Es geht um die Menschen
Wenn es in der Geschichte Zufälle gibt, dann ist es sicher ein Zufall, dass das «Arte»-Fernsehen gerade jetzt, während der grossen Krise um die Ukraine, den grossen, dreiteiligen Fernsehfilm «Burning Bush – die Helden von Prag» ausgestrahlt hat über die Zeit von Jan Palach. Wir erinnern uns noch knapp: Palach ist der tschechische Student, der sich vor 45 Jahren als brennende Fackel auf dem Prager Wenzelsplatz zum Fanal machen wollte.
Zerstörung einer Lebenshoffnung
Die russischen Panzer hatten zusammen mit den Truppen ihrer «sozialistischen Bruderländer» ein halbes Jahr vorher, im August 1968, den Prager Frühling niedergewalzt. Es war das frühe Ende des Versuchs, einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu schaffen, einer gerechteren Gesellschaft mit Meinungsfreiheit, offener Debatte und ohne die Diktatur einer Partei. Für uns, in der Studentenbewegung von 1968, und für viele in Europa und darüber hinaus, war es das brutale Ende einer grossen Hoffnung. Einer Utopie auf dem Wege zur Verwirklichung. Wie die Utopien auf dem Tahrir-Platz oder am Gezi-Park oder auf dem Maidan.
Für die junge Generation war es mehr als die Zerstörung einer Hoffnung. Es war die Zerstörung ihrer Zukunft und ihres Lebens. Um so verzweifelter war ihr Widerstand. Jan Palach schrieb in seinem Aufruf: «Da unser Land davor steht, der Hoffnungslosigkeit zu erliegen, haben wir uns dazu entschlossen, unserem Protest auf diese Weise Ausdruck zu verleihen, um die Menschen aufzurütteln.»
Der Widerstand war aussichtslos. «Burning Bush – die Helden von Prag», eine Produktion von «Arte France», zeigt mit der bleiernen Langsamkeit des realen Geschehens, spannend angespannt, wie der realsozialistische Staats- und Parteiapparat unter dem rücksichtslosen Druck der sowjetischen Besatzer die Opposition in den Würgegriff, alle freiheitliche Regung erstickt und die Parteidiktatur wieder herstellt.
Es war rücksichtslose Machtausübung im Kalten Krieg, Machtausübung im «geostrategischen Interesse». Die betroffenen Menschen sind in diesem Spiel nur Spielmaterial. – Es geschah damals in der Tschechoslowakei. Es geschieht heute in Russland. Und es bestimmt die Furcht der Mehrheit der Menschen in der Ukraine.
Menschliche Tragödien
Wir haben das damals, im «Westen», in Berlin, erlebt mit unseren neu gewonnenen Freunden. Es waren herausragende Intellektuelle und Künstler, die bedeutende Positionen aufgegeben hatten, um sich bei uns eine neue, freiere Existenz aufzubauen. Und den kritischen Diskurs, auch gegenüber dem kapitalistischen Markt und seiner Wachstumsideologie, weiter zu führen.
Wir haben es erlebt mit hervorragenden Journalistinnen, die sich für den Lebensunterhalt als Sekretärin verdingten – und die ihre tiefe und feine Kenntnis der osteuropäischen Literatur und Kunst und oppositionellen Politik von Rumänien bis Polen in Nachtarbeit und gelegentlich unter dem Schirm toleranter Vorgesetzter in brennende journalistische Werke umsetzten.
Wir haben es erlebt an der Zerrissenheit der Familien: der eine Teil im Westen, der andere hinter dem Eisernen Vorhang, der für zwei Jahrzehnte jede Begegnung unmöglich machte.
Wir haben bei gelegentlichen Besuchen im besetzten Land erlebt, wie das bleierne Schweigen über den Strassen lag, und wie man durch die stillen Gassen ging, um einen Überblick über allfällige unerwünschte Begleitung zu gewinnen.
Wir haben den sehnsüchtigen Wunsch der Söhne und Töchter erlebt, die undurchdringliche Landesgrenze zu überwinden und in der freieren Luft des Westens ihr Glück zu finden. Und wenn der eine oder die andere der Liebe begegnete mit einem Besuch aus dem Westen, hat es immer noch Jahre gedauert, bis sie gegen alle Widerstände der real-sozialistischen Bürokratie zusammen kommen konnten.
