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Nächtliche Sitzungen an der Falkenstrasse in Zürich © NZZ

Die NZZ-Redaktion wehrt sich öffentlich

Christian Müller /  Seit über hundert Jahren wurde kein NZZ-Chefredaktor mehr gefeuert und noch nie hat die Redaktion so rebelliert. Zeichen der Zeit!

Das hätte wohl niemand erwartet: Die NZZ-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter protestieren öffentlich gegen den eigenen Verwaltungsrat!

Spätestens nachdem der Chefredaktor der Basler Zeitung, Markus Somm, nach eigener Einschätzung ein «Statthalter» Blochers, am Montag formell die Gespräche zwischen dem NZZ-Verwaltungsrat und ihm bestätigt hat – gleichzeitig mit dem Entscheid, «nach reiflicher Überlegung» die Position des NZZ-Chefredaktors nicht antreten zu wollen – war an der Falkenstrasse in Zürich definitiv Feuer im Dach. Und nicht nur im Hause selbst. Innerhalb von wenigen Stunden war ein Brief an den Verwaltungsrat geschrieben und von über 60 Korrespondenten der NZZ im In- und Ausland namentlich unterschrieben. Wörtlich stand da der Satz: «Auch nach der Absage von Somm sind wir tief besorgt über die Zukunft der NZZ. Sollte sich die politische Richtung, in der offenbar nach einem neuen Chefredaktor gesucht worden ist, bestätigen, so verurteilen wir diese Pläne in aller Schärfe.» (Siehe den genauen Wortlaut des ganzen Briefes unten unter «Weiterführende Informationen», zum Einsehen und/oder zum Downloaden.)

Und am Dienstag, nur eine – für viele schlaflose – Nacht später, stellte sich auch die ganze NZZ-Redaktion hinter diesen Brief – mit über 160 zusätzlichen Unterschriften! «Mit der Wahl eines Chefredaktors mit nationalkonservativer Gesinnung würden die liberale Publizistik und Kultur der NZZ unter die Räder geraten. Dagegen wehren wir uns mit allem Nachdruck.» (Auch dieser Brief ist unten einsehbar, inkl. die Namen der Unterzeichner.)

Was auffällt: Ausgerechnet die drei Stellvertretenden Chefredaktoren und die Ressortleiter Ausland, Inland, Wirtschaft, Feuilleton etc, haben den Brief nicht mitunterzeichnet. Höhere Loyalität der Kadermitarbeiter gegenüber dem obersten Gremium des Unternehmens? «Nein», sagt einer der Unterzeichner, der Brief soll «deutlich machen, dass er von jedem einzelnen freiwillig unterzeichnet worden ist, ohne Druck seines Chefs. Es stehen die Namen von über 90 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf dem Papier. Alle haben freiwillig unterschrieben! Die Stellvertretenden Chefredaktoren und Ressortleiter werden ihren Protest auf ihrer Ebene zu formulieren wissen.» Und ein anderer Unterzeichner meinte: «Das ist Absicht. Es sollte wirklich ein Protest der ‹Indianer› sein.»

(Dass die Ressortleiter nicht mitunterschrieben haben, könnte allerdings auch einen anderen Grund gehabt haben. Siehe dazu den Artikel «Mey mischelte mit» vom 18.1.2015.)

Die beiden Briefe können, inklusive der Namen der Unterzeichner, auch auf NZZonline eingesehen und downgeloadet werden.

Und was sagt der Verwaltungsratspräsident zu diesem öffentlichen Protest? Etienne Jornod weilt, dem Vernehmen nach für drei Wochen (!), im Fernen Osten – für die Firma Galenica, an deren Spitze er ebenfalls steht.

Wohltuende Worte zum Auftakt des Wahljahres

Die vermutete Absicht des Verwaltungsrates, mit der Einsetzung eines «nationalkonservativen» – sprich: SVP-nahen – Chefredaktors im Hinblick auf die National- und Ständeratswahlen vom 18. Oktober 2015 ein Zusammenrücken von FDP und SVP zu ermöglichen bzw. publizistisch aktiv zu fördern, ist mit dieser Geschichte nicht nur sichtbar geworden, sondern schon mal grandios gescheitert. Das ist, zum Auftakt des Wahljahres, immerhin eine positive Nachricht. Denn die Pressefreiheit darf nicht, wie der deutsche Journalist Paul Sethe es schon vor ein paar Jahrzehnten einmal prägnant formulierte, «die Freiheit von 200 reichen Leuten (sein), ihre Meinung zu verbreiten.»

