Bedrohte Medienfreiheit: Verleger im Einzelkampf
Bei der Umfrage von Infosperber zur Medienfreiheit hat Chefredaktor Felix E. Müller darauf hingewiesen, dass die «NZZ am Sonntag im Interesse der ganzen Medienbranche in Strassburg gegen eine unserer Meinung nach willkürliche Verurteilung eines NZZaS-Journalisten wegen Veröffentlichung amtlicher Geheimnisse» kämpft. Er fühlt sich bei diesem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von der Branche – sprich: von den Verlagshäusern und vom Verband – ziemlich allein gelassen.
GPK des Nationalrats gegen die Informationsfreiheit
Müller wünschte sich mehr «Branchensolidarität» unter anderem bei der Klage der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats, die damit die Veröffentlichung vertraulicher Dokumente – wie etwa Sitzungsprotokollen – in der «NZZ am Sonntag verhindern wollte».
Pascal Hollenstein, heute Ressortchef Schweiz und stellvertretender Chefredaktor der «NZZaS», hatte 2009 auf der Grundlage vertraulicher Informationen unter dem Titel «Schelte für den Bundesanwalt» über die Spannungen zwischen dem damaligen Bundesanwalt Beyeler und Departementschefin Widmer-Schlumpf berichtet. Es war ein Konflikt, der unter anderem auch die Frage der Unabhängigkeit und Kontrolle des Bundesanwalts berührte. Und in einem zweiten Artikel – «Brandschwarz angelogen» – hat Hollenstein die Tatsache an die Öffentlichkeit gebracht, dass die Spitzen des Eidgenössischen Untersuchungsrichteramts die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats «brandschwarz angelogen» hatte, wie es in einem GPK-Protokoll hiess.
Trotz der staatspolitischen Bedeutung, also des öffentlichen Interesses beider Vorgänge, hatte die GPK damals Klage gegen den Journalisten erhoben – der ja einfacher zu packen ist als das Kommissionsmitglied, das die Informationen weiter gegeben hat –, und sie hat sogar versucht, die Veröffentlichung durch eine superprovisorische Verfügung verhindern zu lassen. Dabei hat die Justiz allerdings nicht mitgespielt.
«Brandschwarz angelogen»
Im Fall «Brandschwarz angelogen» hat das Zürcher Bezirksgericht das öffentliche Interesse an der Information höher bewertet als das Staatsinteresse an der Geheimhaltung, und es hat Hollenstein folgerichtig freigesprochen. Zu einer Busse von 400 Franken ersatzweise vier Tage Haft wurde der Journalist hingegen im Fall der «Schelte für den Bundesanwalt» verurteilt, weil das in diesem Fall entscheidende Bundesgericht in der Regel immer noch das Interesse an der formalen Geheimhaltung höher bewertet, nach dem Motto: «Wo der Stempel ‚vertraulich’ drauf steht, muss auch Vertraulichkeit gelten», unabhängig vom öffentlichen Interesse.
Das beeinträchtigt das Recht auf freie Meinungsäusserung und die Freiheit der Information, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 10) garantiert ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist an dieser Stelle sehr streng. Er lässt Einschränkungen der Informations- und Meinungsäusserungsfreiheit nur zu, wenn durch die freie Information etwa «die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit» gefährdet sein sollten, wie die Menschenrechtskonvention selber sagt.
Für den Respekt vor diesem liberalen, freiheitlichen Verständnis kämpft die «NZZ am Sonntag» nun also in Strassburg einen einsamen Kampf «im Interesse der ganzen Medienbranche».
Westschweizer Medien – empört
Als Einzelkämpferin betätigt sich zurzeit auch Tamedia im Fall des Westschweizer Enthüllungsjournalisten Ludovic Rocchi, nachdem der Neuenburger Staatsanwalt zunächst in Rocchis Haus eingedrungen ist und dort unter anderem die Computer von Rocchis Frau und seines elfjährigen Sohnes beschlagnahmt hat, weil der Journalist selber grade beim Filmfestival Lugano zugange war. Dort besorgte dann wenige Stunden später die Tessiner Polizei im Auftrag der Neuenburger den Rest. Der geringfügige Anlass für die Staatsaktion war ein kritischer Artikel Rocchis über einen Neuenburger Hochschulprofessor und die Zustände an seinem Institut.
