Aprikosen nicht mit Melonen vergleichen
Übereifrige Kommentatoren und wirtschaftsunkundige China-Experten läuten bereits das «Chinesische Jahrhundert» ein. Mit dem Hinweis auf eine im Mai publizierte Weltbank-Studie schwadronieren sie munter von der «Neuen Weltordnung» und von der neuen «Supermacht des 21. Jahrhunderts». Doch die im Weltbank-Bericht veröffentlichten Zahlen über das kaufkraftbereinigte (Purchasing Power Parity PPP) Brutto-Inlandprodukt (BIP) zeigen lediglich, dass China in den letzten 35 Reform-Jahren aufgeholt hat. Und zwar schnell. Gewiss, das ist eine grosse Leistung, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Die Armut ist fast besiegt. Noch nie ging es den Chinesen und Chinesinnen in ihrer langen Geschichte so gut wie heute.
Aprikosen nicht mit Melonen vergleichen
Allerdings ist ebenso klar, dass noch viel, sehr viel zu tun bleibt. Das ist der chinesischen Regierung wohl bewusst. Der fortschreitende Reformprozess zeugt davon. Auf einer Rangliste von rund 200 Staaten und Regionen liegt China – gemessen am Brutto-Inlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung – erst auf dem 99. Platz, noch hinter Libyen, Aserbeidschan oder Surinam. Den derzeitigen Standard Chinas hatten die USA bereits vor bald 100 Jahren erreicht. Chinas BIP, berechnet nach Wechselkurs in Dollar, ist gar immer noch 43 Prozent kleiner als jenes der USA. Die statistische PPP- oder BIP-Messlatte zeigt einiges, allerdings nicht zwingend den Unterschied der wirtschaftlichen Grösse zwischen einer voll entwickelten Industrie- und Dienstleistungsnation und einem in rasanter Entwicklung begriffenen, auf Export und Infrastruktur basierenden Schwellenland. Schliesslich vergleicht man auch nicht Walliser Aprikosen mit Hami-Melonen.
China ist, wie die roten Mandarine in Peking der staunenden Welt immer wieder klar zu machen versuchen, noch immer ein «Entwicklungsland». Auch das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Genauso wenig wie es «den» chinesischen Markt gibt, existiert «die» chinesische Wirtschaft. Der reiche Küstengürtel etwa ist auf dem Sprung vom Schwellenland zu einer voll entwickelten kapitalistischen Wirtschaft oder – wie es parteiamtlich heisst – einer «sozialistischen Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten». Die inneren und westlichen Provinzen dagegen sind eher Entwicklungsgebiete. Zudem gibt es eine wachsende Kluft zwischen Stadt und Land und, selbst in den prosperierenden Grossstädten, zwischen Arm und Reich.
Wirtschaft ist nicht alles
Wirtschaft ist zwar wichtig, aber nicht alles. Deshalb sind auch andere Faktoren massgebend, die im BIP nicht enthalten sind. Sie werden im Human Development Index (HDI) des UNO-Entwicklungsprogramms (UNDP) berücksichtigt. Diese neue, zusätzliche Messlatte wurde vom Indischen Ökonomen Amartya Sen und dem Pakistanischen Ökonomen Mahbub ul Haq entwickelt und berücksichtigt unter anderem Lebenserwartung, Erziehung, Umwelt und verfügbares Einkommen. Hier belegte die Volksrepublik im vergangenen Jahr Rang 101 (Norwegen Rang 1, USA Rang 3, Schweiz Rang 9, Liechtenstein Rang 24, Russland Rang 55, Indien Rang 136). Mithin ergeben erst das Brutto-Inlandprodukt kaufkraftbereinigt und nach Wechselkurs kombiniert zusammen mit dem Entwicklungs-Index ein einigermassen akkurates Bild. Doch das Gesamtbild ist komplex und schwierig zu lesen. Deshalb eignet es sich nicht für fetzige Schlagzeilen wie eben: «China überholt Amerika».
Nachhaltiges Wachstum
Während im Westen analytisch unscharf die wirtschaftliche und immer mehr auch die militärische Macht Chinas dämonisiert werden, haben die roten Mandarine im Jahre 36 der wirtschaftlichen Reform und der Öffnung nach Aussen ganz andere Sorgen. Staats- und Parteichef Xi Jinping, seit anderthalb Jahren an der Macht, muss ein neues Wirtschaftsmodell zum Wohle des Landes in die Tat umsetzen. Wachstum um jeden Preis ist vorbei. Vielmehr soll das neue Wachstum «nachhaltig» sein, das heisst die Umwelt schonen und Kreativität freisetzen. Unter Reformübervater Deng Xiaoping galt noch pragmatisch, dass der «Fluss überquert wird, und dabei immer die Steine an den Fusssohlen zu spüren sind». Doch diese Zeiten gehören der Vergangenheit an. Nach Xi hat Chinas Reformprozess jetzt das «tiefe Wasser des Ozeans» erreicht.
Gewaltige Herausforderungen
Die Herausforderungen für Chinas Politbüro sind enorm. Anders als seine Vorgänger hat Partei-Supremo Xi Jinping mit zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen zu tun: Auf der einen Seite mit der wachsenden Mittelschicht von (je nach Definition) mehreren Hundert Millionen Menschen, auf der anderen Seite mit rund 300 Millionen Wanderarbeitern aus ländlichen Gebieten, die immer selbstbewusster auftreten.
Zudem bedroht das Internet, insbesondere die sozialen Medien, die parteiliche Deutungshoheit und das Informationsmonopol. Um sein neues Entwicklungsmodell durchzusetzen – also weg von Exportabhängigkeit und Infrastruktur-Investitionen hin zu mehr Konsum und Dienstleistungen – wird Xi Jinping die Interessen alteingesessener Seilschaften in den Staatsbetrieben und in der Verwaltung verletzen. Das ist nicht ganz ungefährlich. Doch Xi hat bereits eine in der Volksrepublik beispiellose Anti-Korruptions-Kampagne entfacht. Dabei geht es nicht nur um die Kleinen, die «Fliegen», sondern auch um «Tiger», also die Mächtigen. Gleichzeitig versucht die Partei, Dissens auf allen Ebenen in der realen wie in der digitalen Welt gnadenlos zu unterdrücken.
Keine 18 Monate nach Machtantritt gilt Xi Jinping bereits als mächtigste Führungsfigur seit dem grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping. Der charismatische Xi weiss, worauf es ökonomisch und politisch ankommt. Er unterstreicht die führende Rolle der Innovation bei der Entwicklung Chinas zu einem «Land mit blauem Himmel und klarem Wasser». Chinesinnen und Chinesen hören das gern und blicken hoffnungsvoll in den oft noch trüben Himmel und die noch trüberen Gewässer. Doch der Chef erwartet schnelle Resultate. Bis ins Jahr 2020 – zwei Jahre vor seinem geplanten Rücktritt – sollen die ehrgeizigen Ziele erreicht sein.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.