Flaschensammeln zum Überleben
Es ist Samstagabend an der Warschauer Strasse in Berlin. Touristenmassen sind unterwegs, um Party zu feiern. Dazwischen ein jüngerer Punk, der ganz unauffällig einen Papierkorb checkt. Er holt gezielt zwei Plastikflaschen heraus, die jemand dort als wertlosen Müll hineingeworfen hat. «Nee, ein Penner bin ich nicht» rechtfertigt sich Roland S. «Aber ein Zubrot kann ich gut gebrauchen.»
Pfandflaschen bringen Geld
In Deutschland ist jede Petflasche auch eine Pfandflasche. Bringt man sie zurück, erhält man je nach Flasche 8, 14 oder 25 Cent. Roland S. bewertet die beiden Flaschen mit professionellem Blick. Pro Nacht, in der er intensiv Flaschen sammelt, macht dies für den arbeitslosen Hartz IV Empfänger rund 20 Euro aus, die er einnimmt, wenn er die Flaschen bei einem der automatischen Rückgabeautomaten zurückgibt – zum Beispiel beim Supermarkt von Kaisers, wo die Flaschen automatisch sortiert werden.
Pfandflaschensammeln ist in unserem Nachbarland seit 2003 ein Thema, als ein Pflichtdepot auf Einweggetränkeverpackungen erlassen wurde. Heute sind alle Händler mit einer Verkaufsfläche über 200 Quadratmeter verpflichtet, jene Getränkeverpackungen zurückzunehmen, deren Materialart in ihrem Sortiment vorkommt.
Flaschensammler sind nicht einfach Bettler
Das hat die Sammler auf den Plan gebracht, die überall, wo Petflaschen liegen gelassen wurden, aktiv werden. Es sind dabei nicht einfach Obdachlose, die im Müll wühlen, um an die Flaschen zu kommen. Viele Sammler wie Roland S., die schmal durchs Leben müssen, weil sie auf Sozialhilfe angewiesen sind, kommen auf diese Weise zu einem steuerfreien Zusatzverdienst. So sieht man vor allem am Wochenende auf der Strasse Leute mit Plastiksäcken, Taschen oder sogar Einkaufswagen voller Flaschen.
Wer sich ein Getränk gekauft hat, legt die leere Flasche oft bewusst auffällig neben den nächsten Papierkorb. Walter K. dazu: «Das ist doch gut so. Die brauchen das Geld, und ich kann etwas Gutes tun. Ist besser als alle diese Bettler, die nur die Hand ausstrecken. Denn die Sammler tun ja was für die Öffentlichkeit.»
Das Sammeln von Petflaschen ist in Deutschland zu einer Erfolgsgeschichte geworden. Es findet sogar wissenschaftliches Interesse. Eben ist eine Dissertation über dieses Phänomen erschienen. Nach Sebastian J. Moser ist es nicht allein das Geld, das auf der Strasse liegt und deshalb Sammlerinnen und Sammler anzieht. Für viele, die keine Arbeit haben, steht die feste Beschäftigung im Mittelpunkt. Er betont: «Das Pfandsammeln bietet Menschen, für die die Ausfüllung von freier Zeit ein zentrales Problem darstellt, eine Lösung dar.» Pfandsammeln ermöglicht damit jenen Menschen eine sinnvolle Zeitgestaltung, denen die Arbeit als Tagesstruktur fehlt.
Das saubere Bild der Städte wird gestört
Nicht alle Städte sind allerdings mit den Flaschensammlern glücklich. Denn sie machen die Armut sichtbar und stören das gepflegte Image der Städte. Und sie entsprechen dem Bild von Müllsammlern in der Dritten Welt, das nicht in unsere Wohlstandsgesellschaft passt. So hat Hamburg 60 Hightech-Kübel aufgestellt, welche den Abfall mit einer integrierten solarbetriebenen Presse pressen. Eine Klappe verhindert, dass man nach Essbarem oder nach Flaschen suchen kann.
Zudem gibt es auch in vielen Städten Verordnungen, die den Umgang mit Abfallbehältern streng regeln. Die Stadt Gotha legt z.B. fest: «Abfallbehälter sowie Wertstoffcontainer (z. B. für Glas, Textilien, Altpapier) dürfen grundsätzlich nicht durchsucht, Gegenstände daraus nicht entnommen oder verstreut werden.»
Kein Umstieg auf Mehrwegflaschen
Kritiker zweifeln auch am Erfolg des Pfandes für Einwegflaschen. Denn man wollte durch die Verteuerung durch das Depot gezielt den Umstieg auf die Mehrwegflasche fördern. Doch das Umgekehrte ist eingetroffen: Der Anteil der Mehrwegflaschen ist von 54 Prozent auf unter 40 Prozent gesunken.
Dennoch bewertet der ehemalige grüne Umweltminister Jürgen Trittin die Vorteile dieser Massnahme höher. Dadurch seien die Getränkedosen weitgehend verschwunden. Trittin hält fest: «Strassenränder, Parks und Wälder werden nicht mehr vermüllt. »
Warum nicht auch in der Schweiz?
Auch ohne Depot für Einwegflaschen funktioniert das Recycling von PET-Flaschen in der Schweiz recht gut. 2013 wurden nach der Branchenorganisation PET-Recycling Schweiz 47‘935 Tonnen an Getränkeflaschen abgesetzt. 8 Prozent davon wurden zurückgegeben. Dennoch könnte man mit dem Mittel des Pfandes diese Zahl noch erhöhen und die Attraktivität der Alu-Dosen verkleinern. Je besser dies gelingt, desto positiver ist das für die Umwelt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Unsere Rücknahmequoten sind immer ganz knapp genügend…vor allem, weil IGORA auch die Gemeinden zwingt, die von ihnen zusammengelesenen Dosen und Flaschen ins Recycling-System einzuspeisen. Das macht hunderte von Tonnen aus, die – durch teures Steuergeld finanziert – gesammelt oder auf den Werkhöfen sortiert werden. Ein Depot auf Getränkeverpackungen löst die meisten Probleme. Bei jedem Grenzübertritt nach Deutschland staune ich immer wieder, wie sauber dort alles ist….
Wenn Leute für 1,5 l kalten Tee mit viel Zucker fast 3 Fr. bezahlen, könnten sie doch wohl auch noch 1 Fr. Depot bezahlen. Es lebe das saubere Hahnenwasser in der individuellen Trinkflasche!