Giftgas_1_Weltkrieg

Englische Stellung nach deutschem Giftgasangriff im Juli 1916 © Hermann Rex/wikimedia commons

«Grösster Fehler der modernen Geschichte»

Jürg Müller-Muralt /  Der Historiker Niall Ferguson provoziert mit einer These zum Ersten Weltkrieg: Britannien hätte Deutschland gewähren lassen sollen.

Im Gedenkjahr zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren bleibt von der These der Alleinschuld Deutschlands an der vielzitierten «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» nicht mehr viel übrig. Bei den meisten Historikern hat schon lange ein Umdenken eingesetzt, doch nun nimmt auch ein breiteres interessiertes Publikum davon Kenntnis. Vor allem zwei Wissenschaftler weichen in ihren jüngsten Publikationen von der Kriegsschuldthese ab: Der australische Historiker Christopher Clark und der deutsche Politologe Herfried Münkler.

Verzwickte Bündnismechanismen

Münkler lehnt die These vom gezielt durch Deutschland vorbereiteten Krieg ab. Damit relativiert er das Werk des Hamburgers Fritz Fischer von 1961 mit dem Titel «Griff nach der Weltmacht», in dem der Historiker dem Deutschen Reich «den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung» am Kriegsausbruch anlastete. Er meinte sogar, dass «im Juli 1914 ein Kriegswille einzig und allein auf deutscher Seite bestand». Münkler dagegen argumentiert in seinem Buch «Der Grosse Krieg: Die Welt 1914-1918» (Link siehe unten), dass Deutschland zwar eine wichtige Rolle beim Kriegsausbruch zukam, aber nicht generell verantwortungslos oder willkürlich handelte. Auch Clark – der exzellente Experte in deutscher Geschichte hat 2007 mit dem Buch «Preussen» ein Standardwerk geschaffen stellt in seinem Weltkrieg-Buch «Die Schlafwandler» (Link siehe unten) die These von einer speziellen Kriegsschuld Deutschlands infrage. Er rückt vor allem die verzwickten Bündnismechanismen in den Vordergrund.

«Ein überraschender Pazifist»

Stark angeheizt hat die Weltkriegsdebatte in Grossbritannien der britische Historiker Niall Ferguson. In einem Interview mit dem «BBC History Magazine» (Link siehe unten) bezeichnete er den Eintritt Grossbritanniens in den Ersten Weltkrieg als «den grössten Fehler der modernen Geschichte». Der «Independent» nannte Ferguson «einen überraschenden Pazifisten». Dies deshalb, weil der Harvard-Professor alles andere als ein Linker ist. Er hat mehrfach die aussenpolitische Linie des früheren US-Präsidenten George W. Bush unterstützt und die Notwendigkeit eines starken «Weltpolizisten» hervorgehoben. Umstritten ist auch Fergusons These von der Überlegenheit des Westens aufgrund von sechs so genannten Killer-Apps, nämlich Wettbewerb, Wissenschaft, Demokratie, Medizin, Konsum und protestantische Arbeitsethik.

Britannien als Hauptschuldiger

Fergusons Weltkriegs-These ist allerdings nicht neu. Er hat sie bereits 1999 in seinem Buch «Der falsche Krieg» (Link siehe unten) formuliert. Er vertritt darin die These, nicht Deutschland, sondern die britische Politik trage die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch. Jetzt wiederholt und akzentuiert er seine damalige Sicht. Dies als Reaktion auf Äusserungen des konservativen britischen Bildungsministers Michael Gove, der Anfang 2014 «Deutschland mit seinen aggressiv expansionistischen Kriegszielen» die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zugeschoben hatte. Es sei «demokratische Pflicht» gewesen, dagegen vorzugehen. Patriotismus, Ehre und Mut Grossbritanniens seien nötig gewesen, damit Freiheit und Demokratie hätten siegen können.

Deutschland keine Bedrohung

Die Replik Fergusons muss in den Ohren britischer Patrioten ziemlich schrill tönen. Er sagte im Interview unter anderem, Britannien hätte sich aus dem Krieg heraushalten sollen und sogar ganz gut mit einem deutschen Sieg leben können; schliesslich sei das deutsche Kaiserreich demokratischer gewesen als das damalige Britannien. Zudem sei Deutschland keine direkte Bedrohung für Grossbritannien gewesen. Man hätte viel realpolitischer handeln und die britischen Interessen wahrnehmen sollen, statt die von Deutschland missachtete Neutralität Belgiens zu verteidigen. So sei man unvorbereitet in einen Konflikt hineingestolpert, habe Landstreitkräfte mühsam zusammenkratzen und einen entsprechend hohen Preis mit fürchterlichen menschlichen Verlusten bezahlen müssen, welche die britischen Opferzahlen des Zweiten Weltkriegs massiv überstiegen. Damit stellt sich Ferguson gegen die Vorstellungen des «gerechten Krieges», wie ihn Bildungsminister Gove und auch Premierminister David Cameron mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg vertreten.

Abwarten wäre besser gewesen

Es wäre gemäss Ferguson sinnvoller gewesen, sich statt auf einen Landkrieg auf die hohe Überlegenheit zur See zu konzentrieren. Grossbritannien hätte aus der Geschichte lernen und sich wie zur Zeit Napoleons alle Optionen offenhalten sollen; das heisst, sich entweder mit der kontinentalen Hegemonialmacht zu arrangieren oder später unter günstigeren Bedingungen in den Krieg einzugreifen. Britannien wäre auf den Weltmeeren und punkto finanzieller Potenz auch nach einem allfälligen deutschen Sieg über Frankreich und Russland dem Deutschen Reich immer noch überlegen gewesen. So wie die Dinge dann gelaufen sind, hat Grossbritannien mit seiner Politik faktisch das Ende seines Empire eingeläutet. In seinem Buch «Der falsche Krieg» vertritt Ferguson die These, dass es anders hätte sein können: Ein deutscher Sieg im Ersten Weltkrieg und ein intaktes britisches Empire hätten gar zu einem blühenden und demokratischen Europa geführt.

Umstrittene Methode

Hätten und wären: Die Argumentation Niall Fergusons beruht zum Teil auf Spekulationen. Er bekennt sich denn auch zur Methodik der so genannten virtuellen oder kontrafaktischen Geschichte. Diese geht der Frage nach, was geschehen wäre, wenn einzelne historische Ereignisse anders abgelaufen wären. Damit versprechen sich gewisse Historiker Erkenntnisse über Zwangslagen und Handlungsspielräume in bestimmten geschichtlichen Situationen. Die Methode ist allerdings in der Geschichtswissenschaft sehr umstritten, weil sie eben nicht zu gesicherten Erkenntnissen, sondern primär zu nicht falsifizierbaren Spekulationen führt. Das vorliegende Beispiel zeigt aber, dass diese Methode auch ihren Reiz hat – und dass sie geschichtspolitisch brisante Debatten auszulösen vermag.


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9 Meinungen

  • am 7.02.2014 um 15:24 Uhr
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    Drei Bemerkungen dazu:
    1) Die Arbeit von Fritz Fischer ist nicht widerlegt worden. Seither sind nur weitere Regierungen hinzugekommen, die ähnlich (gleich ???) rücksichtslos ihre Machtinteressen durchgesetzt oder idiotisch fahrlässig gehandelt haben.
    2) Einzigartig ist der 1. Weltkrieg nur im Ausmass, als er allen Beteiligten nur geschadet hat: die 3 Haupt-/mitschuldigen Monarchien hat er liquidiert, Europa wurde machtpolitisch wieder zweitklassig (das ist das Haupttrauma des imperialistischen Reaktionärs Ferguson). Er war der dümmste Krieg – fähige Diplomaten hätten ihn im wohlverstandenen Interesse ALLER verhindern können.
    3) Der Erste Weltkrieg ist aber nicht das dümmste, was die Regierungen von Weltmächten an Russischem Roulette je gespielt haben. Die Kubakrise (und mindestens zwei weitere ähnliche Zuspitzungen) hat mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 (US-Regierungskreise) bis 1/2 die Vernichtung der halben bis ganzen Menschheit riskiert. Das ist 1-2 Zehnerpotenzen dümmer als die zwei Weltkriege. Und das dauert an.

    Werner T. Meyer

  • am 7.02.2014 um 17:20 Uhr
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    Wichtiger scheint mir: Quo bonum, wem nützte dieser Krieg. Folge dem Geld, wer machte die grosse Kasse mit dem 1 und auch dem 2 Weltkrieg? Es waren immer dieselben. Alle anderen Details scheinen mir sekundär, wenn wir eine widerholung dieser Massenmorde verhindern wollen.

  • am 7.02.2014 um 19:44 Uhr
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    @Beatus Gubler Cui bono?
    1) Diejenigen, die den Krieg angefangen haben – die deutsche und Habsburgische Monarchie (die russische hat sich eher auf Seite idiotische Minister / Diplomaten, debile Adlige in die Geschichtsbücher eingeschrieben) verlieren total.
    2) Machtzuwächse haben die USA, die in keiner Weise zu diesem Krieg gehetzt haben und die Bolschewiki, die am stärksten gegen den Krieg agitiert haben – vor, während und für Russland kriegsbeendend – koste es was es wolle.
    3) Die Börsen haben vor August 1914 in keiner Weise positiv reagiert. Die deutsche Industrie eroberte gerade die freien Märkte friedlich.
    4) Auch die These einer interimperialistischen Konkurrenz ist dubios. Da hätten sich nämlich die Konkurrenten in Afrika (Frankreich gegen England) und in Asien (England gegen Russland) verbünden müssen. Die Allianzen verliefen genau gegenteilig.

    Die grosse Lehre aus dem ersten Weltkrieg ist gerade, dass es Kriege gibt (es gibt auch andere) , wo alle – insbesondere die Machteliten – nur verlieren.
    Sie haben keine Fakten, welche Ihr Geraune stützen könnten.

    Werner T. Meyer

  • am 7.02.2014 um 20:35 Uhr
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    @ Werner T. Meyer. Guten Abend. Folge dem Geld, das lernt man nicht an der Universität. Dort wurde gelernt was von höherer Stelle als lernenswürdig betrachtet wurde. Es sind immer die Sieger, welche die Geschichte schreiben. So ist z.B. der 1. und der 2. Weltkrieg eigentlich ein einziger 30 jähriger Krieg zu betrachten. Durch eigenständiges autodidaktisches nachforschen in der Unibibliothek kann man noch einiges mehr entdecken. Und mit dem heutigen Informationsmedium Internet sind Sie auch sehr schnell in jeder Uni in den Usa drin. Die Grossbanken Rockefeller, Rothschild, Carnegie, Harriman, Morgan, Schiff und Warburg, ihnen gehört über 90% des Weltkapitals, waren diejenigen welche am 1 und 2ten Weltkrieg die grosse Kasse gemacht haben, jenseits der Nationen, ob verfeindet oder verbrüdert. Die Nationen waren alle Verlierer, die einen mehr und die anderen weniger. Die einzigen Sieger waren oben erwähnte Grossbanken, mit ihren 300 Grosskonzernen, welche für beide Seiten bereits 7 Jahre vor dem ersten Weltkrieg, wohlwissend was kommen wird, die Waffenproduktion hochfuhren. Der Forscher Foster Gamble, Nachkomme des Pharmamulti Gamble Usa, hat in diversen, sehr gut dokumentierten Filmbeiträgen, (Arte, CNN, BBC, YOU-TUBE) verifizierbar den Geldfluss sehr deutlich rekonstruiert. Bei Foster Gamble reden wir nicht von einem Verschwörungstheoretiker, sondern von einem Harvard-Absolventen der Bildungselite der Usa. Bei Google werden sie ihn und seine Webprojekte finden. Gruss B. Gubler

  • am 7.02.2014 um 23:56 Uhr
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    @Beatus Gubler
    Machen sie weiter so beim selbständigen recherchiern! Bitte seien Sie aber auch skeptisch genug dabei. Zum Beispiel wenn es wie bei Foster Gamble von perpetuum mobiles und Ufos zu wimmeln beginnt.
    Harvard ist bekannt dafür, dass dort die Kinder von spendablen Familien Rabatt kriegen bei der nötigen Punkzahl für den Eintritt. Diese Rabatt-StudentInnen werden auch «legacies» genannt (da häsch s’Gschängg)…

    Guten Abend
    Werner T. Meyer

  • am 8.02.2014 um 08:30 Uhr
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    Danke Herr Meyer für den Hinweis, es freut mich sehr, dass Sie als kompetenter Autor, mit Leistungen dekoriert, noch so agil und breitbandig Informiert diskutierten können, das ist eher selten, meinen Respekt. Natürlich sind auch bei Herr Gamble meine Kontrollmechanismen nicht ausgeschaltet. Gruss Beatus Gubler Projekte http://www.streetwork.ch Basel

  • am 8.02.2014 um 19:33 Uhr
    Permalink

    Clark ist ohne Zweifel ein Experte auf dem Gebiet und seine Thesen durchaus bedenkenswert. Aber Münkler? Im Windschatten der durch Clark und Ferguson erneut angestossenen Diskussion fahren deutsche Konservative eine Neuauflage gegen Fischer, die teilweise sehr an die Hetzkampagne der 1960er-Jahre erinnert. Als kleine Kostprobe dazu eine Interviewaussage Münklers aus der Süddeutschen: «Fritz Fischers Methodik würde heute in keinem Proseminar akzeptiert". Weiter bezeichnete er Fischers Werk als «gut gemeinte Psychotherapie, aber keine Wissenschaft". Nein, Volker Ullrich urteilt in der Zeit schon richtig über diese «Diskussion", wenn er schreibt: «In solchen Attacken wird deutlich, worauf der teils schrille deutsche Jubel über Clarks Schlafwandler letztlich zielt: Es geht um eine geschichtspolitische Weichenstellung. Was den Konservativen im «Historikerstreit» der achtziger Jahre noch missglückte – nämlich die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte zurückzugewinnen -, das soll jetzt gelingen". Dass ausgerechnet der Infosperber hier mitmacht, ist bedauerlich, aber m.E. nicht verwunderlich, werden hier doch immer wieder chronologiekritische und andere geschichtsrevisionistische Themen publiziert (man vgl. dazu meine Kommentare zur Berichterstattung über die Qin-Ausstellung in Bern hier auf Infosperber).

  • am 9.02.2014 um 10:52 Uhr
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    @Michael Gisiger Guten Tag. Wenn Sie eine dermassen hohe Kompetenz mit sich bringen um dies zumindest Intellektuel so rigoros beurteilen zu können, wuerde mich ein Buch von Ihnen über dieses Thema interessieren.
    Danke und Gruß Beatus Gubler

  • am 9.02.2014 um 13:05 Uhr
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    Michel Gisiger muss ich zustimmen, wenn er Herfried Münkler verbellt. Der Mann ist zwar ein intellektuelles Schwergewicht und scheibt sogar spannend. Er ist auch vernetzt in der Rechshauptstadt wie eine Spinne. Aber er hat auch Treitscke-Giftklasse.

    Wie Ferguson ist er ein bekennender Imperialist.

    Da geht es nicht um Teilimperien IN der Weltwirtschaft, sondern um den Römischen Typ: Imperium ANSTELLE einer Weltwirtschaft. Dabei entsteht Macht durch militärische Eroberung, wird politisch institutionalisiert und wirtschaftlich wird Tribut, nicht Gewinn abgeschöpft.
    Solche Imperien haben in der Neuzeit im Westen nur noch 3 Leute zu gründen versucht:
    – Karl V – er ging bankrott, seine holländischen Gegner wurden Weltmarktführer.
    – Napoleon – seine britschen Gegner starteten danach die industrielle Revolution.
    – Hitler – seine Gegner teilten dann die Welt in die 2 Blöcke.
    Ein Schrottmodell also? – nicht für Münkler. Er hat den Trick gefunden, nur Imperien zu analysieren, die eine AGUSTÄISCHE WENDE schaffen, wie eben die Römer. Solche Imperien können in der Tat für die Oberschichten der Peripherien attraktiv werden. Ein «Libyer» kann da Kaiser werden statt in der Kanalisation zu enden wie heute. Damit wird Münkler schwups auch Hitler los. Solche Definitions-Tricks funktionieren aber nur im Elfenbeinturm.

    Werner T. Meyer

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