Eine Nacht im Grandhotel Cosmopolis
Wer von ibis zu ibis, von Hilton zu Hilton oder von Radisson zu Radisson hüpft, weiss es. Da ist immer ein sauberes Zimmer, eines von Hunderten, am Desk versteht und spricht man rund um die Welt Englisch, und zahlen tut man mit der Kreditkarte. Nur, so bequem das ist, so wenig lernt man dabei. Zumindest nichts über die Menschen vor Ort, über andere Bräuche und Kulturen, über fremde Wertvorstellungen. Denn alles ist standardisiert, weltweit. Und so trifft man vor allem Seinesgleichen.
Nicht so im Grandhotel Cosmopolis. Um zu buchen muss man eine E-Mail schicken, zahlen kann man nur cash, und auch die Zimmer-Preise sind nicht aufgelistet. Es ist ein Haus voller Überraschungen!
Den Hinweis auf dieses wirklich spezielle Hotel fand ich nicht unter booking.com. Sondern in der ZEIT, im Dossier der Ausgabe vom 6. März. «Es handelt sich um einen schmucklosen, hellgelben Sechziger-Jahre-Bau, ein ehemaliges Pflegeheim in der Augsburger Altstadt», stand da geschrieben. «Aber am Eingang schreiten die Gäste über einen roten Teppich und werden respektvoll von Consierges in rot-goldenen Anzügen begrüsst. An der Wand neben der Rezeption: Weltzeituhren. Nicht New York, London, Paris, sondern Gaza, Port-au-Prince, Lampedusa. In der Lobby spielt ein Popsänger aus Afghanistan Klavier, auf der Couch hat es sich ein Christ aus dem Iran gemütlich gemacht. An der Bar bedienen zwei Mazedonier, vor der Theke toben zwei tschetschenische Kinder.» Und mehr: über zwei leintuchgrosse Zeitungsseiten, wie DIE ZEIT sie eben hat. Dieses Hotel muss wohl wirklich etwas Besonderes sein, dachte ich.
Auch ich als Schweizer bin willkommen…
Ich war, wie so oft, wieder unterwegs, musste nach München und dann nach Prag. Warum also nicht für eine Nacht ins Grandhotel Cosmopolis, statt gegen tausend Kilometer über Schweizer und deutsche Autobahnen zu preschen und dazwischen gleichentags noch zwei Sitzungen reinzuquetschen? Ich melde mich also an, per E-Mail, wie erwähnt, und mit der Bemerkung «Ich bin Journalist. Wird es möglich sein, mit jemandem von der Leitung des Hotels zu reden?» Die Antwort kommt prompt: «Willkommen. Wir haben für Sie das Zimmer UTOPIA reserviert. Eine Leitung haben wir nicht. Sie können aber reden, mit wem Sie wollen.»
«Ich bin Judith», sagt die bildhübsche Frau an der Theke in der Lobby, als ich am späteren Nachmittag ankomme. «Leider müssen Sie zuerst ein Formular ausfüllen, Name, Adresse, Nummer des Personalausweises, und so weiter. Auch wir müssen uns an diese polizeilichen Vorschriften halten», sagt sie, sich fast ein wenig entschuldigend. Und dann: «Ich komme mit Ihnen und zeige Ihnen das Zimmer. Es ist im vierten Stock. Sie schauen fit aus, wir gehen zu Fuss hoch…»
Flüchtlinge und Hotelgäste unter einem Dach
Im ersten Stock hängen grosse Farbfotos mit erläuternden Texten an den Wänden. Eine Ausstellung zum Thema «Migranten aus Mittelamerika auf dem Weg durch Mexiko in die USA». Viele von ihnen werden beraubt, vergewaltigt, umgebracht. Aber nichts kann sie abschrecken. Für sie sind die USA das gelobte Land!
Spätestens hier wird man es gewahr: Das Grandhotel Cormopolis ist tatsächlich etwas Besonderes: Flüchtlinge, Künstler und Hotelgäste wohnen hier unter einem Dach. 27 Zimmer stehen Flüchtlingen zur Verfügung, 18 sind für Hotelgäste reserviert, 10 werden von Künstlern als Atelier gebraucht. Gegen 60 Flüchtlinge aus Afghanistan, aus Afrika, aus der Ukraine, aus Tschetschenien und anderen Ländern haben hier eine – vorübergehende – Bleibe gefunden. Einzelpersonen, Mütter mit Kindern, ganze Familien. 60 Menschen aller Hautfarben, die nur eines gemeinsam haben: Sie alle sind auf der Flucht. Und sie alle suchen eine neue Heimat, wo sie eine Arbeit finden und ihr Leben aus eigener Kraft bewältigen können.
Hier trifft man interessante Menschen, auch unter den Gästen
Es ist zwischenzeitlich 21 Uhr geworden. Ich sitze in der Lobby und trinke ein Bier. Am gleichen Tisch sitzt ein junges Ehepaar. «Wir wohnen ausserhalb von Augsburg, aber wir kommen gelegentlich hierher, um etwas zu trinken. Das Projekt hier verdient Unterstützung.» Die junge Frau ist Übersetzerin, Englisch, Spanisch, Deutsch. «Wir haben ein elfjähriges Mädchen. Es ist gar nicht so einfach, es so zu erziehen, dass es nicht in diese schreckliche Konsum-Welt hineingerät. Es darf ja nicht zu anders sein, nicht dass es in der Schule dann ausgegrenzt wird», sagt die junge Frau. Wir diskutieren, sind uns in einem Punkt allerdings einig: Unsere Gesellschaft hier in Westeuropa gibt zu denken. Shopping, für viele junge Leute die beliebteste Freizeitbeschäftigung! Ich gebe mich allerdings zurückhaltend, ich will ja nicht den alten, frustrierten Rentner spielen…
Schon bald ist Mitternacht. Jetzt bin ich mit Georg, einem der Initianten des Grandhotel Cosmopolis, und mit Vera aus Graz im Gespräch. Wir sitzen draussen vor der Hoteltüre auf der Treppe mit dem roten Teppich; sie rauchen. «Das Hotel funktioniert, an den Wochenenden sind wir oft ausgebucht. Unter der Woche ist immerhin etwa die Hälfte der Hotelzimmer belegt», sagt Georg. «Am meisten zu tun gibt aber nicht das Hotel. Mehr Zeit brauchen wir für die Flüchtlinge, für die wir uns natürlich einsetzen: all der Papierkrieg mit den Behörden, die Aufenthaltsbewilligungen, die Suche nach Jobs…»
«Nein», sagt Georg, «der Artikel in der ZEIT hat mir nicht so gut gefallen. Dort ist das Projekt so vorgestellt worden, als ob es mein Werk wäre. Das ist vollkommen falsch. Wir waren von Anfang an ein Team. Die Renovation des Hauses zum Beispiel wurde vollständig mit Freiwilligen bewerkstelligt. Ich verstehe das zwar schon: Aus journalistischer Sicht ist es natürlich am interessantesten, eine Geschichte an einer Person ‚aufzuhängen’. Aber hier wird das der Sache nicht gerecht. Wir arbeiten alle zusammen.»
«Und woher habt Ihr das Geld? Erhaltet Ihr Unterstützung von der Kirche?» frage ich. Der Augsburger Dom steht ja keine 500 Meter weit weg. «Indirekt ja», sagt Georg. «Das Haus gehört der Diakonie, wir haben es gemietet, zu einem fairen Preis. Die haben an dieses unser Projekt hier von Anfang an geglaubt!»
«Verstehst Du etwas von Geld?»
«Und was machst eigentlich du», fragt der knapp über 30-Jährige nun mich, den Angegrauten. «Ich war Journalist», sage ich. «Später war ich dann im Management eines Medienunternehmens, und jetzt schreibe ich wieder», sage ich, ohne weitere Details. «Verstehst Du etwas von Geld?» Die Augen von Georg leuchten: «Ich suche verzweifelt jemanden, der etwas von Geld versteht. Vielleicht bist Du ja genau der Richtige…».
Mittlerweile ist es fast schon 02 Uhr. Ich ziehe mich zurück ins Hotelzimmer UTOPIA. Nein, ein eigenes Badzimmer und eine eigene Toilette habe ich dort nicht. Man teilt diese Einrichtungen mit den anderen Gästen.
Nur noch Utopien sind realistisch
Mein Hotelzimmer erinnert mich an eine Nacht in Luzern, im modischen «The Hotel» des KKL-Architekten Jean Nouvel: alles sehr nüchtern, keine Vorhänge, keine Teppiche, viel Zement. Im UTOPIA ist selbst die Lampe sehr einfach: ein von der Decke herunterhängendes Kabel, daran eine Glühbirne. Aber ich fühlte mich wohl. An der Wand steht, dass dieses Zimmer von zwei finnischen Künstlern gestaltet worden ist. Und an der Türe steht ein Text, in Englisch:
// what do you really want? //
seems to be one of the most important questions to put,
and at the same time most difficult to answer.
it refers to our personal utopia – on an individual, societal, global level.
this room provides space for the question,
and a platform to share your answers and dreams with others
who stayed here before you, or will stay in the future.
Ja, es ist – leider – noch eine Utopie, dass Flüchtlinge unter dem selben Dach wohnen dürfen wie wir, die «Legalen», mit einem gültigen Personalausweis, mit Euros, Dollars oder Franken in der Tasche, mit einem bezahlten Job oder einer staatlichen Rente. UTOPIA! «Nur noch Utopien sind realistisch», schiesst es mir durch den Kopf: der Titel eines Buches, das ich kürzlich – mit viel Gewinn! – gelesen habe, von Oskar Negt, dem deutschen Sozialphilosophen, der als Kind selber ein paar Jahre in einem Flüchtlingslager gelebt hatte. Ja, wir müssen wieder lernen, Utopien nicht einfach zu belächeln, wir müssen versuchen, sie zu verwirklichen, so wie diese jungen Leute hier in Augsburg, die das Grandhotel Cosmopolis realisiert haben.
Über Nacht reich werden
«Was bin ich Ihnen schuldig», frage ich am Morgen danach an der Theke und zücke mein Portemonnaie. «Dass man nur cash zahlen kann und Kreditkarten nicht akzeptiert werden, weiss ich bereits. Ich habe es im Internet gelesen.» «Und es gibt auch keinen fixen Preis», sagt die junge Frau, die heute Morgendienst schiebt. Unsere Empfehlung ist 40 Euro. Aber Sie sind frei!»
Ich habe in dieser Nacht weniger lang geschlafen, als letztes Mal im ibis in München. Und ich habe weniger bezahlt. Aber ich bin in dieser Nacht reicher geworden. Ich habe interessante Menschen kennengelernt. Und ich habe gesehen, was eine Handvoll junger Menschen zustande bringen kann. Von der Idee über monatelange Fronarbeit – die Renovation des Hauses – bis zum verwirklichten Alltag einer Vision: der Vision, dass auch Flüchtlinge Menschen sind wie Du und ich, mit dem Recht auf ein ordentliches Dach über dem Kopf. Auf ein Dach, wie auch wir es haben.
Ein paar junge Leute haben, hier in Augsburg, in Deutschland, das vermeintlich Unmögliche möglich gemacht. Nur noch Utopien sind realistisch.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine