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Vom Objekt zum Subjekt des Lernens © barockschloss/flickr/cc

Kompetenz- und andere Hochstaplergeschichten

Jürgmeier /  Sinkendes Niveau. Höhere Effizienz. Der Streit ist gross. Z.B. in der «NZZ» vom Montag. Überlegungen zum Kompetenzgerangel

Der Schuster Wilhelm Voigt benötigte 1906 nur eine Uniform, um als Hauptmann von Köpenick in die Geschichte einzugehen. Der Chirurg oder die Chirurgin – die immer wieder Schlagzeilen macht, weil er nach langer Berufstätigkeit als Hochstapler entlarvt wird – muss schon jahre- und jahrzehntelang erfolgreich Nieren operiert und über die entsprechenden Kompetenzen verfügt haben, andernfalls müsste ernsthaft am durchdiplomierten Umfeld gezweifelt werden. Aber, in einer Gesellschaft, die den Ausweis für das Original, den real existierenden Menschen für eine mögliche Fälschung hält, wird er als Betrüger verurteilt.
Unsere Zertifikationskultur basiert auf dem Generalverdacht, Menschen würden nichts lieber tun, als Professionen auszuüben, für die ihnen jede Kompetenz fehlt. Wir gehen davon aus, wir könnten uns mit pseudo-objektiven Auswahl- und Ausschlussverfahren vor unfähigen ZahnärztInnen, FloristInnen und ManagerInnen bewahren. Dies, obwohl das Resultat, vermutlich, nicht signifikant besser ist als wenn die benötigten MaurerInnen und GraphikerInnen unter denen ausgelost würden, die diesen Beruf ergreifen wollen. Dieses Abwehrdispositiv wirkt auf unsere Schule zurück, die nicht nur bildet, sondern auch selektioniert, vielleicht sogar in erster Linie.
Vom Input zum Output
Kompetenz ist das Bildungswort der Stunde. Ein umstrittenes allerdings. Auch die «Neue Zürcher Zeitung» veröffentlicht am 14. Juli 2014 Gegensätzliches. Während sich der Zürcher Pädagogikprofessor Urs Moser nicht vorstellen kann, dass «Effektivität, Effizienz und Gerechtigkeit des Schweizer Bildungssystems in Zukunft» ohne Kompetenz «zuverlässig ausgewiesen und gezielt optimiert werden» können, befürchtet sein deutscher Kollege Jochen Krautz, die Kompetenzorientierung vernachlässige Fachinhalte und führe zu einem sinkenden Bildungsniveau.

Nachdem (Handlungs-)Kompetenzen in der Berufsbildung seit längerer Zeit Standard sind, wird nach dem so genannten «PISA-Schock» auch in Schweizer Volksschulen der Paradigmawechsel von der Input- zur Outputorientierung lanciert. «Beschrieben Lehrpläne bis anhin», steht in der Einleitung zum Lehrplan 21, «welche Inhalte Lehrpersonen unterrichten sollen, beschreibt der Lehrplan 21, was Schülerinnen und Schüler am Ende von Unterrichtszyklen können sollen.» Es genüge nicht mehr, macht der Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz Christian Amsler klar, wenn der in Lehrplänen festgeschriebene Stoff «durchgenommen» worden sei, sondern die Lernenden müssten «in einem umfassenden Sinne kompetent» sein, das heisst, «über das nötige Wissen verfügen und dieses Wissen in einer entsprechenden Situation auch anwenden können» (Blogjournal «Public History Weekly»).
Das hat utopisches Potenzial; eine Schule, in der zählt, was gelernt, nicht was gelehrt wird, in der wirklich gelernt wird und Lernen nicht nur (Unterwerfungs-)Gebärde ist, das wäre eine ganz andere Schule als wir sie kennen. Zu Ende gedacht bedeutet Fokussierung auf den Kompetenznachweis – Schluss mit Präsenzpflicht und Anwesenheitskontrollen. Was zählt, ist die auf individuellem Weg erbrachte Leistung, nicht das kollektive Absolvieren eines normierten Parcours. Vermutlich sind sich die VerfasserInnen von Kompetenzrastern dieses fast schon bildungsrevolutionären Gehalts nicht (immer) bewusst.

Grosse Kritik an der Hinwendung zur Outputorientierung kommt in der Schweiz ausgerechnet von jener Partei, die verlangt, die Volksschule habe Jugendliche besser auf das vorzubereiten, was Berufsverbände und Unternehmen von ihnen erwarteten. Die Kompetenzorientierung gehe «eindeutig zu Lasten von Inhalten», schreibt die SVP 2010 in ihrem Papier «Der Weg zur leistungsorientierten Schule» und fordert ein klares Ja zur messbaren Leistung. Aber es sind ja die Organisationen der Arbeitswelt OdA’s, die in den Bildungsplänen der vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI anerkannten Berufe die (Handlungs-)Kompetenzen vorgeben. Was die SVP absurderweise als Schwäche bemängelt, ist eine zentrale Eigenschaft von Kompetenzen – sie sind der messbare Output von Lernprozessen. Und wenn dem Lehrplan 21 etwas nicht vorgeworfen werden kann, dann sind es fehlende Leistungsanforderungen und Stoffarmut. Mit seinen (inzwischen zwar leicht reduzierten) 500 Seiten und 4500 Kompetenzen wirkt der Anforderungskatalog für VolksschülerInnen so, als erhofften sich seine AutorInnen, Kinder würden künftig mindestens dreissig Jahre zur Schule gehen.

Wenn nur noch das Messbare zählt
Auch wenn Jochen Krautz scheinbar ins gleiche Horn bläst wie die SVP, kommt eine deutlich andere Melodie heraus. «Es geht nicht um Wissen», sagt er im «NZZ»-Interview über den Pisa-Test, der standardisierte Kompetenzen misst, «sondern um die Fähigkeit, sich anzupassen… Dahinter steckt ein ökonomistischer, neoliberaler Glaube.» Die eigentliche Gefahr der konsequenten Outputorientierung ist, dass nur das Messbare und Nützliche (für wen nützlich?) als Resultat von Bildung anerkannt wird.

Als ich (damals in der Funktion als Leiter Allgemeinbildung an einer Berufsfachschule) eine Kollegin darauf aufmerksam machte, sie solle im Fachbereich «Sprache & Kommunikation» nicht ausschliesslich normative Sprachaufgaben stellen, Sprache sei nicht nur, ja, nicht einmal in erster Linie Orthographie&Grammatik, meinte sie, alles andere (z.B. kreative Wortwahl, spannende Erzählung, eigenwillige Argumentation) sei nicht objektiv zu bewerten, deshalb halte sie sich lieber an formale Eindeutigkeiten. Das ist die Kapitulation der Schule vor ganzheitlicher Bildung.
«Warum müssen wir das lernen?» Die Frage kennen, vermutlich, alle Lehrpersonen. Sie entspringt dem Wunsch, etwas für das Leben (welches Leben?) Brauchbares und nicht nur für das im theoretischen Sandkasten Schule Vorgegebene zu lernen. Das Wozu? der SchülerInnen ist zum einen Ausdruck der Unterwerfung unter das Prinzip der Nützlichkeit, insbesondere die ökonomischen Interessen des Betriebs, zum anderen Protest gegen die Bildungsinstitutionen, die verordnen, was nicht verordnet werden kann – das Lernen.
«Bildung selbst in die Hand nehmen»
Dass ich selbst mir das blinde Tippen mit zehn Fingern anhand eines vergilbten Heftes meines Vaters, fern der schulischen Trainings mit Metronom, beibrachte, ist nur ein bescheidenes Beispiel für unser autodidaktisches Potenzial. Wenn aber ganze Gruppen von SchülerInnen ihre «Bildung selbst in die Hand» nehmen und sich ausserhalb der gymnasialen Strukturen (erfolgreich) auf Matur&Abitur vorbereiten, dann wird klar: Es geht auch anders. «Bei ‹methodos›», schreibt Alia Ciobanu – die 2011 dank der 2007 in Freiburg von SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern gegründeten Schule ihr Abitur gemacht hat – in ihrem Buch «Revolution im Klassenzimmer», «wurde das Schüler-Lehrer-Verhältnis nahezu umgekehrt… Die Schüler suchen die Lehrer selbst aus und stellen sie auch an… Sie wollen lernen und bitten den Lehrer darum, ihnen zu helfen.»
Ob Input- oder Outputorientierung – immer wird das zentrale Subjekt von Bildung ganz selbstverständlich übergangen. Die von Erwachsenen entwickelte Schule (von der Gebäudehülle über die Lerninhalte bis zu den Unterrichtsformen) wird von den Lernenden nicht als eigener Raum wahrgenommen; umgekehrt erscheinen Lernende tendenziell als Störung der wohl durchdachten Institution – alles würde perfekt funktionieren, wenn nur die SchülerInnen nicht wären. «Nie wird gefragt, was wir denn eigentlich wissen wollen und warum… Es ist leider noch nicht so, dass die Schule für die SchülerInnen da ist!», stellt Felix von der in den 80er Jahren in Zürich aktiven Autonomen Lerngruppe ALG fest.

Vom Objekt zum Subjekt
Erkenntnis- und Kompetenzgewinne können nur wirklich gelingen, wenn die lernende Person vom Objekt der Belehrung zum Subjekt des Lernens wird. Die Lernenden müssten an der Formulierung von Lerninhalten sowie ihrer Vermittlung beteiligt werden. «Wir sind nämlich auch Bildungsexperten und wir wissen, wovon wir reden», machen drei Schülerinnen der Evangelischen Schule Berlin Zentrum in ihrem Buch «Wie wir Schule machen» klar. Der Stoff müsste zum ausgehandelten Dritten von Lernenden und Lehrpersonen werden. Das entlastete letztere – die an der ihnen zugeschobenen Verantwortung für die Motivation der Lernenden nur scheitern können – und traut beziehungsweise mutet den Lernenden zu, dass sie lernen wollen und können.

Einige, viele mögen einwenden – Lernende könnten, weil terra incognita, nicht wissen, was sie lernen wollten beziehungsweise müssten. Aber stellen Kinder nicht schon seit Jahrhunderten Fragen, deren Antworten ganze Bibliotheken füllen und weit über momentane Notwendigkeiten sowie Gelüste hinausgehen? Was geht Bildungszielen und Kompetenzkatalogen anderes voraus als Fragen, auch danach, welche Fähigkeiten es für den gewünschten Beruf brauchte? Im Übrigen bedeutet Aushandeln nicht, durch die Lernenden allein bestimmen lassen. Deren Partizipation dürfte sich in der Berufsbildung allerdings nicht auf die Schule beschränken, sondern müsste, duale Ausbildung eben, auch in den Unternehmungen praktiziert werden, denn die Interessen der Betriebe sind selten identisch mit den Lebensentwürfen der Lernenden. Die Schule aber müsste zu einem Ort werden, an dem SchülerInnen zu AdvokatInnen ihrer Zukunft werden können.

Übrigens, der Chirurgin ohne Staatsexamen müsste, statt Gefängnis und Berufsverbot verordnet, endlich das ärztliche Diplom geschenkt werden. Die auf unterschiedlichsten Wegen erworbenen Kompetenzen müssten gleichermassen anerkannt, der Diplomierungswahn beendet werden. Ohne Angst vor HochstaplerInnen, die vortäuschen, was sie nicht sind. Voraussetzungen dafür sind kritische PatientInnen&BürgerInnen – die sich kein X für ein U vormachen lassen – und der Verzicht auf ungleiche Bewertung von Tätigkeiten. Wo die Stunde einer Fachangestellten Gesundheit gleich viel wert ist wie die Stunde eines Anlageberaters, braucht sich keine&keiner als ManagerIn oder AnwältIn zu verkleiden, dieder Kompetenzen und Leidenschaft dafür fehlen.

(Eine Variante dieses Textes wurde erstmals in der «Wochenzeitung» vom 26. Juni 2014 veröffentlicht.)

Literatur
Alia Ciobanu: Revolution im Klassenzimmer, Herder, Freiburg im Breisgau 2012
Autonome Lerngruppe ALG: Nicht mit Schafen und eigenem Korn, Z-Verlag, Basel 1988
Alma de Zárate, Jamila Tressel, Lara-Luna Ehrenschneider: Wie wir Schule machen, Knaus, München 2014


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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