Und wir haben die Intellektuellen erlebt, die sich als Heizer in den Kellern des damals keineswegs goldenen Prag durchgeschlagen haben, und die in verwanzten Wohnungen lebten und auf die Frage, wie sie damit umgingen, antworteten: «Tun, als ob nichts wäre.» – Im Wissen darum, dass immer mal wieder einer kommt, um sie abzuholen und vielleicht wieder wegzusperren, wie heute wieder in Putins Russland.
Der eiserne Griff
Damals, 1968 und danach, hat der tschechoslowakische Staatsapparat unter dem Diktat Moskaus Jan Palachs Fanal vom Prager Wenzelsplatz mit aller skrupellosen Machtausübung wirkungslos gemacht, zu denen Diktaturen und ihre Polizeiapparate und Geheimdienste fähig sind.
Heute erleben das vielleicht einige auf der neo-russischen Halbinsel Krim, wenn sie Kritik oder gar Opposition anzumelden wagen, gegen das Ergebnis des inszenierten Referendums und Putins Raubzug. (Das gleiche Verfahren hatte übrigens schon Stalin praktiziert, als er 1939 in Absprache mit Hitler-Deutschland die galizischen Teile Polens annektierte, und sich diese Annexion ebenfalls durch Referenden von der Bevölkerung hat bestätigen lassen.)
Aber die russische Unterdrückung richtet sich heute in erster Linie nach innen, zur Sicherung des Systems Putin: gegen Kritiker wie Andrei Subow, Garry Kasparow und Alexei Nawalny, der vor den Olympischen Winterspielen noch für die russische Präsidentschaft kandidieren durfte. Selbstverständlich chancenlos. Sie werden allesamt zum Verstummen gebracht, sie werden von der Universität entlassen, ihre Webseiten werden abgeschaltet, ihr Zugang zum Internet wird gesperrt, Prozesse werden vorbereitet, wie unter anderem im Tages-Anzeiger nachzulesen ist. Die Propaganda-Veranstaltung in Sotschi ist vorbei.
Putins Riot
Und so hat jetzt die Propagandamaschine freien Lauf in die andere Richtung. Es geht nicht mehr, wie damals in der Tschechoslowakei, um den «Verrat an der Arbeiterklasse». Es geht in Putins eigenen Worten schon fast um den Schutz aller russischen Minderheiten in den angrenzenden Staaten und um den Kampf gegen die «Vaterlandsverräter» in den eigenen Reihen.
Für die ideologische und machtpolitische Absicherung seiner absoluten Herrschaft tut er sich gleich auch noch zusammen mit der Russisch-Orthodoxen Kirche, gibt ihr ehemaliges Eigentum und die alte tragende Rolle zurück, und findet so eine grosse Verbündete für die Stärkung des russischen Staates und die Pflege nationaler Werte. Dieses Bündnis stärkt er mit den andauernden Massnahmen gegen die Frauen von Pussy Riot und gegen «homosexuelle Propaganda», und so produziert er die giftige Legierung einer völkisch-national-klerikalen Ideologie, die seltsame Nähe schafft zu den rechtsextremen und faschistoiden Gruppen in der Ukraine, die der russischen Staatsapparat so gerne nutzt für seine Propaganda. Und als Begründung für eine Annexion, die alle Züge einer geheimdienstlich-militärischen Operation trägt. «Putins Riot» auf der Krim.
Macht der Propaganda
Es ist ein vertrautes Muster. Schon 1969 produzierte der sowjetische Geheimdienst die Behauptung, Jan Palach sei bei seiner Selbstverbrennung Opfer einer rechtsextremen Intrige geworden, an dem auch der tschechoslowakische Studentenverband mitgewirkt habe. Jetzt findet derselbe Geheimdienst (unter anderem Namen) in den wirklich aktiven rechtsnationalen, faschistoiden und militant anti-demokratischen Gruppierungen in der Ukraine ein willkommenes Objekt der Agitation und Propaganda und der Diffamierung einer freiheitlichen Volksbewegung. Und wichtige westliche Medien lassen sich von dieser Propaganda gefangen nehmen, anstatt die Logik der Korruption und Gewalt des Jukaschenko-Regimes und der Gegengewalt der militanten Rechtsextremen aufzudecken und einer wirklich kritischen Analyse zu unterziehen.
Dann würden sie nämlich feststellen, dass in der Ukraine auf nationaler Ebene zwei Gewaltapparate vorübergehend die Regie übernommen hatten: Janukowitschs Regime und die militante Rechte. Sie würden dann feststellen, dass auf internationaler Ebene zwischen «Swoboda» und dem «Rechten Block» auf der einen Seite und Putins völkisch-national-klerikalem Russland auf der anderen sich zwei feindliche Brüder gegenüber stehen, zwei gleichermassen antidemokratische Spieler, allerdings Spieler von enorm unterschiedlicher Handlungsmacht.