Ältere Semester unter den Journalisten erinnern sich in diesen für die NZZ wahrhaft dramatischen Tagen aber nicht nur an Paul Sethe. 1969 kam von US-Autor Clay Blair das Buch «The Board Room» heraus, ein Jahr später auch auf deutsch: «Die Aufsichtsratssitzung». Eine unheimlich spannende Geschichte über eine interne Auseinandersetzung – mit Chefredaktorenwechsel! – in einem Medienhaus. Damals Pflichtlektüre für jeden «Journi». Ein Tipp für die NZZ-Feuilleton-Redaktion: Das Buch liest sich auch heute noch mit Gewinn, denn das Thema «freie Publizistik» versus «kommerzieller Profit» ist aktueller denn je.


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6 Meinungen

  • am 17.12.2014 um 13:02 Uhr
    Permalink

    Bei der NZZ ist das Aktionariat breit gestreut, es herrschen keine Sika-Verhältnisse, ansonsten kämen die Mehrheitsaktionäre aufgrund dieser Proteste auf die Idee, die NZZ bereits heute ins Ausland zu verkaufen!

  • am 17.12.2014 um 13:39 Uhr
    Permalink

    Interessant ist durchaus, dass die internen Papibili ("ausgerechnet die drei Stellvertretenden Chefredaktoren und die Ressortleiter Ausland, Inland, Wirtschaft, Feuilleton etc, haben den Brief nicht mitunterzeichnet. Höhere Loyalität der Kadermitarbeiter gegenüber dem obersten Gremium des Unternehmens?") den Brief nicht mitunterzeichnet haben. Klar, man will sich ja seine eigenen Chancen nicht unnötig verbauen! Fragt sich nur, ob ein solcher Kandidat der NZZ zum Vorteil gereichen würde. «Wer in die Spuren seiner Vorgänger tritt, hinterlässt keine Spuren!"
    Liebe verantwortliche Redaktoren: «the train has left the station», Sie hätten durchaus unterschreiben können!

  • am 17.12.2014 um 14:42 Uhr
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    Dem Herrn Düggelin sollte man ein Schreibverbot geben.

  • am 17.12.2014 um 15:35 Uhr
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    @Jan Muschg: vielen Dank für Ihren netten Feedback. Können Sie mir dies erklären?

  • am 17.12.2014 um 16:01 Uhr
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    Es ist schon interessant wie sich die linke presse sorgen macht um ein traditionell rechtes (FDP) Blatt !
    Mit was ist diese Angst begründet ?
    Der Verwaltungsrat hat schon mal die Druckerei vorsorglich „abgeschossen“ obwohl die Besitzer der NZZ auf keine „Verluste“ sitzen.
    Was hindert sie nun daran die ganze NZZ abzuschaffen ? Die Zukunft ist sowieso düster für die gedruckte Presse und diese Situation wäre der idealer Zeitpunkt.
    Und „Erpresserische-droh-gebärden“ bringen bei den „rechten“ sowieso nichts.

    Ich würde mass halten wenn ich da Mitarbeiter wäre und nicht plötzlich auf die Strasse landen will !

  • am 17.12.2014 um 17:41 Uhr
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    Ich bin echt baff erstaunt darüber, was Christian Müller unter Pressefreiheit versteht.
    Was um Himmels willen soll das Bestreben mit Freiheit zu tun haben, die Reichen von der Möglichkeit fernzuhalten, ihre Meinung zu verbreiten?!?!
    Diese 220 NZZ-ler, welche die Bandbreite der verschiedenen Meinungen weiterhin beschneiden wollen zugunsten einem ihrer Ansicht nach einzig zulässigen Meinungsspektrum haben damit ihren bedenklich einseitigen Scheuklappenblick erfreulicherweise gnadenlos offengelegt.

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