Wer, ganz nebenbei, ist «die Wirtschaft»?
Der Satz steht in deren «Leitlinien der Wirtschaft» für Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik. Nebst vielen anderen Sätzen, welche die Economiesuisse am Mittwoch 1. Oktober 2014 vorgestellt hat. Die Aussage scheint auf den ersten Blick einleuchtend, beim genaueren Hinsehen ordnet sie allerdings die Berufsbildung ganz selbstverständlich «der Wirtschaft» unter. Das will nicht so ganz zu einem anderen, fast visionären Satz von Ulrich Jakob Looser passen. Der Präsident der Kommission für Bildung und Forschung der Economiesuisse postuliert nämlich auch: «Bildung soll den Menschen zu einer selbstbestimmten Lebensweise befähigen.» Die Frage ist nur, wann diese Selbstbestimmung beginnen soll, vor oder nach der heute bei jeder Gelegenheit geforderten lebenslänglichen Bildung, und wo sie tatsächlich praktiziert werden kann, die Selbstbestimmung.
Ich bin auch Wirtschaft
Vor allem aber fragt sich, wer eigentlich diese «Wirtschaft» ist, an deren Bedürfnissen sich – (noch) im Gegensatz zur Universität – Fachhochschulen (und Berufsbildung insgesamt) orientieren sollen, wie es, laut «Tages-Anzeiger», sowohl der Schweizerische Gewerbeverband SGV als auch, eben, die Economiesuisse verlangten? Und wie äussert dieses ominöse Subjekt seine Bedürfnisse?
Im «Duden – Deutsches Universalwörterbuch» wird Wirtschaft definiert als «Gesamtheit der Einrichtungen und Massnahmen, die sich auf Produktion und Konsum von Wirtschaftsgütern beziehen». Auch wenn diese Erklärung kein eindeutig erkennbares Subjekt benennt, wird immerhin klar, Wirtschaft hat (zumindest nach Duden) sowohl mit der KonsumentInnen- als auch mit der ProduzentInnenseite zu tun. Und letztere setzt sich aus ArbeitnehmerInnen (die auch schon Lohnabhängige genannt wurden) und ArbeitgeberInnen (=KapitalistInnen) zusammen. Die Bedürfnisse dieser, grob, drei Gruppen können, bekanntlich, nicht immer harmonisiert werden.
Aber wo immer «die Wirtschaft» ins Spiel kommt, schrumpft dieses komplexe Subjekt ganz selbstverständlich auf das kleine Grüppchen der durch Economiesuisse und Gewerbeverbände vertretenen ArbeitgeberInnen zusammen. Bei denen, die in seinem Namen reden, ebenso wie bei jenen, die es bekämpfen. Und nur selten ruft jemand zaghaft: Ich bin auch Wirtschaft.
Der zwiespältige Ruf nach Praxisorientierung
Wenn die Berufsbildung auf ihre Stärke – «die Nähe zur beruflichen Praxis» – verwiesen und die Berücksichtigung des «Qualifikationsbedarfs der Wirtschaft» bei der «Gestaltung der Ausbildung» eingefordert wird, sind damit kaum die Bedürfnisse von Lohnabhängigen und KonsumentInnen gemeint. Und wenn der Berufsbildung die «Arbeitsmarktbefähigung als zentrale Zielsetzung» ins Auftragsbuch geschrieben wird, verkommt die hehre Bildung zur blossen Ausbildung. Wobei nicht einmal ganz klar ist, auf welchen Arbeitsmarkt die beliebte Formel «Fit für den Job» zielt – den von gestern, heute oder übermorgen?
Die Krux des beliebten und vorerst durchaus verständlichen Rufs nach Praxisorientierung ist, dass aus diesem Blickwinkel die Anstrengungen des Lernens tendenziell nur als sinnvoll erscheinen, wenn sie der Kompetenzerweiterung im beruflichen Alltag dienen. Das heisst, der Vorrang der (nützlichen) Praxis vor der (unnützen) Theorie dient nicht in erster Linie dem künftigen (Berufs-)Leben der SchülerInnen, das heisst der «selbstbestimmten Lebensweise» (Looser, Economiesuisse) des lernenden Subjekts, sondern der (kurzfristigen) Produktivität ihrer Betriebe. Das beweist unter anderem der Umstand, dass im industriellen Sektor sehr viel mehr Lernende ausgebildet als hinterher als Berufsleute angestellt werden, während die Situation im Dienstleistungssektor gerade umgekehrt ist.
Duale Berufsbildung heisst Theorie und Praxis
Eine wirklich duale Berufsbildung vereinigt «Theorie» und «Praxis» zu einem ganzheitlichen Ansatz. Das ist aber nur möglich, wenn sich Schule und Wirtschaft (in ihrer Vielfalt) als gleichberechtigte PartnerInnen auf Augenhöhe treffen. In der alltäglichen Praxis aber gebärden sich Betriebe gerne als Auftraggeber der Schule – von der Einmischung in die Unterrichtsgestaltung bis hin zum auch schon praktizierten Versuch von Wirtschaftsverbänden im engeren Sinne, Fragen für Abschlussprüfungen vorzuformulieren. Umgekehrt verböten sich die allermeisten Unternehmen jede Einmischung der Schule in «Betriebsinterna» (Ausbildungskonzept, Umgang mit und Arbeitseinsatz von Lernenden beispielsweise).
Wenn die Economiesuisse, vermutlich als Seitenhieb gegen den «Lehrplan 21», verlangt «Die obligatorische Schule darf keine Spielwiese für ideologisierte Vorstellungen sein», meint sie kaum, der technische Fortschritt und das wirtschaftliche Wachstum dürften in der Schule nicht unkritisch als sich für alle Zeiten fortschreibende Entwicklung propagiert werden. Denn genau das verlangt sie in ihrem Bildungspapier: «Der ‹Lehrauftrag› der Schule umfasst auch die Förderung einer positiven Einstellung gegenüber dem technischen Fortschritt generell und technischen Berufen im Speziellen.» Ganz ideologiefrei.
Der Ruf nach stärkerem Praxisbezug meint eine ganz bestimmte Praxis, und das Schlagwort von der «Verakademisierung» zielt darauf ab, einseitig jene Theorie, die auch kritische Reflexion gegenwärtiger Praxis beinhaltet, auszuschalten. Wäre das nicht der Fall, müsste auch die umgekehrte Bewegung denkbar sein – dass sich wirtschaftliche Praxis aufgrund theoretischer Erkenntnisse und Reflexionen der beruflichen Bildung anpasste, möglicherweise hin zu einer Wirtschaft, die grössere Zukunftschancen hätte als jene, die sich kurzsichtigen Wachstums- und Profitinteressen unterwirft.
Wenn alle Stimmen «der Wirtschaft» zu Wort kämen
Dann aber müsste sich dieses ominöse Subjekt Wirtschaft in seiner konflikthaften Vielstimmigkeit äussern, und auch jene, für die Berufsbildung vor allen anderen gedacht ist, müssten an der Formulierung der Anforderungen an Berufs- und Fachhochschulen sowie an Ausbildungsbetriebe beteiligt werden – die Lernenden und Studierenden. Ihre Bedürfnisse, Visionen und Interessen müssten ebenso sehr in die «Gestaltung der Ausbildung» einfliessen wie der «Qualifikationsbedarf» der ganzen Wirtschaft. Damit die Berufsbildung nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch ihrer (künftigen) Lebens- und Berufspraxis dient und auf dass der als Einstiegsmotto in den «Leitlinien der Wirtschaft» auch zitierte Satz von Heraklit von Ephesos (ca. 520 – 460 v. Chr.) im 21. Jahrhundert n. Chr. doch noch Wirklichkeit wird: «Bildung ist nicht das Befüllen von Fässern, sondern das Entzünden von Flammen.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Jürgmeier war lange Jahre Lehrer und Leiter Allgemeinbildung an einer Berufsfachschule.