Wurzeln des Nationalismus
Sie würden ausserdem – als Erkenntnis, nicht Rechtfertigung –, die historischen Gründe für den Nationalismus in der Ukraine feststellen. Die Ukraine ist nicht nur ein «Grenzland» (wie Roman Berger in Infosperber dargestellt hat ), sie war immer auch ein Durchgangsland, von den Hunnen bis zu den Tataren, und ein (in West und Ost unterschiedlich) besetztes Land, von den Mongolen über die Osmanen, Balten und Polen bis zu den Russen. Und sie würden unübersehbar notieren, dass es so etwas wie die Ukraine als Staat erst seit rund hundert Jahren gibt – allerdings ohne Chance, eine nationale Identität zu entwickeln, denn das Land war von Anfang an von Krieg und Bürgerkrieg durchzogen. Und wurde dann unter Stalin sowjetisiert. Und ausgebeutet.
Die Ukraine, die mit ihren fruchtbaren Böden im Westen eine Kornkammer Europas sein könnte, erlebte unter der stalinistischen Herrschaft eine entsetzliche Unterdrückung und Ausbeutung. Während aus der Landbevölkerung (Hundert-)Tausende wegen ihres Widerstands gegen die Konfiskation von Getreide zu schweren Strafen verurteilt wurden (darunter über 5000 Todesurteile), erlitten schätzungsweise 4 Millionen Kinder und Erwachsene den Hungertod. Gleichzeitig exportierte die Sowjetunion rund 1.8 Millionen Tonnen Getreide.
Erfahrungen der Geschichte
Solche Geschichte bleibt im Gedächtnis eines Volkes haften. Und Putins wiederholtes Spiel mit dem Gashahn und den Gaspreisen hat in den letzten Jahren die Angst vor dem übermächtigen Bruder im Osten gewiss nicht verringert.
Medienmenschen, die sich dieser Aufarbeitung widmen, müssten erkennen, dass die Bevölkerung der Ukraine – soweit sie nicht im russisch dominierten Osten mit seiner Schwerindustrie siedelt – sich nicht nur dem Westen zuwendet, weil sie dabei vielleicht von westlichen NGOs oder irgendwelchen amerikanischen Geheimdiensten oder politischen Holzköpfen wie John McCain in diese Richtung getrieben werden. Sondern weil historische und gegenwärtige Erfahrungen sie dazu bewegt. Auch wenn die Bedingungen des Westens und seiner Finanzinstitutionen ihnen eine weitere Leidensgeschichte zumuten. Die Bürger der ehemaligen DDR können sie darüber aufklären.
Aber es gibt Grund genug für die Bevölkerung der Ukraine, Anlehnung und Sicherheit zu suchen. Sie leben in einem Staat, der gerade mal seit 1991 seine offizielle Unabhängigkeit hat, und der – nach dem Verzicht auf die noch stationierten sowjetischen Atomwaffen – 1994 eine russisch-amerikanische Sicherheitsgarantie erhalten hat, die nicht das Papier wert ist, auf die sie geschrieben wurde. Das ist auch ein entscheidender Grund dafür, warum in diesem Staat eine demokratisch imprägnierte «Classe politique» fehlt, also Politikerinnen und Politiker, denen föderalistisches Denken für verschiedene Kulturen in den politischen Genen sitzt, und die genügend spontane Abwehrkräfte gegen militante und anti-demokratische Infektionen haben.
Ein schwacher Staat
Es fehlen offenkundig ausreichende, schnelle Abwehrkräfte gegen jene Gruppen, die – nachvollziehbar aber nicht annehmbar – aus der Geschichte eines Jahrhunderts heraus entstanden sind, das von Antisemitismus durchtränkt und von Nationalismus geprägt war. Gegen Gruppen, die den nazi-deutschen Einmarsch im 2. Weltkrieg als Befreiung begrüsst und, anders als die Krim-Tataren, dieses totalitäre Erbe bis heute nicht überwunden haben. Diese gleichen Gruppen haben auch im eigenen Land für ihren Extremismus viel zu viel Nahrung gefunden. Heute verhalten sie sich so rechtswidrig und gewaltbereit, wie eine bolschewistische Kaderorganisation oder paramilitärische Faschisten: ein kleiner Staat im Staat, der gegenwärtig offenkundig die Machtprobe sucht. Und die sogenannte Staatsführung, Präsident, Regierungschef und Parlament, haben nicht die Mittel, ihnen schnell und klar und kompromisslos Einhalt zu gebieten.
