Hoffen auf den Europäischen Gerichtshof

Ludwig A. Minelli /  National- und Ständerat wollen ein menschenrechtswidriges Überwachungsgesetz absegnen. Eine Beschwerde an den EGMR ist geplant.

Am 8. April 2014 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die EU-Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten für ungültig erklärt. Schweizer Medien haben, wenn überhaupt, nur am Rande darüber berichtet. Man konnte den Eindruck gewinnen, es handle sich um ein rein EU-internes Problem.
Fakt ist aber, dass auch in der Schweiz

  • unabhängig von einem Verdacht und
  • flächendeckend

Vorratsdaten gespeichert werden – ja gespeichert werden müssen: Nach Artikel 15 des Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs sind die Anbieterinnen (u.a. eines Internetzugangs) verpflichtet, die «Verkehrsdaten» ihrer Kunden während sechs Monaten aufzubewahren.
Genaue Bewegungsprofile
Bei der E-Mail-Kommunikation werden zum Beispiel die E-Mail-Adressen von Absenderin und Empfänger sowie die Zeitangaben zur Übertragung von Mails erfasst.
Bei der Handynutzung (für Telefonie oder Internet) werden auch die benutzten Antennen erfasst, sodass nicht nur gespeichert wird, wer wann wie lange mit wem kommuniziert, sondern auch, wo ungefähr sich die betreffende Person zum fraglichen Zeitpunkt aufgehalten hat. Weil heutige Handys auch ohne aktive Nutzung laufend Daten senden und empfangen (z.B. automatische Updates, E-Mail-Abruf, Wetterdaten), lassen sich so ziemlich genaue Bewegungsprofile aller Nutzerinnen von modernen Smartphones erstellen.
Die von jedem Internet- und Handynutzer erfassten Vorratsdaten geben also u.a. Aufschluss darüber, wo sich jemand wann befunden und mit wem er kommuniziert hat.
Test von Balthasar Glättli
Um sich ein Bild davon zu machen, empfiehlt sich die eindrückliche Visualisierung der Vorratsdaten von Nationalrat Balthasar Glättli. Über einen Zeitraum von sechs Monaten wird auf einer Karte dargestellt, wo sich Glättli zu welchem Zeitpunkt befunden hat, und mit wem er wann telefoniert, gemailt oder SMS

ausgetauscht hat. Auf einer weiteren Darstellung ist das Kontaktnetzwerk visualisiert, wobei über jede Person festgehalten ist, wie viele E-Mails und SMS sie von Glättli empfangen und an ihn versendet hat und wie oft telefoniert wurde.

Datenspeicherung ist EMRK-widrig

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs verletzt die Vorratsdatenspeicherung die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten. Dies,

  • weil sie sich generell auf sämtliche Personen und elektronischen Kommunikationsmittel erstreckt, und
  • weil der Zugang zu den Daten zu wenig genau geregelt ist und
  • weil die Speicherdauer von mindestens sechs Monaten unabhängig vom etwaigen Nutzen der Daten für das verfolgte Ziel gilt.

Hinzu kommt, dass die Richtlinie keine Massnahmen zum Schutz vor unberechtigtem Zugang und unberechtigter Nutzung vorsieht und dass keine Speicherung der Daten im Unionsgebiet vorgeschrieben ist.
Aus all diesen Gründen hat der Gerichtshof erkannt, dass die Vorratsdatenspeicherung gemäss Richtlinie die Grundrechte unverhältnismässig einschränkt und diese deshalb für ungültig erklärt.
Schweiz vor Ausbau der Überwachung
Die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten sind nicht nur in Artikel 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, sondern auch in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie in Artikel 13 der schweizerischen Bundesverfassung festgehalten. Sowohl die Modalitäten der Vorratsdatenspeicherung als auch die grundrechtliche Lage sind also in der Schweiz weitgehend identisch mit der (aufgehobenen) Regelung in der EU. Die Vorratsdatenspeicherung gemäss Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs ist somit schon in ihrer heutigen Ausgestaltung verfassungswidrig.
Aus diesem Grund hat die Digitale Gesellschaft Schweiz, ein offener Zusammenschluss netzpolitisch interessierter Kreise, ein Verfahren gegen die Vorratsdatenspeicherung eingeleitet. Nachdem ein Gesuch auf Unterlassung der Vorratsdatenspeicherung vom Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr abgelehnt wurde, hat die Digitale Gesellschaft im September 2014 eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht.
Sollten auch das Bundesverwaltungsgericht und danach das Bundesgericht die Auffassung des Überwachungsdienstes stützen, ist ein Weiterzug bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgesehen.
Weil die massgeblichen Grundrechte nicht nur in der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern auch in der schweizerischen Bundesverfassung verankert sind, sollte der Gang nach Strassburg nicht nötig sein.
Die Schweiz kennt zwar keine Verfassungsgerichtsbarkeit; die heute praktizierte Vorratsdatenspeicherung ist aber bereits unter dem Blickwinkel einer verfassungskonformen Auslegung des Bundesgesetzes abzulehnen. Denn das Gesetz erwähnt lediglich pauschal «Verkehrs- und Rechnungsdaten» und hält im Unterschied zur EU-Richtlinie (in Artikel 5) nicht fest, welche Daten genau darunter zu verstehen sind.
Gesetzgeber will Verfassung nicht respektieren
Ungeachtet all dessen laufen die politischen Bestrebungen in der Schweiz aktuell in eine ganz andere Richtung, nämlich hin zu einem Ausbau der Vorratsdatenspeicherung: Der Ständerat hat am 10. März 2014 mit 22 zu 14 Stimmen der Verdoppelung der Aufbewahrungsdauer von 6 auf 12 Monate zugestimmt, wobei auch die Minderheit für eine Erhöhung (auf 8 Monate) votierte. Die vorberatende Kommission des Nationalrates hat sich an ihrer Sitzung vom 23. Januar 2015 mit 15 zu acht Stimmen einer Verdoppelung der Aufbewahrungsdauern angeschlossen.
Nachrichtendienstgesetz sieht weiter gehende Überwachung vor
Am 17. März hat der Nationalrat darüber hinaus dem Nachrichtendienstgesetz, das weitere Formen der Überwachung einführen will, mit 117:65 Stimmen zugestimmt. Der Ständerat muss noch darüber entscheiden.
Von diesem Parlament ist nicht zu erwarten, dass es die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger respektiert.
Leider ist zu befürchten, dass der Terroranschlag auf das Redaktionsbüro von Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 als Argument für den Ausbau der Vorratsdatenspeicherung missbraucht wird. Wenn überhaupt, wäre das Beispiel Frankreich eher als Argument gegen die Vorratsdatenspeicherung tauglich: Frankreich hatte die Vorratsdatenspeicherung 2006 eingeführt und speichert nach wie vor unabhängig von einem konkreten Verdacht die gesamten Randdaten der Bürger über einen Zeitraum von zwölf Monaten.
Wie sagte es der amerikanische Staatsmann Benjamin Franklin? «Wer wesentliche Freiheit aufgeben kann, um eine geringfügige bloss jeweilige Sicherheit zu bewirken, verdient weder Freiheit noch Sicherheit

Dieser Beitrag erschien in der März-Ausgabe von «Mensch und Recht»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor Ludwig A. Minelli ist verantwortlicher Redaktor der Quartalszeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention «Mensch und Recht».

Zum Infosperber-Dossier:

Terrorist

NSA, BND, NDB: Totale Überwachung?

Die Angst vor terroristischen Anschlägen wird als Grund genannt für weitreichende Privatsphäre-Eingriffe.

Privatsphre2

Schutz der Privatsphäre

Internet-Seiten, E-Mails, Telefonanrufe, Handy-Standorte usw. werden flächendeckend erfasst. Wer stoppt´s?

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Eine Meinung zu

  • am 16.04.2015 um 12:58 Uhr
    Permalink

    Früher waren’s die Fichen, erstellt von einem Heer von Spitzeln, heute sind es die individualisierten elektronisch übermittelten Daten, erstellt von Algorithmen, welche den Betreibern (und den Hackern!) sofort aus den dafür erstellten Servern zur Verfügung stehen. Warum fichierte man und warum schnüffelt man heute im Datennetz?

    Die Regierung hat Angst vor dem Volk! Begründete Angst. Das Volk ist von Demagogen verführbar. Das Volk ist gespalten: Eine Hälfte verachtet die Regierung, weil sie sich nicht mit ihren Problemen befasst und keine Verbesserung ihrer Lebensqualität zustande bringt, die andere hat Angst vor ihr, weil sie jede Veränderung des Status quo vermeiden will. Deshalb sorgen die Demagogen für Ablenkung von den wichtigen Dingen und lenken die politische Aktivität auf Null-Nummern, wie Minarette und Überfremdung. Die Regierung wird manipuliert und damit noch verächtlicher. Sie versucht sich zu wehren, indem sie den „Souverän“ analysiert.

    Die Schweiz ist ein Staat wie jeder andere: ein Opfer des Spiels von Mächtigen und Ängstlichen mit einer immer grösser werdenden Zahl von Gleichgültigen, die sich nicht einmal mehr als Zuschauer mobilisieren lassen. Netzspionage bringt gar nichts! Die Gleichgültigen und die Ängstlichen liefern keine verwertbaren Daten und die Mächtigen kennt man ohnehin, inklusive Namen, Adressen und Steuerschulden.

    Die Regierung sollte den Ängstlichen Mut und den Mächtigen Angst machen um die Demokratie zu retten. Das geht ohne Netzspionage.

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