Disneyland-Verbot: Wut machte Kreml-Chef populär
Wer alt genug ist, um sich noch vage an die Reise des damaligen Kommunistenführers Nikita Chruschtschow im Jahr 1959 durch die USA zu erinnern, oder wer im Geschichtsunterricht etwas davon mitbekommen hat, wird diesen Dokumentarfilm auf Arte-TV mit Genuss ansehen. Nie mehr gab es seither einen so undiplomatischen, jedoch erfolgreichen Auftritt eines Diktators im Westen. Es war auch das erste grosse politische Event in der Geschichte des Fernsehens mit Direktübertragungen. Chruschtschow löste einen Medien-Hype aus.
Für die US-Bevölkerung die Verkörperung des Bösen
Auf einem Höhepunkt des Kalten Kriegs – drei Jahre nach dem russischen Einmarsch in Ungarn – lud US-Präsident Dwight D. Eisenhower den Stalin-Nachfolger Nikita Chruschtschow auf eine zweiwöchige Reise in die USA ein. Die Reise im sonnigen Herbst des Jahres 1959 von Nikita Chruschtschow, des Vorsitzenden der KPdSU und Regierungschefs der UdSSR und damit der Leitfigur der gesamten kommunistischen Welt, war eine der merkwürdigsten Episoden des Kalten Krieges. Die Reise fand ein Jahr vor dem denkwürdigen Auftritt von Nikita Chruschtschow mit dem Schuh in der Hand vor der UNO im Jahr 1960 statt.
Vom feindlichen Schweigen zur Neugier bis zum Applaus
Mitten im Kalten Krieg und nach zehn Jahren ständig geschürter Angst vor den Kommunisten landete der sowjetische Führer in Washington D.C. Die erste Reaktion der Amerikaner spiegelte Angst und Abneigung gegenüber dem «Bösen» wider: Tausende von Menschen, in dumpfes Schweigen gehüllt, säumten die Strassen, auf denen Chruschtschows Konvoi zum Weissen Haus fuhr. Zur selben Zeit unterbrachen alle drei US-Fernsehsender ihr Programme.
Doch bald wich die Angst der Neugier, die sich in einer zwölf Tage währenden medialen Hyperaktivität niederschlug. Während dieser Tage konnten Chruschtschows Auftritte in allen Details am Bildschirm und vor dem Radio mitverfolgt werden: es war das erste Grossereignis der Fernsehgeschichte. Chruschtschow bekehrte zwar die Amerikaner nicht zum Kommunismus, aber von Auftritt zu Auftritt gelang es ihm mehr und mehr, die Bevölkerung durch seine joviale, direkte und cholerische Art für sich einzunehmen. In gewissem Sinne befreite diese Reise einen Grossteil der US-Bürger von einem nahezu paranoiden Antikommunismus, der durch die Hexenjagden der republikanischen Senatoren seit Kriegsende geschürt worden war.
Als die US-Behörden einen Besuch im Disney-Land von Los Angeles aus Sicherheitsgründen kurzfristig absagten, rastete der russische Bauernsohn wieder einmal aus: Ob denn dort eine ansteckende Cholera ausgebrochen sei, fragte er rhetorisch. Oder ob das freie Land der USA nicht einmal für die Sicherheit und den freien Zugang zum Disneyland gewährleisten könnten? Das amerikanische Volk hatte Chruschtschow auf seiner Seite, will doch jeder Amerikaner das Disneyland besuchen.
Als Riesenereignis feierten es die US-Medien, als Chruschtschow zum ersten Mal in seinem Leben in einen Hotdog biss, eine kulinarische Spezialität, die es im kommunistischen Reich nicht gab. Chruschtschow durchschaute, dass er als Werbeträger für einen bestimmten Hotdog-Hersteller hinhalten musste.
Der Kreml-Chef wunderte sich auch öffentlich darüber, dass Gäste einen hohen Preis zahlen mussten, um an grossen Diners mit ihm teilnehmen zu können. Das erinnere ihn an seine Kindheit, sagte Chruschtschow den Amerikanern: Damals hätte man ein paar Kopeken zahlen müssen, um einen Elefanten zu bestaunen.
Heute, mehr als 50 Jahre danach, ruft der Arte-Dokumentarfilm «1959. Chruschtschows Reise durch die USA» dieses Ereignis in Erinnerung: aus der Sicht des sowjetischen Staatsmannes, der die USA entdeckt, ebenso wie aus der Sicht der Amerikaner, die diesen Fremden aus dem fernen «Reich des Bösen« zunächst angsterfüllt, bald amüsiert und eingenommen beobachten: Ein einmaliges Zeitdokument.
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Sie können den TV-Dokumentarfilm hier im Internet nachverfolgen. Oder geniessen Sie die Wiederholung auf Arte am Dienstag, 18. März, am Vormittag um 8.55 Uhr.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Wer ist eigentlich R.L.? Gruss B.D.
@Herr Düggelin. R.L. ist ein Redaktions-Kürzel, das wir verwenden, wenn wir lediglich einen fremden Beitrag verarbeiten oder übersetzen, ohne Eigenleistung. Die Quellenangaben sind jeweils in den Artikeln deutlich vermerkt oder verlinkt.