Für einen, der dem Grenzland zwischen Ost und West eine freiheitliche, demokratische und rechtsstaatliche Zukunft wünscht, wäre es einfacher, diese Bedrohungen nicht sehen zu müssen. Aber anders als die Tschechoslowakei mit ihrer langen Geschichte war und ist die Ukraine ein «schwacher Staat», wie Zbigniew Brzezinski in seinem neueren Buch «Strategic Vision» (Basic Books, New York, 2012) sagt. An dieser Erkenntnis führt nichts vorbei, und für die «Westmächte» und die internationalen Finanz-Institutionen führt sie zu einer zwingenden Schlussfolgerung: Sie müssen vor allem anderen gute Regierungsformen – «Good Governance» – energisch und kompromisslos fordern und fördern.
Bunt nicht braun
Aber «die Revolution ist bunt nicht braun», schreibt Bernhard Odenahl am 1. März, der Korrespondent des Tages-Anzeigers, der sich in seinem Buch über den «Aufmarsch – Die rechte Gefahr aus Osteuropa» bereits vor vier Jahren mit der ultrarechten Szene von Ungarn bis Serbien beschäftigt hat. Der Euro-Maidan, meint er, ist von Anfang eine politisch friedliche Bewegung aus der Zivilgesellschaft heraus, die «von ganz rechts bis zu anarchistischen Splittergruppen» reicht, und die in ihrer Mehrheit immer noch getragen wird von Bürgerinnen und Bürgern, die «einfach genug hatten von den Schikanen der Behörden, von den täglichen Schmiergeldzahlungen an Verkehrspolizisten, Beamte und Ärzte», und die sich deshalb an die Barrikaden stellten.
Aber dieser Prozess geht langsam, er ist kompliziert, und er lebt nicht von handelnden Personen, die sich in einem Drehbuch dramaturgisch wirksam personalisieren lassen. Das schreibt Georg Diez in seiner medienkritischen Kolumne im «spiegel online», und er folgert: «Und so verwandelten sich die Proteste der Menschen [am Euromaidan und anderswo] in die Machtspiele von Politikern.»
Aber revolutionäre Demokratisierungsprozesse bewegen sich nicht nach den Wünschen der Medienschaffenden. Sie bewegen sich in Widersprüchen und in Handlungen und Haltungen, die häufig genug nicht unseren moralischen Ansprüchen genügen. Wie die Idiotie des Rechtsextremismus, der unter anderem aus den Idiotien der korrupten Gewaltherrschaft und der imperialistischen Grossmacht-Politik entsteht.
Wer diese Prozesse gedanklich aufbrechen will, darf sich nicht auf die Analyse der Politik mit den Kategorien der Politik und der politischen Publizistik beschränken.
Politik – und Publizistik – für die Menschen
Wir, die Medienschaffenden, bewegen uns mit unseren imponierenden Analysen und unserer welterklärenden Politik-Kritik auf genau der gleichen Ebene wie die Politiker, die ihre Rechtfertigungsreden halten und ihre geostrategischen Machtspiele spielen. Mit dem kleinen Unterschied, dass wir, die Medienmenschen, es noch ein bisschen besser wissen als die Politiker an den Hebeln der Macht, mit unserer gnadenlosen Erinnerung an die Enttäuschungen der Vergangenheit und unserer Vorschau auf die Unglaubwürdigkeit ihrer Absichten und das Scheitern ihrer Vorhaben.
Aber manchmal, ganz selten, sind Politiker klüger als die Medienmenschen. Jean Appeldorn beispielsweise, Luxemburgs Aussenminister und im März 2014 Vorsitzender des UNO-Sicherheitsrats, häufig ein Mann der klaren Worte, hat jüngst am Schluss eines wie immer hochpolitischen Interviews im deutschen Fernsehen unaufgefordert erklärt: «Ich denke, wir sollten uns daran erinnern, dass es immer auch um die Menschen geht.»
Für diesen Satz hatte sich das ganze Interview gelohnt.
***
1989, zwanzig Jahre nach dem Fanal von Jan Palach, gab es in Prag zu seiner Erinnerung die grösste Demonstration gegen die realsozialistische Diktatur seit dem sowjetischen Einmarsch. Wenige Monate danach brach das System zusammen. Der Schriftsteller Vaclav Havel wurde der erste Staatspräsident der neuen, demokratischen Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik.
Es braucht manchmal lange, bis die Menschen zu ihrem Recht kommen. Und einen stetigen Einsatz, dass es bei ihnen bleibt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine