China: Der fetteste Tiger sitzt in der Falle
Gerüchte zirkulierten seit anderthalb Jahren. In Parteikreisen so gut wie in den sozialen Medien. Im Internet allerdings wurde und wird die Gerüchteküche bei sensitiven Themen ruckzuck unterbunden. Doch unter den Laobaixing, den Durchschnittsbürgern, blieb die Causa des grossen Tigers Zhou Yongkang neben dem Wetter der tägliche Gesprächsstoff. Auf der Internet-Suchmaschine Baidu, dem chinesischen Google-Ersatz, war der Suchbegriff «Zhou» gesperrt. Nach kurzer Zeit auch der Alternativbegriff «Meister Kang» oder «Nudelgericht». Denn Meister Kang ist auch ein populäres Instant-Nudelgericht. Zudem erinnert Kang an den Geheimdienstchef Maos, den berüchtigt-brutalen Kang Sheng.
Ein historischer Prozess
Ende Juli war es dann soweit. Die amtliche Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China) verkündete offiziell, dass Zhou Yongkang sich wegen «schwerwiegender Verstösse gegen die Parteidisziplin» vor der Disziplinarkommission des Zentralkomitees verantworten müsse. Dass der Fall ernst ist, ergab sich auch daraus, dass Zhou im Xinhau-Communiqé nicht mehr als «Genosse» bezeichnet wurde. «Verstoss gegen die Parteidisziplin» heisst im Klartext nichts weniger als Korruption. Nie mehr seit dem Ende der Grossen Proletarischen Kulturrevolution (1966–76) wurde deswegen ein Parteimitglied aus dem innersten Machtzirkel verhaftet. Das letzte Mal geschah dies nach Maos Tod 1976. Damals wurde im Oktober die von Jiang Qing, der Ehefrau des «Grossen Steuermanns» geführte berüchtigte Viererbande verhaftet, darunter zwei Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros.
Der heute 71 Jahre alte Zhou Yongkang war ein mächtiger Mann. Jahrzehntelang galt er als «Gottvater» der chinesischen Ölindustrie. Ab 2002 sass er im Politbüro und danach von 2007 bis 2012 im Ständigen Ausschuss, also im allerhöchsten Machtgremium der Volksrepublik. Insbesondere war er fünf Jahre lang zuständig für die Innere Sicherheit Chinas und verfügte am Ende seiner Amtszeit im November 2012 über ein Budget, das grösser war als jenes der Volksbefreiungsarmee.
Xi Jinping räumt auf
Als das Zentralkomitee am Parteitag im November 2012 Xi Jinping zum Parteichef wählte, begann – damals noch nicht wahrnehmbar – der Abstieg von Meister Kang. Xi ist zwar ebenfalls ein «Prinzling», also Sohn eines verdienten Revolutionärs und Kampfgenossen von Mao. Doch Xi «ass» in seiner Jugend auch «Bitterkeit», wie es nach einem chinesischen Sprichwort heisst. Sein Vater fiel während der Kulturrevolution als Klassenfeind in Ungnade, der junge Xi wurde «aufs Land geschickt», wo er Schweinekoben ausmistete und «vom Volke lernte». Bei seinem Aufstieg in der Partei bewies Xi sich als Gouverneur und Parteichef, unter anderem in der kapitalistischen Boom-Provinz Zhejiang und in der Wirtschafts- und Finanzmetropole Shanghai.
Kaum an der Macht, enfachte Xi Jinping eine Anti-Korruptions-Kampagne. Wie seine beiden Vorgänger Hu Jintao und Jiang Zemin erkannte Xi, dass Korruption für die Partei «ein Krebsübel» sei und mithin das Überleben der allmächtigen KP bedrohe. «Fliegen und Tiger», dekretierte der Partei-Supremo, müssten streng nach dem Gesetz verfolgt werden. Tausende und Abertausende von «Fliegen», also untere und mittlere Parteikader, wurden wegen Korruption belangt und aus der Partei ausgestossen.
