Bundesamt unterwandert Parlamentsbeschlüsse
Das Parlament, das ist bekannt, meint es grundsätzlich gut mit den Bauern. Als seinerzeit beschlossen wurde, die Milchkontingentierung aufzuheben, wollten die Damen und Herren Parlamentarier die Bauern nicht einfach dem rauhen Wind des Marktes aussetzen. Sie wollten den Übergang mit flankierenden Massnahmen abfedern. Zum Beispiel mit verbindlichen Milchkaufverträgen. Die Verträge sollten den Bauern «in der unsicheren Zeit des Ausstieges aus der Milchkontingentierung wenigstens etwas Sicherheit auf der Einkommensseite geben». Dieses Zitat vom Dezember 2006 – es stammt von SVP-Ständerat Hannes Germann – war nur eines von vielen ähnlich lautenden unter der Bundeshauskuppel. Die Parlamentarier wollten das Entstehen von Spotmärkten für Überschussmilch verhindern, Preise und Mengen stabilisieren und für Transparenz sorgen.
Scheinverträge sorgen für scheinbare Sicherheit
Das Gegenteil traf ein: Die Milchlieferungen schnellten in die Höhe, der Milchpreis sank ins Bodenlose. Die Verträge hielten nicht, was die Parlamentarier sich davon versprachen. Ein Blick in die Datenbank* Milch des Bundes (DB-Milch) erklärt warum: Es handelte sich häufig um reine Scheinverträge. So gibt es Bauern, die haben Milchkaufverträge über 3 Millionen Kilogramm Milch abgeschlossen, obwohl sie nur 150’000 kg liefern. Andere Bauern haben 100 Kilo unter Vertrag, melken aber 100’000 kg. Bei Tausenden von Betrieben fehlt der Vertrag gänzlich. Ein Teil der Diskrepanzen lässt sich mit der komplizierten Erfassung von Betriebsgemeinschaften und Melkalpen erklären. Doch der Hauptgrund für die Scheinverträge liegt im System: Es gab und gibt keine Kontrollen.
Bernard Lehmann, der Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW), erklärt das so: «Ein Milchkaufvertrag musste eine Vereinbarung über Milchmenge und Milchpreise enthalten sowie eine Vertragsdauer von mindestens einem Jahr aufweisen. Es gab aber keine gesetzliche Bestimmung, die irgendjemand verpflichtet hätte, die Ausschöpfung der vereinbarten Milchmengen zu kontrollieren oder zu überwachen.» Verträge ohne Kontrollen, das ist wie wenn jemand auf der Autobahn Tempo 60 vorschreibt und ein Schild daneben hängt, dass es keinen Radar gibt. Dass die Milchkaufverträge zwar vom Parlament beschlossen wurden, es aber nie eine Verordnung dazu gab, hat vor allem einen Grund: Die Bundesbehörden waren untätig.
Auch die BO-Milch kontrolliert nicht
Inzwischen ist es zu spät. Seit dem 1. Januar sind die Milchkaufverträge nicht mehr im Gesetz verankert. Stattdessen kommt nun die Branchenorganisation Milch (BO-Milch) zum Zug und sie kontrolliert die Milchkaufverträge genauso wenig wie zuvor der Bund. Stefan Kohler, der Geschäftsführer der BO-Milch, bestätigt: «Bei insgesamt rund 24‘000 Milchproduzenten in der Schweiz können wir nicht überprüfen, ob die Verträge korrekt sind. Auch nicht, ob die Milchmengen mit den tatsächlichen Vertragsmengen übereinstimmen.»
Die BO-Milch schreibt dennoch vor, dass jeder Bauer einen Standardvertrag braucht, der eine Segmentierung in A-, B-, C-Milch enthält. Die Menge der ABC-Milch sollte schlussendlich mit der Menge an ABC-Milchprodukten übereinstimmen. Hunderte von Milchverarbeitern und Milchhändlern setzen Tausende von Arbeitsstunden ein, nur um herauszufinden, ob die A-Milch wirklich zu A-Milchprodukten verarbeitet wurde, oder die Milch für die A-Milchprodukte womöglich zum B-Preis geliefert wurde. Von diesem gigantischen Kontrollaufwand merken die Bauern wenig. Wieviel ABC-Milch die Milchhändler bei ihnen bestellt und abgerechnet haben, kontrolliert niemand. Dabei liegt genau hier das Problem. Denn wo sonst, als bei den Bauern, kann zuviel Milch produziert werden?
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* Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht?
In der DB-Milch werden zwar sämtliche Daten zur Milchproduktion erfasst, aber niemand ausser der Treuhandstelle Milch oder dem BLW kann sie auswerten. Für den vorliegenden Artikel konnten lediglich Zahlen zu den Milchkaufverträgen und den gelieferten Milchmengen pro Betrieb und Kanton eingesehen werden. Eine Unterscheidung in Ganzjahres- und Sömmerungsbetriebe, Betriebsgemeinschaften (BG) oder Betriebszweiggemeinschaften (BZG) war dabei nicht möglich, eindeutige Aussagen waren deshalb erschwert. Das allein erklärt aber nicht, warum zum Beispiel in den Kantonen Thurgau und Aargau die Kluft zwischen gelieferten und vertraglich vereinbarten Mengen ein x-faches grösser ist als im Kanton Zürich.
Ganz allgemein tragen viele Zahlen in der DB-Milch mehr zur Verwirrung denn zur Klärung bei. So sind in der DB-Milch z.B. Dutzende von Betrieben aufgeführt, die einen Liefervertrag über 10, 20 oder 100 kg Milch haben – aber trotzdem 100’000 bis 200’000 kg Milch ablieferten. Das BLW führt das auf mögliche Milchkäuferwechsel zurück: «Die provisorischen Daten wurden später nicht mehr korrekt nachgeführt.» In der DB-Milch gibt es zudem Betriebe mit negativen Milcheinlieferungen (bis zu minus 100’000 kg) und Betriebe, die gerade mal 0,5 kg Milch (=1 Bierglas voll) lieferten. Laut BLW könnte es sich bei diesen Zahlen um «Rundungsdifferenzen» handeln, die bei Betriebszweiggemeinschaften auftreten können. Für Aussenstehende ist das System vor allem eines: Intransparent. Und damit das Gegenteil dessen, was die Parlamentarier seinerzeit erreichen wollten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Eveline Dudda ist Agrarjournalistin und Chefredaktorin von «Freude am Garten», www.dudda.ch