Von Rio an die Kommissionssitzung nach Bern?
Ein Grüner und eine Sozialdemokratin stehen für eine Doppelpremiere im Schweizer Parlament: Ruedi und Stephanie Baumann waren das erste Ehepaar und gleichzeitig auch die ersten Auslandschweizer im Nationalrat – und bisher auch die letzten. In der Bundesversammlung sass noch nie ein waschechter Auslandschweizer. Denn gewählt wurden auch die Baumanns, als sie noch in der Schweiz wohnten. Er sass von 1991 bis 2003 im Nationalrat, sie von 1994 bis 2003, nach Südfrankreich zogen sie erst 2001. Sie übernahmen dort einen neuen Betrieb, nachdem sie ihren Bio-Bauernhof einem Sohn übergeben hatten.
Immer weniger Hürden
Die Präsenz der beiden Auslandschweizer im Parlament dauerte also lediglich rund zwei Jahre. Das kurze Gastspiel der Fünften Schweiz mag insofern erstaunen, als die politischen Hürden laufend abnehmen. Rechtlich gibt es ohnehin keine Schranken: Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer müssen lediglich ihre Heimat- oder frühere Wohnsitzgemeinde in der Schweiz auswählen und sich über die Schweizer Vertretung in dieser Gemeinde melden und registrieren lassen – und schon ist man stimm- und wahlberechtigt. Über das passive Wahlrecht auf Bundesebene, also das Recht, gewählt zu werden, verfügen die Auslandschweizer bereits seit der Gründung des Bundesstaates; in den Bundesrat wurden gar verschiedentlich Auslandschweizer gewählt – zuletzt Friedrich Traugott Wahlen (SVP) 1959.
Stark umworbene Auslandschweizer
Zudem bemühen sich die Parteien immer stärker um die helvetischen Auswanderer. Das kommt nicht von ungefähr: Die Fünfte Schweiz wächst nach wie vor stark. Mittlerweile leben insgesamt über 746 000 Landsleute im Ausland, also etwa jeder Zehnte. Proportional sind das mehr Ausgewanderte als in jedem anderen Land Europas. Auch die Anzahl der Kandidierenden nimmt stetig zu: 1995 waren es drei, 1999 bloss einer, 2003 dann bereits 15, 2007 schon 44, und bei den letzten eidgenössischen Wahlen 2011 fanden sich 81 Kandidatinnen und Kandidaten mit Wohnsitz im Ausland auf den Wahllisten. Einige Parteien führten sogar separate internationale Listen, andere integrierten die Auslandschweizer in ihre kantonalen Listen. Erstmals konnten zudem in einigen Kantonen im Rahmen eines Pilotprojekts gegen 22 000 Auslandschweizer ihre Stimme elektronisch abgeben.
«Physische Anwesenheitspflicht»
Es wird also einiges getan, um den Auslandschweizern die politische Mitbestimmung zu erleichtern. Doch wenn es dann darum geht, ein Nationalratsmandat vom Ausland her auch tatsächlich wahrzunehmen, tauchen schon einige Probleme auf. Denn es gilt die «physische Anwesenheitspflicht», wie Mark Stucki, Informationschef der Parlamentsdienste, erklärt; und zwar nicht nur während der Sessionen, sondern auch an den Kommissionssitzungen. Es sei einmal in einem konkreten Fall, allerdings nicht wegen eines Auslandschweizers, abgeklärt worden, ob für eine Kommissionssitzung eine Video-Zuschaltung zulässig wäre. Das ist laut Stucki aus juristischen Gründen abgelehnt worden.
Anreise aus der France profonde
Die Baumanns mussten also so oder so in die Schweiz reisen, und das war eher umständlich: Zuerst ging es vom Wohnort in der France profonde rund hundert Kilometer mit dem Auto nach Toulouse und dann mit dem Nachtzug nach Genf und Bern. Die Aktenzustellung sei nie ein Problem gewesen, sagt Ruedi Baumann, und dürfte im Zeitalter des Internets immer einfacher werden. Zudem habe er auch weiterhin in einer Kommission mitgearbeitet. «Auf die Reiseentschädigung im Ausland habe ich freiwillig verzichtet», erklärt Baumann. Mark Stucki bestätigt nämlich, dass jedem Mitglied des Nationalrats die Reise unabhängig vom Wohnort bezahlt werde, «also auch, wenn ein Ratsmitglied in Rio de Janeiro wohnt». Es werde die «sinnvollste Verbindung» bis an die Schweizer Grenze definiert, im Inland hätten ja dann ohnehin alle Parlamentarierinnen und Parlamentarier das Generalabonnement.
Mangelnde Kontakte
Stephanie Baumann, die ihre Schriften erst ein halbes Jahr vor Ablauf der Legislaturperiode Ende 2003 nach Frankreich verlegt hat, macht noch auf ein anderes Problem aufmerksam: Sie habe sich zwar für Sessionen und Kommissionssitzungen organisieren können, «aber alle zusätzlichen Kontakte, die aus meiner Sicht für eine seriöse Parlamentsarbeit unerlässlich sind, habe ich nur noch schriftlich oder überhaupt nicht mehr wahrnehmen können»: Kontakte mit unterschiedlichsten Leuten, Vorbesprechungen mit Parteivertretern, Anhörung von Exponenten betroffener Interessenorganisationen, etc. Sie hat sich denn auch nie als Vertreterin der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer betrachtet. «Wen sollte ich als Auslandschweizerin vertreten? Einen Banker in Bangkok? Eine AHV-Rentnerin an der Costa del Sol?» Sie sei immer eine Vertreterin ihrer Wählerinnen und Wähler im Kanton Bern gewesen, «und um das glaubhaft tun zu können, brauchte ich die Verankerung in meiner Parteisektion, den Kontakt zu den Nachbarn am Wohnort und in der Region.»
Parlament debattiert speziellen Wahlkreis
Die Bemühungen, die Position der Auslandschweizerinnen und -schweizer im Parlament zu stärken, gehen weiter. In der jüngeren Vergangenheit hat sich vor allem die SP mit Vorstössen dafür stark gemacht. 2007 forderte der Zürcher SP-Nationalrat Mario Fehr mit einer im Sande verlaufenen Motion eine «direkte Vertretung der Auslandschweizerinnen und -schweizer im eidgenössischen Parlament». 2009 ist der bisher letzte Versuch nur knapp gescheitert. Der Genfer SP-Nationalrat Carlo Sommaruga verlangte mit einer Parlamentarischen Initiative, für die Auslandschweizer in irgendeiner Form garantierte Sitze in National- und Ständerat zu schaffen.
Eine direkte Vertretung in beiden Räten bedingt eine Verfassungsänderung. Wenn man das will, müsste man für den Ständerat ein oder zwei Sitze für Auslandschweizer reservieren und für die Nationalratswahlen einen eigenen Wahlkreis mit einer bestimmten Anzahl garantierter Sitze schaffen. Die Gerner argumentierten, dass damit die Auslandschweizer faktisch gleich behandelt würden wie die Bürgerinnen und Bürger eines Kantons. Kommissionssprecherin Ruth Humbel (CVP) sagte in der Parlamentsdebatte, dass ein Kanton jedoch «ein staatliches, aus einem zusammenhängenden Gebiet bestehendes Gebilde» darstelle. Er könne «nicht verglichen werden mit einer über die ganze Welt verteilten Gruppe von Personen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie nicht im Heimatland wohnhaft ist. Je nach Wahlheimat treffen die Auslandschweizerinnen und -schweizer ganz unterschiedliche Lebensbedingungen an, was die Bildung eines Wahlkreises nicht nahelegt.» Im Ständerat bezeichnete Hansheiri Inderkum (CVP) einen derartigen Wahlkreis als «staatsrechtlich und staatspolitisch gesehen in höchstem Masse problematisch.»
