Ein Zeitstück. Seit 51 Jahren. Immer noch
Wir haben diese Angst nicht mehr. Anders als damals, 1962, als die grosse Therese Giehse in Friedrich Dürrenmatts «Die Physiker» das Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd spielte, am Zürcher Schauspielhaus. Gerade mal 17 Jahre nach dem Abwurf der beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, mit ihren 200’000 kurzfristigen und zahllosen langfristigen Todesopfern. Hans-Christian Blech, Theo Lingen und Gustav Knuth gaben damals die irren Patienten.
Wir haben diese Angst nicht mehr. Anders als damals, 1987, als die grosse Maria Becker am Zürcher Schauspielhaus das Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd spielte. Gerade mal ein Jahr nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl, mit seinen über 300’000 Evakuierten und Umgesiedelten. Die Zahl der Todesopfer und Krebskranken dort ist umstritten. In ganz Europa wurden fast 4 Millionen Quadratkilometer Erdfläche kontaminiert. Die Bayerischen Wildschweine wiesen noch Jahre danach eine erhöhte Strahlendosis in ihrem Muskelfleisch auf.
Im Tollhaus
Wir haben diese Angst nicht mehr. Es ist alles so lange her, Fukushima ist weit weg und die Informationen sind unter Kontrolle. Unsere Welt ist ein Tollhaus des irren Vergnügens.
So hat Herbert Fritsch Dürrenmatts «Physiker» auch inszeniert. Ein grossartiges Ensemble agiert zwei pausenlose Stunden lang in der grellgelben Gummizelle (Bühnenbild: Fritsch) – bei Dürrenmatt war es noch die alte, leicht heruntergekommene Villa «Les Cerises» über dem Neuenburgersee. Die Akteure hangeln und drehen und biegen und verschlingen sich durch die Geschichte der drei Insassen, die sich für Newton, Einstein, Möbius ausgeben und in Wirklichkeit die Physiker und Geheimagenten Kilton (West) und Eisler (Ost) sind, und die sich als Irre tarnen, um den genialen Physiker Möbius auf ihre Seite zu verführen oder zu entführen. Denn Möbius gibt sich als Irrer aus, um sein System der Entdeckungen und einer endgültigen Weltformel zu verbergen, weil sie «neue, unvorstellbare Energien» freisetzen würden, wollten sie jemals zur Anwendung kommen.
Auf der Parforce-Tour
Das Ensemble zeigt eine Parforce-Tour. «Sie ist Akrobatik und Flugshow, Pantomime und Turnerabend», schreibt Christoph Fellmann auf der Website «Nachtkritik». Und Alexandra Kedves schwärmt im «Tages-Anzeiger»: «Fritsch hat sein Anti-Schlaumeier-Theater, sein Pro-Schaurausch-Theater mit grosser, ja gargantuesker (heisst: grotesk gewaltiger, R.) Kelle angerichtet; er hat jede Sinnsuche mit Sinnlichkeit ausgebootet – und das bei einem Stück, das seine Botschaft so klar vor sich herträgt wie kaum eins. Ein Ulk in Übergrösse, und, auch das, mit Überlänge: buchstäblich eine Tollerei. Sie hat, trotz ihrer Längen, den tosenden Applaus verdient, den sie erhielt.»
Die Botschaft
Die Botschaft? – Möbius, der den Irren spielt, um seine Frau loszuwerden und die Menschheit vor den Folgen seiner Erkenntnisse zu verschonen, muss zusammen mit seinen geheimdienstlichen Physiker-Kollegen feststellen, dass Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd (nach Giehse und Becker diesmal Corinna Harfouch) die gefährlichen Entdeckungen schon längst in ihrem Besitz hat, weil sie den Möbius damals schon so abgehört hat, wie wir alle heute abgehört werden. Die Kontrolle ist allgegenwärtig, «das Weltunternehmen startet, die Produktion rollt an» erklärt die irre Herrin zum triumphierenden Schluss.
«Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat», sagt Dürrenmatt zu den «Physikern», und sein heutiger Regisseur Herbert Fritsch meint – so Barbara Villiger Heilig in der NZZ: «’Das Einzige, was man auf der Bühne machen kann, ist die Sinnlosigkeit zelebrieren’… Es gelingt ihm perfekt.»
Die Macht der Gewohnheit
Es ist die Sinnlosigkeit einer Gesellschaft in ständiger Bewegung, in der die «Normalen» als «Irre» auftreten und die «Irren» die Welt beherrschen und als scheinbar «Normale» an den Schaltstellen sitzen. Die ständige Bewegung ist nichts als die ständige Flucht vor der Erkenntnis. Es mag die Flucht in die virtuelle Welt eines Computerspiele sein oder die Flucht in den irren Kreislauf des Konsums oder in das flüchtige Amüsement des Kulturbetriebs, das der «Spiegel» schon bei der Uraufführung der «Physiker» vor 50 Jahren konstatierte: «Im zwanzigsten Jahrhundert geht Dürrenmatts Zeitstück unter dem Applaus eines eleganten Publikums, das vom Gelächter bis zur Atemnot erschöpft ist, um den Untergang der Menschheit, möglicherweise um deren Fortbestand.»
Es ist im einundzwanzigsten Jahrhundert wie im Zwanzigsten. Aber wir haben diese Angst nicht mehr.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Kernkraftwerke vor unseren Haustüren das Kühlwasser verdampfen, und dass die Türen zu den Atomwaffen in Amerika manchmal offen stehen und die Wächter schlafen.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Algorithmen aus dem Kalten Krieg jetzt gegen uns angewendet werden, wie Frank Schirrmacher sagt, und dass die Überwachung allgemein geworden ist, zur grossen persönlichen Überraschung nur noch des französischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin.
Wir haben uns daran gewöhnt, unsere Privatsachen preiszugeben und darauf zu vertrauen, dass nichts zu befürchten hat, wer nichts zu verbergen hat.
Wer etwas verbergen will, hat sowieso keine Chance.
Angst und Hoffnung
Und wir haben uns mit Dürrenmatt daran gewöhnt, dass «alles, was gedacht werden kann, auch gedacht wird.» Und gemacht.
Am Schluss der gegenwärtigen Inszenierung klatscht das Publikum rhythmisch zum choreographierten Szenenapplaus und wird damit zum Teil des irren Spiels. Wir begeistern uns und leisten dem Klamauk, zu dem wir am Ende selber gehören, keinen Widerstand mehr. Wir haben ja keine Angst. Und die Truppe von der Bühne lächelt uns zu.
Vielleicht sollten wir doch wieder mehr Angst haben. Oder mehr Hoffnung, wie es im Programmheft heisst:«Ohne Hoffnung gibt es nun einmal keine politische Haltung.»
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Das Stück ist bis zum Jahresende auf dem Spielplan.
Die Physiker
von Friedrich Dürrenmatt
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Licht: Ginster Eheberg, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Corinna Harfouch, Wolfram Koch, Gottfried Breitfuss, Milian Zerzawy, Jean-Pierre Cornu, Friederike Wagner, Jan Bluthardt, Miriam Maertens, Julia Kreusch, Susanne-Marie Wrage, Joel Eggimann, Michel Stuber, Benedict Fellmer, Marc Baumann, Leandro Bärlocher, Cyrill Birchler, Alex Eastman, Leo Thomas.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.