Prominente «Tiger» hinter Gittern
Der erste grosse «Tiger», der den neuen Wind wohl unterschätzt hatte, war Bo Xilai, Politbüromitglied, ehemaliger Bürgermeister von Dalian, ehemaliger Handelsminister und als Parteichef der 30-Millionen Metropole beim Volk äusserst beliebt. Bo sitzt nun wegen Korruption und Machtmissbrauch eine lebenslängliche Haftstrafe ab.
Bo Xilai galt als Schützling von Zhou Yongkang. Die Hongkonger Tageszeitung «South China Morning Post» unterstellte dem charismatischen Bo und Sicherheitschef Zhou, der hinter den Kulissen die Fäden zog, sogar Putschgelüste kurz vor der Inthronisierung Xi Jinpings zum neuen Parteichef. Das sind jedoch nur Spekulationen und Gerüchte. In den letzten 18 Monaten wurde aber deutlich, dass aus dem Umfeld von Zhou immer mehr hochrangige Figuren unter die Räder kamen. Der Vize-Parteichef der Rohstoffreichen Provinz Sichuan, Li Chuncheng, zum Beispiel wurde im Dezember 2012 verhaftet. Im Jahr darauf wurden im Dunstkreis der einst von Zhou dirigierten Erdöl-Industrie mehrere prominente Partei- und Wirtschaftskader verhaftet. Im Februar dieses Jahres schliesslich wurde Li Dongshing, der frühere Vizeminister für öffentliche Sicherheit, wegen Korruption angeklagt.
Auch bislang als honorig geltende Geschäftspartner der fehlbaren Polit-Grössen wurden zur Verantwortung gezogen. Der berühmteste Fall: Liu Han, der in der Provinz Sichuan zwei Jahrzehnte lang in einem Mafia-ähnlich aufgezogenen Firmen-Konglomerat knallhart die Fäden zog und steinreich wurde. Die Staatsmedien berichteten ausführlich über seine zahlreichen Missetaten. Liu wurde schliesslich wegen neun Morden zum Tode verurteilt.
Schatzkammern der Funktionäre
Die chinesischen Staatsmedien sind in Korruptionsfällen nicht besonders erhellend. Grobe Geschäftszahlen und immer wieder die genaue Zahl der Konkubinen werden dargestellt – stets mit dem Unterton der moralischen Empörung. Ausländische Medien versuchen über öffentlich zugängliche Daten etwas Licht ins Dunkel der Korruption zu bringen. Die Gross-Familie von Zhou Yongkang soll nach Recherchen der «New York Times» über ein Vermögen von 160 Millionen US-Dollar verfügen, Immobilien und Auslandguthaben nicht eingeschlossen. Die britische Nachrichtenagentur Reuters schätzt, dass die Behörden von Mitgliedern der Zhou-Familie und dem weiten Zhou-Umfeld insgesamt 90 Milliarden Yuan Renminbi (umgerechnet rund 13 Milliarden Schweizer Franken) beschlagnahmt hätten. Dreihundert Personen sollen involviert sein.
Auch über andere hohe Parteiführer gibt es Spekulationen. Die «New York Times» bezifferte das Vermögen der Familie des ehemaligen Premiers Wen Jiabao auf 2,7 Milliarden US-Dollar. Der beim Volk beliebte und als integer geltende Wen dementierte umgehend. Die Partei bezeichnete den NYT-Bericht als frei erfunden und in der Absicht geschrieben, China zu schaden.
Warnung des Saubermanns
Selbst über Xi Jinpings Vermögen spekulieren westliche Medien. Die Wirtschafts-Nachrichtenagentur Bloomberg schätzt aufgrund von öffentlich zugänglichen Dokumenten das Netto-Vermögen der Familie Xi auf 346 Millionen US-Dollar. Aktenkundig sind laut Bloomberg indes nur Xis ältere Schwester, deren Mann und weitere Verwandte, nicht aber Xi selber, dessen Frau und Tochter. Auch der Bloomberg-Bericht wurde von der Partei als haltlos und bar jeder Grundlage bezeichnet.
