 1970er-Jahren vollzog er eine Kehrtwende nach rechts. Er umgab sich mit Individuen, die ihm völlig ergeben waren, unterfütterte seine Ideologie mit absurden Verschwörungstheorien (Hauptfeind: Queen Elizabeth II., die er unter anderem des Drogenhandels verdächtigt) und bildete so eine kultartige Bewegung. Laut dem LaRouche-Experten Dennis King, der die Organisation seit Jahrzehnten beobachtet, sah er seine Anhänger als die Vorreiter einer Elite, die letzten Endes die Macht übernehmen würden. Er unterzog sie sogenanntem ego-stripping, eine Art Entpersonalisierung durch psychologischen Terror, wie er von Sekten praktizieret wird.(1)
In Deutschland trat die LaRouche-Organisation zunächst unter dem Namen Europäische Arbeiterpartei (EAP) auf, danach als Patrioten für Deutschland, und seit den frühen 1990er-Jahren als Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo). Vorsitzende aller dieser Organisationen war und ist die Deutsche Helga Zepp-LaRouche,
seit 1977 mit dem amerikanischen Parteigründer verheiratet. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt über die BüSo, dass einzelne Aussagen dem linken Spektrum zugeordnet werden, dass aber «die konkrete Ausgestaltung eher anhand rechter Ideologien konzipiert» sei. Der Rechtsextremismusexperte Matthew Feldman, Professor an der Teesside University in Grossbritannien, geht weiter: Die BüSo und die LaRouchians gäben sich rhetorisch links, seien aber extrem rechts anzusiedeln – er nennt die Partei postfaschistisch.
Zwar vertrete LaRouche teilweilse linke Ideen – etwa die Kampagne gegen den Irakkrieg, mit der Jeremiah Duggan 2003 sympathisierte, oder heute der Anti-TTIP-Aktivismus. «Doch ebenso verbreitet er einen verschleierten Antisemitismus und dämonisiert seine Feinde auf skurrile Weise», sagt Feldman. Er vermutet, dass Duggan sich dank seiner pazifistischen Überzeugung zur Teilnahme an der Konferenz im Schiller-Institut überreden liess, dort jedoch die tatsächliche Ideologie der Organisation entdeckte. «LaRouches Rhetorik ist rassenhetzerisch und durchzogen mit abstrusen Verschwörungstheorien und einer Politik, die überall das jüngste Gericht wittert», sagt Professor Feldman. Ein Beispiel: In einem Artikel von Helga Zepp-LaRouche vom 29. Mai ist nachzulesen, dass der drohende Kollaps des Weltfinanzsystems «die Hauptdynamik hinter der wachsenden Weltkriegsgefahr [ist], hinter der die internationale Finanzoligarchie steht.»
Diese Endzeitstimmung, so Feldman, sei notwendig für eine «Renaissance» – Faschismus-Experten sprechen von Palingenese –, die von der Elite der Kultanhänger angeführt wird. «Aufgrund dieser Merkmale sieht die überwältigende Mehrheit von Regierungen, Akademikern und gemeinnützigen Organisationen, die sich mit dieser Bewegung befasst haben, die LaRouche-Organisation als Teil des revolutionären Rechtsextremismus», sagt Feldman.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entledigten sich die rechten Bewegungen der althergebrachten und offensichtlichen Merkmale des Faschismus – Hakenkreuz, antisemitische Rhetorik, Führerkult – und versuchten sich nach aussen als normale Parteien darzustellen. Nur Eingeweihte verstehen, was mit gewissen Anspielungen gemeint ist. So fügt sich der Verweis auf die «internationale Finanzelite» beispielsweise in antisemitische Verschwörungstheorien von der Macht jüdischer Banker ein. Feldman nennt dies «dog-whistle politics»: Wie die Hundepfeife für Menschen unhörbar ist, geben die Rechtsextremen politische Signale aus, die Normalbürger für unverfänglich halten, den Mitgliedern jedoch eine andere Botschaft vermitteln.
Yves Messer, LaRouche-Mitglied in Frankreich von 1983 bis 1994, merkte erst schrittweise, dass er in einer rechten Organisation gelandet war. «Als ich Mitglied wurde, war die LaRouche-Organisation sehr anti-kommunistisch, was mir ganz gut passte», sagt Messer, der heute als Künstler in Grossbritannien lebt und ein scharfer Kritiker LaRouches geworden ist. «Nach aussen beschäftigte sie sich eher mit Menschenrechten, aber in Wirklichkeit verfolgt sie ein klar rechtes Programm. Ich brauchte Jahre, bis ich merkte, dass ich Mitglied eines rechten Kults war.»
Fundamentalistische Endzeitstimmung
Die Endzeitstimmung, die LaRouche konstant verbreite, sei ein wichtiges Mittel der Kontrolle, mit dem die Anhänger eingeschüchtert und sie daran gehindert werden sollen, die Organisation zu verlassen. «Laut LaRouche ist es immer kurz vor Mitternacht: Wenn er vor einem thermonuklearen Dritten Weltkrieg warnt, so glauben es ihm seine Anhänger.» Die Propaganda innerhalb der Organisation trichtere den LaRouchians eine Ideologie ein, der sie nur schwer entfliehen können. Deshalb bezeichnet Messer die Bewegung eher als einen Kult denn als eine politische Organisation: «Es wird emotionale Kontrolle ausgeübt. Wer LaRouche verlassen will, gilt als Verräter an der Menscheit.»
Das Elite-Denken spielt hier eine wichtige Rolle: Die LaRouchians sind als einzige im Besitz der Wahrheit, und alle Aussenstehenden werden als Feinde wahrgenommen oder als Leute, die einer Gehirnwäsche unterzogen worden sind. Er hält es für möglich, dass die LaRouche-Mitglieder in Wiesbaden Jeremiah Duggan als einen solchen Feind gesehen hätten, sollte er sich während der Konferenz und im Gespräch mit Führungsleuten gegen die Indoktrination gewehrt haben.
Erstaunlich ist, dass es LaRouche trotz des finsteren Charakters seiner Organisation in den 1980er-Jahren schaffte, in den USA zu einer prominenten politischen Figur aufzusteigen – er kandidierte acht Mal als Präsident. Darüber hinaus gelang es ihm, sich während Ronald Reagans Präsidentschaft Zugang zu verschiedenen Regierungsbehörden zu verschaffen. Die Mitarbeiter seines Informationsdienstes fertigten detaillierte Berichte an, und zwar anhand von hunderten Interviews mit einflussreichen Politikern, stundenlangen Telefongesprächen mit Informanten und dem akribischen Studium der internationalen Presse.
Die Arbeit der gewissenhaften LaRouche-Spione war so gründlich, dass sogar die Geheimdienste in den USA und in Europa beeindruckt waren. Der Verschwörungstheoretiker bot ihnen seine Dienste an: Laut Recherchen der Washington Post traf sich LaRouche Anfang der 1980er-Jahre mehrere Male mit ranghohen Vertretern des «National Security Councils» und anderer Regierungsbehörden, die seine Analysen und Reports als «nützlich» bezeichneten. Auch der stellvertretende Direktor der CIA berichtete von einem Besuch von LaRouche und seiner deutschen Frau Helga, als diese von Europa zurückgekehrt waren. Sie hätten ihm interessante Informationen über die westdeutschen Grünen gegeben.
Paul-Albert Scherer, von 1972-77 Chef des Militärischen Abschirmdiensts (MAD), der ein persönlicher Freund LaRouches wurde, schrieb 1987, dass der Nachrichtendienst LaRouches verlässliche und wertvolle Informationen zusammentrug, und dass Experten verblüfft waren über LaRouches vertrauliche Kontakte und seinen Zugang zu glaubwürdigen Informationen über Terrorismus und die Entwicklungen im Ostblock.
Das Nachrichtenzentrum in Wiesbaden war laut Dennis King besonders wichtig im internationalen Informationsnetzwerk der LaRouchians. Hier lag auch das Hauptquartier der EAP und das 1984 gegründete Schiller-Institut, ebenfalls Teil des LaRouche-Netzwerks. Die EAP wurde in den ersten Jahren vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) beobachtet, doch 1978 stellte die Behörde ihre Überwachungstätigkeit ein – zu dem Zeitpunkt, als die LaRouche-Organisationen ihre vormalig linke Rhetorik aufgegeben und sich klar am rechten Rand des politischen Spektrums angesiedelt hatte.
Noch 1976 hatte das BfV auf die Agitation der EAP hingewiesen, bei der diese «führende demokratische Repräsentanten der Bundesrepublik verunglimpfte». Der Spiegel sprach 1984 den damaligen BfV-Präsidenten Heribert Hellenbroich (1937-2014)auf die Einstellung der Observierung an, worauf dieser antwortete, der Gruppe fehle der «übersteigerte Nationalismus», der rechtsextreme Gruppen auszeichnete. Interessant ist, dass der zweite stellvertretende Bundesvorsitzende der EAP und Geschäftsführer der Nachrichtenagentur EIR kein anderer war als Heriberts jüngerer Bruder, Anno Hellenbroich.
Diese persönliche Verbindung wurde 1985 auch von der Bundestagsfraktion der Grünen thematisiert. In ihrer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung wiesen die Verfasser zudem auf den «ungewöhnlich guten Informationsstand» der EAP hin, der auch «detaillierte Kenntnisse von nicht veröffentlichten Fakten enschliesst», und fragten, ob dies auf Kontakte der EAP zu staatlichen Überwachungsdiensten zurückzuführen sei. Die Bundesregierung antwortete, dass ihr keine solche Kontakte bekannt seien.
Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass die LaRouche-Aktivisten in Deutschland viel Energie darauf verwendeten, nicht nur vor tatsächlichen und vermeintlichen linken Terroristen zu warnen und diesbezügliche Dossiers zusammenzustellen, sondern auch linke Politiker, Kritiker der US-Politik und Befürworter der Entspannungspolitik mit dem Ostblock anzuschwärzen.
Insbesondere hatten sie es auf Petra Kelly abgesehen, die prominenteste Abgeordnete der Grünen. In einer extrem personenbezogenen Schmierkampagne wurde sie mit den Nazis verglichen und als Hure bezeichnet; im Bundestagswahlkampf 1983 war sie einem regelrechten Psychoterror ausgesetzt. Einmal wurde ihr von einer lächelnden Frau ein Paket überreicht, in dem sie einen mit einer blutroten Flüssigkeit getunkten schwarzen BH vorfand.(2)
Heute kommt die BüSo harmloser daher – sie zeichnet sich vornehmlich dadurch aus, dass ihre Kandidaten bei Lokalwahlen zu relevanten Themen nichts zu sagen haben. Was für eine Rolle die LaRouche-Organisation beim Tod Jeremiah Duggans spielte, wird möglicherweise nie vollständig geklärt werden. Aber dass sie nichts damit zu tun hat, wie die deutschen Behörden seit 2003 behaupten, kann bezweifelt werden – die Organisation ist gefährlicher, als allgemein angenommen wird.
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1) King, Dennis. Lyndon LaRouche and the New American Fascism. Doubleday, New York 1989, S. 20.
2) Lorscheid, Helmut und Müller, Leo. Deckname: Schiller. Die Deutschen Patrioten des Lyndon LaRouche. Rowohlt, Reinbek 1986, S. 95.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Peter Stäuber ist Journalist und Korrespondent in London für Weltreporter.net.