Die Befürworter der Initiative von Carlo Sommaruga betonten, dass die Auslandschweizer, «auch wenn sie an unterschiedlichen Orten auf der Welt leben, eben doch die spezifischen Erfahrungen eines fernab von der Heimat gelebten Alltags teilen.» Es sei für die Parlamentsarbeit ein Gewinn, wenn vermehrt eine von aussen geprägte Sichtweise eingebracht werden könnte. Die Genfer SP-Ständerätin Liliane Maury Pasquier wies auf die wachsende berufliche Mobilität der Schweizerinnen und Schweizer hin. Das Parlament könnte von diesem kulturellen und intellektuellen Reichtum nur profitieren. Ihr Tessiner Ratskollege Filippo Lombardi (CVP), der das Anliegen ebenfalls unterstützte, machte darauf aufmerksam, dass die Wahl eines Auslandschweizers unter der heutigen Regelung praktisch ausgeschlossen sei.
Drei EU-Länder kennen Auslandwahlkreise
Der Nationalrat hat die Parlamentarische Initiative Sommaruga, entgegen dem Antrag der Kommission, 2008 angenommen, der Ständerat dagegen hat sie abgelehnt, womit das Geschäft aus Abschied und Traktanden gefallen ist. Auch die einzige bisher im Parlament vertretene Auslandschweizerin hält nichts davon: «Ich kann überhaupt keinen Sinn erkennen in der Forderung, für Auslandschweizerinnen und -schweizer ein fixes Kontingent an Nationalratssitzen zu schaffen», sagt Stephanie Baumann. Und ihr Mann Ruedi Baumann ergänzt: «Ein Wahlkampf bei den Auslandschweizern wäre eine reine Farce. Wahlchancen hätten ohnehin nur Personen, die schon vorher bekannt sind oder über grosse finanzielle Mittel verfügen.»
Der Nationalrat lässt trotzdem nicht locker: Im September 2014 hat er den Bundesrat mit einem Postulat beauftragt, «die in Europa gebräuchlichen und diskutierten Modelle zur Ausgestaltung der politischen Rechte und politischen Repräsentanz von Auslandbürgerinnen und Auslandbürgern zusammenzustellen.» Was man schon heute weiss: Italien, Frankreich und Portugal kennen ausländische Wahlkreise und damit eine direkte Vertretung ihrer Auslandbürger mit garantierten Sitzen im nationalen Parlament. Von den 577 Mitgliedern der Französischen Nationalversammlung sind erstmals bei der Wahl von 2012 elf Abgeordnete in speziellen Wahlkreisen im Ausland gewählt worden. Bereits seit 2006 können Italienerinnen und Italiener im Ausland in speziellen Wahlkreisen eigene Parlamentsvertreter wählen. Von insgesamt 945 Sitzen in Abgeordnetenhaus und Senat sind 18 für Auslanditaliener reserviert. Auch drei in der Schweiz wohnhafte Italiener sind Mitglieder des Parlaments in Rom.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der «Schweizer Revue» (Die Zeitschrift für Auslandschweizer) vom April 2015.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Wenn ich in einer andern Gemeinde Wohnsitz nehme, erhalte ich dort das Stimmrecht, wo ich wegzog, musste ich es abgeben. Das macht eigentlich schon Sinn!?
Oder soll ich bei Umzug nebst dem neuen Bürgerrecht zusätzlich das alte behalten dürfen? Das finde ich nicht logisch.
Die Baumann’s sind mir symphatisch und ich habe gar nichts gegen Schweizer-Innen im Ausland. Doch jeder Mensch soll sich in seiner Wahl-Heimat politisch betätigen. Tanz auf zwei Hochzeiten ist nur für’s Heimweh. (PS soviel mir bekannt ist bringen sich die Baumann in ihrer Wahlheimat auch ein…)
Ein «27. Kanton» wäre unsinnig. Wer nicht mehr in der Schweiz wohnt, kann sich hier etwas weniger einbringen, das ist normal und natürlich. Sobald er zurückkommt, ist er wieder voll dabei.
Ich finde die Regelung, dass Auslandschweizer überhaupt wählen dürfen, genug grosszügig.