Parteichef Xi hat, wenn nicht alles täuscht, eine reine Weste. In der jetzigen Anti-Korruptions-Kampagne wird immer wieder eine Rede zitiert, die Xi als Parteichef der südöstlichen Provinz Zhejiang schon vor zehn Jahren gehalten hat. Dort im Umfeld der besonders boomenden «sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung» hätte er sich wohl leicht bereichern können. Xi sagte jedoch an einer Parteikonferenz laut und deutlich: «Haltet eure Ehefrauen, Kinder, Verwandten, Freunde und Angestellten im Zaum und verpflichtet euch, nicht Macht für persönlichen Gewinn zu missbrauchen.» Eine solche Warnung, für die damalige Zeit politisch völlig inkorrekt, verlangt einiges an Mut.
Politische Konsequenzen
Die Anti-Korruptions-Kampagne und der Fall des «grossen Tigers» Zhou haben wirtschaftliche und politische Konsequenzen. China ist derzeit nach 35 Reformjahren in einer wichtigen Phase seiner wirtschaftlichen und politischen Entwicklung: im Übergang von der export- und investitionsabhängigen Wirtschaft hin zu einem nachhaltigeren, umweltschonenden Modell basierend auf mehr Konsum und Binnennachfrage. Dabei werden alteingesessene Interessen tangiert, zum Beispiel in den Staatsbetrieben. Die Erdöl- und Erdgasindustrie von Tiger Zhou sind ein bekanntes Beispiel.
Die Staatsmedien warnen kurz vor dem Parteiplenum nicht von ungefähr vor «Korruptions-Tigern», die gegen die Anti-Korruptions-Kampagne zurückschlagen könnten. In der Volkstribüne, einem Magazin des Parteisprachrohrs «Renmin Ribao» (Volkszeitung), hiess es: «Im Bemühen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, könnten einige die Ausrede gebrauchen, die Kampagne beschädige das Image der Partei und beeinträchtige die soziale Stabilität. Andere wiederum könnten sich mit alteingesessenen Interessen zusammentun, um gegen die Anti-Korruptionskräfte bis zum Tod zu kämpfen.»
Das sind für chinesische Verhältnisse mehr als deutliche Worte. Bis in den Herbst hinein wird nun «hinter dem Vorhang» Politik betrieben. Noch vor dem entscheidenden 4. Parteiplenum im Oktober sollte das Schicksal Zhou Yongkang besiegelt sein. Die Haupttraktanden des Pekinger Parteiplenums: Rechtssicherheit (Rule of Law) und ökonomische Strukturreformen.
Xi Jinping reitet den Tiger
Ob sich Staats- und Parteichef Xi Jinping mit seinem Kampf gegen Korruption und seinen geplanten Wirtschaftsreformen durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Doch die Parteizeitung «Renmin Ribao» (Volkszeitung) warnt Xis Gegner innerhalb der Partei schon jetzt: «Wenn es um Recht und Parteidisziplin geht, sollte niemand darauf wetten, dass er ungeschoren davon kommt. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass es vor dem Recht irgendwo eine sichere Zuflucht gibt.»
Im übrigen sind Tiger im chinesischen Denken wohl gelitten. Es sind zwar auch hohe Beamte, aber schlecht sind nur die korrupten Tiger. Der Tiger ist eines der zwölf chinesischen Tierkreiszeichen. Er gilt als wagemutiger Draufgänger, der bis zum letzen kämpft, wenn er von einer Sache überzeugt ist. Das trifft genau auf Xi Jinping zu. Er reitet sozusagen den Anti-Korruptions-Tiger. Ein altes chinesisches Sprichwort jedoch warnt: «Wenn man den Tiger reitet, kann man schwer absteigen» (Qi Hu, Nan Xia). Denn sobald man absteigt, wird man vom Tiger zerrissen. Solange man jedoch oben sitzt, hat man die Situation unter Kontrolle. Xi Jinping reitet noch bis zum Ende seiner Amtszeit, dem Jahr 2022. Es wird das Jahr des Tigers sein.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.