Tendulkar

Als Statue verewigt: Cricket-Star Sachin Tendulkar in Madame Tussauds Museum in London © Mvkulkarni/wikimedia.commons/cc

Ein Schläger als Halbgott

Peter G. Achten /  In Indien ist Sachin Tendulkar berühmter als jeder Bollywood-Star. Nun beendet der «Cricket-Gott» seine Karriere.

Auf der ganzen Welt kennt man Sportgrössen wie Pelé, Tiger Woods, Usain Bolt, Lionel Messi und Roger Federer. Doch wer ist Sachin Ramesh Tendulkar? Nie gehört? Kein Wunder, denn Tendulkar spielt Cricket. Zwar nicht gerade eine Randsportart, aber nur in Ländern des britischen Commonwealth verbreitet. Das hat historische Gründe. Die britischen Imperial-Kolonialisten brachten im 19. Jahrhundert das ziemlich elitäre Spiel auf den indischen Subkontinent und in ihre Kolonien nach Südafrika, Australien, Neuseeland und die West Indies in der Karibik. Cricket ist deshalb in diesen Regionen der alles beherrschende Nationalsport. Schüler spielen auf dem Pausenhof nicht Fussball, sondern eben Cricket.

Baseball mit Valium

Cricket ist – zumindest für europäische Zuschauer ohne Vorkenntnisse – ein sehr komplexes Spiel. Kürzlich in Indien, haben mich Freunde zu zwei ellenlangen Spielen in Delhi eingeladen. Wenn die Fans begeistert die Arme hochrissen – wie nach einem Fussball-Tor – blieb ich ahnungslos sitzen, weil ich partout nichts Aufregendes gesehen hatte. Aber eben, Cricket ist kompliziert und noch schwieriger zu verstehen als Baseball. Der amerikanische Nationalsport ist übrigens mit Cricket verwandt. Vor zwanzig Jahren hatte mir der berühmte Baseball-Spieler Cal Ripken – was, den kennen Sie nicht! – bei einem Trainingsbesuch bei den Baltimore Oriols ins Reporter-Notizbuch diktiert: «Cricket ist wie Baseball, aber mit Valium».

Wie dem auch sei, beim Match in Delhi fragten mich meine indischen Sportsfreunde, ob ich denn die wichtigste Nachricht schon gehört hätte. Nein, hatte ich nicht. Diesmal war es an den Indern, den Kopf zu schütteln. Die Nachricht: Sachin Tendulkar, Schlagmann aus Mumbai, Held der Nationalmannschaft, eine indische Legende, ja ein Halbgott, tritt nach 24 Jahren zurück. Ganz Indien – von den Dalit, den Unberührbaren, bis hinauf zu den Brahmanen im Regierungsviertel – war schockiert. Cricket war zur Kolonialzeit und ist bis heute einer der wenigen Bereiche, wo Jung und Alt, Reich und Arm, Hindus und Moslems vereint sind in der Begeisterung fürs Spiel.

Knirps mit Lockenkopf
Der kleine Lockenkopf Tendulkar war ein Wunderkind. Als 15 Jahre alter Knirps begann er 1988 professionell als Schlagmann oder Schläger (Batman) in seiner Heimatstadt Mumbai, die damals noch Bombay hiess. 199 Spiele – Test-Series genannt – schlug er seither fürs Nationalteam. Das 200. und letzte steht am 23. November in Kolkata und Mumbai bevor. Es wird Tendulkars Abschiedsvorstellung sein. Karten für die 66‘000 Zuschauer fassende Arena in Kolkata und das 32‘000 Zuschauer fassende Stadion in Mumbai sind für Normalsterbliche ausser Reichweite. Club-Mitglieder, Sponsoren, Regierungsvertreter und ausgewählte Einflussreiche haben Vorrang. Für beide Veranstaltungen bleiben gerade einmal 8000 Karten im freien Internet-Verkauf übrig. Mehrere hundert Millionen aber werden gebannt vor den Fernsehschirmen sitzen.
Tendulkar brach während fast eines Vierteljahrhunderts alle Cricket-Rekorde. Für Kenner: In seiner Test-Series-Karriere erzielte er in 199 Begegnungen 15‘837 runs, 248 not out highest score, 53.86 average, 51 centuries und 6750s. Alles klar? Komplex eben. Einfacher ausgedrückt: «Seine schnelle, einfache Beinarbeit und seine perfekte Balance sind phänomenal», lobt der ehemalige australische Cricket-Profi Mark Ray.

Symbol in Zeiten des Umbruchs

Doch Sachin Tendulkar war mehr als nur ein Profisportler. Er wurde in einer für Indien schwierigen Umbruchszeit zum Symbol. Der Cricket-Gott begann seine Karriere zu einer Zeit, als die Wirtschaft des Landes noch wenig entwickelt und die Armut noch grösser war als heute. Das Brutto-Inlandprodukt hat sich in den vergangenen 25 Jahren versechsfacht. Als Tendulkar 1988 zum ersten Mal als Batman zuschlug, lebten rund 800 Millionen Menschen in Indien, heute sind es 1,2 Milliarden. Nur 20 Millionen Haushalte hatte zu Beginn seiner Karriere einen Fernsehapparat. Heute sind es fast zehn Mal mehr. Wovon andere Weltsportler nur träumen können: Wenn Tendulkar schlägt, gucken viele hundert Millionen Inder in die Fernsehröhre. Nicht selten kommt deswegen die eh schon prekäre Stromversorgung Indiens fast zum Erliegen.
Schon in den 1990er-Jahren zu Beginn der Wirtschaftsreformen war Tendulkar berühmt. Er «ist das Gesicht des modernen Indiens» und wurde so «zu einem nationalen Monument und zum Inspirator einer ganzen Generation», wie der indische Journalist Man Ranjith in einer Würdigung schrieb. «Die Hoffnungen von mehr als einer Milliarde Indern lagen auf seinen Schultern», stellt die Tageszeitung «The Hindustan Times» fest. Und der frühere Captain des Mumbai Cricket Teams, Shishir Hattangadi, kommentierte zum Abschied: «Er war mit seinen Erfolgen die Entschuldigung dafür, dass viele die drückenden Sorgen des indischen, oft dunklen Alltags für kurze Zeit verdrängen konnten.»
Während seiner langen Karriere hat Tendulkar ein Vermögen verdient und gehört heute zu den reichsten Sportlern der Welt. Doch er ist sich selbst geblieben. Für den gläubigen Hindu ist die Familie alles. «Er ist ein Beispiel für Bescheidenheit und Höflichkeit», urteilt die «Indian Times».
Cricket hat in Indien viel mit nationaler Befindlichkeit zu tun. Mit Sachin Ramesh Tendulkar geht eine Ära zu Ende. Die Inder werden Tendulkar schmerzlich vermissen.

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