Schweiz als familienpolitisches «Entwicklungsland»
Wenn alle dasselbe Ziel anstreben, heisst das noch lange nicht, dass alle den gleichen Weg beschreiten. Es heisst paradoxerweise nicht einmal, dass alle am gleichen Ort ankommen wollen. Nichts illustriert das anschaulicher als die helvetische Familienpolitik: Alle wollen «die Familie» stärken. Was sie unter dem Begriff genau verstehen, welche Familienbilder und Zielvorstellungen ihren Forderungen zugrunde liegen – das alles bleibt reichlich diffus und disparat. Die einen Parteien malen das Schreckgespenst der «Verstaatlichung der Kinder» an die Wand, wenn mehr Kindertagesstätten gefordert werden, die andern bemühen das Bild vom «Heimchen am Herd», wenn Frauen sich vollzeitlich Kindern und Haushalt widmen. Es wird gestritten über Steuerabzüge und Familienzulagen, über externe Kinderbetreuung und Tagesschulen, über Vaterschaftsurlaub und Rabenmütter, über Feierabendväter und Tagesmütter – oder ganz allgemein über richtige und falsche Lebensentwürfe.
Es geht immer ums Ganze
Die Debatten können durchaus heftig ausfallen, wie im vergangenen Jahr gleich zwei familienpolitische Volksabstimmungen klar machten. Dabei zeigte sich, es geht um weit mehr als allein um die Familie. Es geht immer ums Ganze: um Weltanschauungen und Gesellschaftsentwürfe, um Rollenbilder und Gleichstellungsfragen. Mitbetroffen sind meist gleich mehrere Politikbereiche, nämlich Bildung, Soziales, Arbeitsmarkt, Steuern, Finanzen, Wohnbaupolitik und Siedlungsentwicklung. Und es geht natürlich immer und an erster Stelle um das Wohl des Kindes, wie fast alle ausnahmslos beteuern.
Familienpolitik ist ein Dauerbrenner helvetischer Politik. Ein eigenständiger Politikbereich war sie in der Schweiz bemerkenswerterweise allerdings nie und ist es bis heute nicht, obschon alle Parteien die «Urzelle der Gesellschaft» programmatisch hochhalten. Die Verkehrspolitik, die Bildungs-, die Jugend-, die Alters-, die Regional-, die Wirtschafts-, und die Konjunkturpolitik: Sie alle und einige mehr haben Verfassungsrang, besitzen einen eigenen Artikel in der Bundesverfassung. Nicht so die Familienpolitik.
Es wird nicht nichts getan …
Das heisst nun nicht, dass nichts getan wird. Die meisten Eltern kommen in den Genuss von Kinderzulagen, deren Höhe ein Bundesgesetz regelt. Das Steuerrecht kennt eine Reihe von Entlastungen für Familien. Jedes minderjährige Kind und alle Jugendlichen in beruflicher Erstausbildung reduzieren das steuerbare Einkommen. Fremdbetreuungskosten für Kinder können seit einiger Zeit ebenfalls teilweise in Abzug gebracht werden, auch die Krankenkassenprämien für Kinder. Mit einer Anschubfinanzierung unterstützt der Bund die Schaffung neuer Krippenplätze, ein Programm, das zweimal verlängert worden ist und 2015 ausläuft. Zudem gibt es eine Mutterschaftsversicherung für erwerbstätige Frauen. Für bedürftige Familien bestehen weitere staatliche Hilfen, so etwa Prämienverbilligungen für Krankenkassen, in gewissen Kantonen auch Ergänzungsleistungen. Viele Gemeinden und Städte bieten eine Anzahl subventionierter Krippenplätze an.
… aber die Schweiz tut zu wenig
Aber eben: Üppig ist das alles nicht. Die Sozialausgaben für Familien und Mutterschaft liegen erheblich unter dem europäischen Durchschnitt. Alleinerziehende und kinderreiche Familien gehen in der Schweiz ein überdurchschnittlich hohes Armutsrisiko ein. Remo Largo, emeritierter Professor für Kinderheilkunde an der Universität Zürich und Bestsellerautor, formulierte es jüngst in einem Interview drastisch: «Die Schweiz ist bezüglich Familienpolitik ein Entwicklungsland. Im Vergleich mit den skandinavischen Ländern setzt die Schweiz einen dreimal kleineren Betrag des Bruttosozialproduktes für die Kinder und Familien ein. Trotz allen privaten und öffentlichen Beteuerungen: Geld ist uns wichtiger als Kinder.» Auch eine vom Gewerkschaftsdachverband Travail.Suisse in Auftrag gegebene Studie der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit zeigt, dass die Schweiz im Vergleich zu den übrigen OECD-Ländern wenig Geld für Familien aufwendet: Mit 1,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) liegt sie unter dem OECD-Durchschnitt von 2,23 Prozent. Deutschland wendet 2,8 Prozent des BIP für Familien auf, Österreich 3,0 und Frankreich 3,7 Prozent.
Natürlich wäre es wünschenswert, «dass im Idealfall jede Familie ihr Schicksal, ihre Entwicklung und ihre materiellen Bedürfnisse unabhängig und eigenverantwortlich gestalten kann. Doch die Grundvoraussetzungen, um dieses Ziel zu erreichen, sind in unserem Land noch nicht gegeben», sagt Thérèse Meyer-Kaelin, Präsidentin der Eidgenössischen Koordinationsstelle für Familienfragen, ein beratendes Organ des Departements des Innern. Es gebe in der Schweiz «keine ausreichend wirksame Familienpolitik». Und sie wird noch deutlicher: «Die typische Ausrede der sogenannten Verfechter der Familie, um im Endeffekt nichts zu unternehmen», bestehe darin, die Familie zur Privatsache zu erklären. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf «gleicht oft einem Hindernislauf». Dabei sei doch die Familie «die wichtigste Einheit, damit sich die Gesellschaft harmonisch entwickeln und jede Person individuell entfalten kann.»
80 Prozent der Frauen sind erwerbstätig
Mit dieser Harmonie ist es nicht weit her: Gesellschaftliche Wirklichkeit und familienpolitische Massnahmen stehen nicht im Gleichgewicht. Das «traditionelle» Familienbild mit strikter Rollenteilung – Vater ist «Ernährer», Mutter kümmert sich um Heim und Kinder – geistert zwar noch in manchen Köpfen herum, entspricht aber längst nicht mehr der Realität. Es gibt sie durchaus immer noch, diese Art des Zusammenlebens, aber sie ist nicht mehr die dominierende Lebensform.
Ein Blick auf Zahlen, Fakten und Strukturen unterstreicht diesen Befund. Über 80 Prozent der Frauen sind in der einen oder anderen Form erwerbstätig. Noch nie gab es so viele Ein-Person-Haushalte. Die Zahl der Familienhaushalte sackte zwischen 1970 und 2008 von 75 Prozent auf etwas über 60 Prozent ab. Paarhaushalte ohne Kinder sind im gleichen Zeitraum deutlich zahlreicher geworden.
Ein wichtiger Indikator für die Lage der Familie sind die Erwerbsmodelle in Paarhaushalten: «Zwischen 1992 und 2012 ist der Anteil Paarhaushalte mit vollzeiterwerbstätigem Partner und nicht erwerbstätiger Partnerin stark zurückgegangen. In Paarhaushalten mit jüngstem Kind unter 7 Jahren von rund 62 Prozent auf 29 Prozent. Dies vorwiegend zu Gunsten des Modells mit vollzeiterwerbstätigem Partner und teilzeiterwerbstätiger Partnerin. Paare mit Kindern, in denen beide Partner teilzeiterwerbstätig sind, machen auch heute noch eine Minderheit aus, obwohl sich ihr Anteil verdoppelt hat», schreibt das Bundesamt für Statistik.
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(Dieser Text erschien zuerst in der «Schweizer Revue» Nr. 2 / April 2014 (Zeitschrift für die Auslandschweizer)
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Teil 2: Einige Familienmythen begraben
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine