Wir Abgeschotteten
«‹Rumänen und Bulgaren› – das klingt inzwischen wie eine Furcht einflössende Völkerwanderung, wie ein tödlicher Tsunami, der sich am Schwarzen Meer auftürmt und von Berlin bis London alles niederwalzt.»
So stand es kürzlich in der deutschen Zeitung «Die Welt» geschrieben. Autor: Wolfgang Scheida. Titel seines bemerkenswerten Artikels: «Ich bin Rumäne und dieses Gerede leid».
«Rumänen und Bulgaren – das hat etwas von der Maul- und Klauenseuche, die sich über die zivilisierten Regionen des Kontinents ausbreitet und alles Gesunde dahinrafft. (…) Man will mit uns Geschäfte machen, schreit aber zetermordio, wenn wir uns in Europa frei bewegen und arbeiten wollen. (…) Wer so reagiert, denkt an Sozialbetrüger und Kriminelle, an Roma-Familien, die ihre Kinder zum Betteln schicken, an Zuhälter, die Frauen zur Prostitution zwingen. Das mag zwar vorkommen, aber repräsentativ für (…) Rumänen ist es nicht.»
Was Scheidas Text bemerkenswert macht, sind nicht die Zahlen, die in seinem Artikel die Realität über die angebliche Masseneinwanderung aus dem Osten ins richtige Licht rücken, nicht Statistiken, die den positiven Einfluss der Migranten auf die Sozialsysteme zeigen: die finden über die rein ökonomisch begründete Argumentationskette zugunsten der Personenfreizügigkeit auch Eingang in die Schweizer Migrationsdebatte. Es ist vielmehr die persönliche Empfindung, die Scheida in seinem Text benennt, die nur einer wie er empfinden kann: «Unbehagen». Er schreibt: «Es ist nicht angenehm dieser Tage, Rumäne zu sein.»
Dort wie hier ist der Arbeitsmigrant der Sündenbock. Dort ist es die Europawahl, hier die SVP-Masseneinwanderungsinitiative, die den Diskurs über die Grenzen des Zumutbaren befeuert. Und die Zumutung ist in diesem Diskurs der Migrant. Bemerkenswert ist Scheidas Artikel, weil er in seiner Empfindsamkeit augenfällig macht, wie im medialen Diskurs die Stimme der Migranten fehlt in der Schweiz.
Die Masse der stimmlosen Minderheiten
Es dreht sich viel um das Gefühl des Unbehagens im Abstimmungskampf zur SVP-Masseneinwanderungsinitiative. Unbehagen, wie es die junge Aargauer SVPlerin angeblich spürt, wenn sie am Zürcher Hauptbahnhof ankommt und nur fremde Sprachen hört. Sie kann ihrem Unbehagen nicht nur in der TV-«Arena» (ab 19’10”), sondern auch bald auch an der Urne eine Stimme geben. Aber was ist mit dem polnischen Wanderarbeiter, der jeden Abend im Zürcher Hauptbahnhof seinen orangen Putzwagen mit dem Saugrüssel voran durchs Gedränge steuert, vorbei an den Plakaten, auf denen schwarze Schuhe das Schweizerkreuz überrennen? Er arbeitet hier, er lebt hier, zahlt hier Steuern. Was ist mit seinem Unbehagen?
Es gibt den polnischen Putzmann als Stimme in der medialen Debatte über die Zuwanderung in der Schweiz nicht, ebenso wenig wie den Zeitungsautoren mit rumänischem Migrationshintergrund. Die Migrantinnen und Migranten werden von den Befürwortern der EU-Freizügigkeit zu einem ökonomischem Nutzen degradiert und von den Befürwortern der SVP-Masseneinwanderungsinitiative zu Sündenböcken hochstilisiert. Als Individuen verschwinden sie in der Masse der nicht stimmberechtigten Minderheiten und damit auch aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit, weil sie auch im medialen Diskurs wie selbstverständlich stimmlos bleiben. Das wird der Realität in der Schweiz mit annähernd einem Viertel Zugewanderten nicht mehr gerecht, widerspiegelt jedoch gut die mentale Verkrustung der professionell hergestellten Öffentlichkeit in diesem Land, die in ihrer kulturellen Entwicklung mit den Dynamiken der globalisierten Schweizer Wirtschaft nicht mehr mithalten kann − oder noch viel schlimmer: gar nicht mithalten will.
Die Talsohle, das Reduit
Herausragend karikiert wird diese Verkrustung von Hanspeter Lebrument, dem Präsidenten des Verbands Schweizer Medien, der das Bild einer Presse zeichnet, die nicht nur ökonomisch, sondern auch mental nach der Talsohle tastet.
Hat der Verlegerpräsident kürzlich anlässlich der alljährlichen Dreikönigstagung der Verleger die Chance genutzt, um ein flammendes Plädoyer zu halten, in den Medien den 1,8 Millionen Menschen mit ausländischer Herkunft im Land eine hörbare Stimme zu geben? Auch die Zugewanderten in den öffentlichen Diskurs einzubinden und damit dem mit der wachsenden Zuwanderung mitwachsenden Bedeutungsverlust von TV, Radio und Zeitungen entgegenzuwirken? Hat er die Chance genutzt, mit einem Aufruf zu innovativer Partizipation der überhörten Masse der Minderheiten für die Medienbranche eine zukunftsgerichtete, ja gar staatspolitisch glaubwürdige publizistische Vision gegen die ökonomische Krise anzuregen? Schliesslich denken der Präsident und sein Verband neuerdings laut über staatliche Medienförderung nach. Und Lebrument hat bereits Erfahrung mit Zuwendungen: für jede Rätoromanin und jeden Rätoromanen als Leser, Zuhörer oder Zuschauer seiner und anderer Medien fliessen Subventionen – warum also nicht auch für die türkischstämmigen Einwanderer in der Schweiz, die unsere Rätoromanen zahlenmässig längst überholt haben?
Nichts dergleichen. Hanspeter Lebrument beschwor stattdessen den Korpsgeist der Schweizer Medienmacher, in schweren Zeiten über alle Hierarchiestufen und Mediengattungen hinweg doch bitte zusammenzustehen – und gemeinsam an den Vertriebskosten zu sparen.
Im Wörterbuch steht dazu:
«Tal•soh•le, die: (1) tiefster Punkt im Querschnitt eines Tales, bei dessen Entstehung auch Seitenerosion stattgefunden hat (2) bildlich: Tiefpunkt einer Entwicklung.»
Im Medienghetto
Es ist ja nicht so, dass es für Lebrument und den Verband keinen Anlass gegeben hätte, zu einer feurigen Rede anzusetzen. Just am Tag des Verlegerevents erschien in der «NZZ» ein Interview mit Sylvia Egli von Matt, die als Direktorin das MAZ führt, jene Ausbildungsstätte für Journalisten also, die von den Schweizer Verlegern gemeinsam getragen wird. «Es gibt in den Redaktionen nur wenige Journalisten mit Migrationshintergrund», sagte Egli von Matt und führte aus, woran das liegen könnte:
«Journalismus ist in vielen Ländern nicht wirklich ein angesehener Beruf. Einwanderer, die es in die Schweiz geschafft haben, möchten entsprechend nicht, dass ihre Kinder ausgerechnet diesen Beruf wählen.»
Das tiefe Sozialprestige des Journalistenberufs im Ausland trifft auf die miesen, weil von jeder Innovation abgekoppelten Arbeitsbedingungen in der Schweizer Medienbranche, mit dem Resultat, dass sich ausgerechnet jener Berufszweig, der das Land und seine Befindlichkeiten spiegeln sollte, aus der multikulturellen, globalisierten Gesellschaft desintegriert. Was dazu führt, dass die homogen zusammengesetzte Branche zunehmend unter einer Verzerrung der Realität leidet, einer hegemonial bedingten Deutungsschwäche.
Wer lacht da noch?
Ein besonders anschauliches Beispiel für diese Deutungsschwäche liefert dieser Tage die Debatte über Humor und Rassismus. Bequemlichkeitsliberale, darunter viele Medienschaffende, empörten sich im Chor mit den Berufshumoristen über die Vermutung, dass eine schwarz angemalte Birgit Steinegger als Frau Mgubi womöglich rassistisch sein könnte. Es brauchte den Paris-Korrespondenten des «Spiegel» mit Schweizer Abstammung, der sagte, was man in dieser – sagen wir mal: nicht gerade unter geistigem Dichtestress leidenden – Debatte vielleicht auch bedenken könnte: «Wir leben heute in einer anders zusammengesetzten Gesellschaft als vor zwanzig oder dreissig Jahren und damit muss sich auch das Bewusstsein entwickeln.»
Dabei ist das Tragische an dieser missglückten Parodie letztlich weniger die schwarz angemalte Birgit Steinegger, sondern vielmehr der Sketch ingesamt, der das Bild einer Schweiz bemüht, die am Gängelband internationaler Organisationen wie der UNO zappelt, ganz auf der Mainstream-Welle reitend, dass das Böse in diesem Land sowieso immer von aussen kommt. Oder wie es der Schweizer Soziologe Denis Hänzi kürzlich Jean-Martin Büttner für seinen lesenswerten Text «Die Sehnsucht nach Anpassung» in den Schreibblock diktierte:
«In der Schweiz wirkt die Gefährdung immer von aussen her. Die Angriffe auf Banken und das Bankgeheimnis, die forschen Chefs aus Deutschland in der Schweiz, überhaupt die Ausländer und Einwanderer, die mit Abstimmungen abgewehrt werden sollen. Im Gegenzug installiert die Schweiz spätkapitalistisch eine neue Geistige Landesverteidigung: ein für vorbildlich gehaltenes, konsensual orientiertes Eidgenossentum mit dem Schwingfest als popkulturellem Grossereignis.»
Und mittendrin: die Schweizer Medien.
Vielleicht illustriert den derzeitigen Seelenzustand des Landes nichts so gut wie Thomas Minders Wahl zum Schweizer des Jahres 2013 in der Kategorie Politik. Er hat die Abzocker-Initiative durchgeboxt. Jetzt hetzt er gegen Ausländer – «das Boot» wird zu: «das Fass ist voll». «Ich sehe nicht ein, warum Schweizerinnen und Schweizer in ihrem eigenen Land nicht ein gewisses Privileg haben sollen», sagte der Berner SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz in der «Arena». «Ich spreche an Sitzungen konsequent Schweizerdeutsch, das ist der einzige Standortvorteil, den ich noch habe», meinte kürzlich ein SRF-Mitarbeiter.
Wo sich in rechten und linken Köpfen flankierende Abschottungsmassnahmen gegen Weltoffenheit und Wettbewerb berühren, hat einer/eine ganz sicher nichts zu lachen. Es ist nicht angenehm dieser Tage, (hier Nationalität einsetzen) zu sein.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Essay erschien zuerst auf dem Medienportal www.medienspiegel.ch
1. Wer Waffen säht, wird Flüchtlinge ernten.
2. Wer seinen Wohlstand auf Kosten der Armen aufbaut wird dafür früher oder später die Quittung in Form von Einwanderer erhalten.
Die Schweiz kann sich nicht abschotten und gleichzeit alles mögliche an Produkte und Lebensmittel aus dem Ausland importieren.
In Europa kämpfen momentan die Menschen ums überleben. Und die Schweizer kümmern sich nur darum ob sie Abends echt einen Sitzplatz im Zug haben werden.
Das sind nunmal die Schattenseiten der Globalisierung und die Schweiz sollte mit dieser Rosinnenpickerei aufhören.
Grüsse von einem Portugiesischen Einwanderer
Zutreffend scheint mir Chr. Mosers Kritik am Mundart-Chauvinismus zu sein. In dieser Richtung engagiert sich mein Doktorvater von Matt, wiewohl und gerade weil er perfekt nidwalderisch spricht und sogar Verse in dieser Sprache machen kann. Auch stimmt es, dass in der Schweiz über 99,9 Prozent der Bevölkerung, u.a. ich, der ich im Kindergarten angemalt den König Kaspar gespielt habe, bis zur Epoche Winfrey/Steinegger nicht wussten, was «Blackfacing» ist. Da der Lehrplan 21 bald 500 Seiten hat, würde es auf dieses Detail als pädagogisch wertvolle Ergänzung auch nicht mehr ankommen. Es fällt schwer, sich bei jeder Äusserung bewusst zu machen, wie rassistisch, frauenfeindlich, zum Teil auch antisemitisch unsere Kultur angelegt ist. Hier bleibt Aufklärung wichtig.
Chr. Moser schreibt über Rumänen und Bulgaren. Diese gibt es so wenig, wie es vor 30 Jahren an den Olympischen Spielen «Sowjets» gab. Derzeit findet in der Schweiz und in Deutschland eine heftige Auseinandersetzung um die Banater Schwaben statt, welche der Literaturpreisträger Catalin Dorian Florescu per Roman beleidigt haben soll, auch Herta Müller ist sehr umstritten. Eine rumänische Bezugsperson von mir in Bern, ihrerseits Kulturpreisträgerin, legt Wert auf die Unterscheidung zwischen Rumänen und Sinti/Roma, welche bei der Rumänendebatte hauptsächlich gemeint sind. Auch die Bulgaren sind nicht einfach Bulgaren. Nebst Sinti/Roma freuen sich vor allem Hochqualifizierte aus diesem Land auf Schweizer Löhne und Renten.
Wer hat die vielen Zuwanderer ins Land geholt? Die Unternehmer. Nie wurde die Stimmbevölkerung gefragt, ob sie ein so hohes quantitatives Wirtschaftswachstum will, bei dem das Lohneinkommen der Mittelschicht real nur wenig zunimmt und die Lebensqualität durch Dichtestress leidet. Ist es da verwunderlich, dass sich diese Mittelschicht gegen noch mehr Zuwanderung wehrt? Wer Schweizerin oder Schweizer werden und mitbestimmen will, kann das, wenn er sich nur etwas anstrengt und die nicht allzu hohen Anforderungen erfüllt. Übrigens: Gegner einer übermässigen Zuwanderung sind in der Regel keine Ausländerfeinde. Diese Gleichsetzung ist böswillig und dumm.
Die Schweizer haben es nicht leicht, wenn sie über Zuwanderung oder nicht abstimmen sollen, zumal eine Menge gesagt/geschrieben wurde, was eher Verwirrung als Entscheidungshilfe sein kann. Ganz sicher sind nicht alle Sozialschmarotzer, die kommen wollen und ernsthaft im Sinn haben «wirklich zu arbeiten» und auch in die Sozialkassen einzuzahlen. Man sollte diesen Leuten aber auch sagen, dass sie unter Umständen von manchen Arbeitgebern regelrecht «abgezockt» werden (siehe RTL, Stern TV, Ausbeutung ausländischer Arbeiter). Viele werden allerdings nicht unbedingt bleiben wollen, sie werden nach einigen Jahren wieder zurückziehen. Mein Problem? Warum sind die oft besser ausgebildet als «unsere» Leute?
Das Ganze bekommt dadurch einen bitteren Beigeschmack, weil die Ersten, die gekommen sind, eben die Rroma aus Rumänien und Bulgarien waren, die eventuell von Schlepperbanden hergebracht wurden, die oft so «schlau» waren und sich sogar mehrmals angemeldet haben. Andere wieder kamen her und betrachteten das Land als Selbstbedienungsladen für Diebestouren, Scheckbetrügereien usw.
Über diese Leute wird in der Presse berichtet, während man über die große Zahl der anständigen Menschen, die kommen wollen, nichts berichtet.
Andere wieder, fleißige, arbeitsame und anständige Leute werden von Autoren wie C.D.Florescu und Herta Müller bis zur Unkenntlichkeit, Zigeuner des letzten Jahrhunderts, erniedrigt.
Ob Rum. und Bulg. zu früh in die EU kamen? Zahlen hätte die EU für sie sowieso müssen.