Vor allem die Westschweizer Medien und insbesondere die Zeitungen, die zum Tamedia-Verlag gehören, haben darüber breit und empört berichtet, die Berufsorganisationen der Journalisten haben sich solidarisiert, und selbst «Médias Suisses», die Organisation der Westschweizer Verleger, äusserte sich besorgt über diese Bedrohung der Medienfreiheit.
Ariane Dayer, Chefredaktorin von «Le Matin Dimanche», schreibt in ihrem Editorial: «In seiner Unverhältnismässigkeit ist das ein unerhörter Präzedenzfall. Es ist eine Praxis, von der man glaubte, dass sie Herrschaften vorbehalten sei, die ihr Gesäss auf den demokratischen Prinzipen platzieren, und die den Boten bestrafen, anstatt die Botschaft zu prüfen.»
Tamedia auf dem Rechtsweg – schweigsam
Das Verlagshaus Tamedia selber lässt nichts verlauten. Es geht lieber in aller Stille den Rechtsweg und hat unter anderem die Geräte von Rocchi versiegeln lassen, damit das journalistische Material vor dem Zugriff des Staatsanwalts gesichert bleibt. Tamedia verzichtet, so Verlags-Sprecher Christoph Zimmer, im laufenden Verfahren auf öffentliche Verlautbarungen.
Die Ähnlichkeit mit der «Antiterror»-Aktion gegen David Miranda und gegen den «Guardian» ist offenkundig. In London hat der Chefredaktor lieber die Datenspeicher mit dem Material von Edward Snowden vernichtet, als sie dem Geheimdienst auszuhändigen; es sind ohnehin anderswo noch Kopien gelagert. Und im Fall Miranda hat der «Guardian» einen Gerichtsbeschluss erreicht, der der Polizei verbietet, das Material für etwas anderes zu benutzen als für die Abwehr einer terroristischen Gefahr. – Aber: «Seit wann ist Journalismus ein Akt von Terrorismus?», fragt der britische Journalist Simon Jenkins.
Aber da man sich im Verlagshaus Tamedia zum Schweigen entschlossen hat, gibt es von dieser Seite nicht nur keine öffentliche Stellungnahme zum «Fall Rocchi», sondern auch nicht zum Fall «Guardian» und Miranda. Von der Seite des Verlags erfolgt somit keine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die grosse wie die kleine Bedrohung der Medienfreiheit – wenn man bei dieser existentiellen Frage den Unterschied zwischen gross und klein überhaupt machen will.
Verlegerverband: Das Ende des Schweigens ?
Die Schweizer Verleger und ihr Verband schweigen gemeinsam. Wie die Berufsverbände der Journalisten verweist Hanspeter Lebrument, der Präsident des Verbands Schweizer Medien VSM, auf die Internationalen Organisationen: die «European Newspaper Publishers Association ENPA», die «World Association of Newspapers and News Publishers» und das «World Editors Forum» (beide zu finden unter WAN-IFRA). Auf der Website der Europäer ist nichts zu finden, nicht einmal ein Hinweis auf einen Protest. Auf der Seite der WAN-IFRA hingegen kann man Klartext lesen in Briefen an den britischen Premier David Cameron (am 23. August 2013) und an den Neuenburger Generalstaatsanwalt Pierre Aubert (am 5. September 2013). Beide Briefe sind unterzeichnet vom Weltverband und vom Europäischen Verband der Zeitungs- und Zeitschriften-Verleger. Sie lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Nicht erwähnt ist der – eigentlich besonders interessierte – Verband Schweizer Medien VSM, der bei der Nachfrage von Infosperber weder zum einen noch zum anderen Brief Genaueres zu sagen hatte. Vielleicht auch gar nichts Genaues wusste. Vielleicht fand das einschlägige Briefing danach statt. Bis zum 8. September war jedenfalls auf der Website des Schweizer Verbands weder vom einen noch vom anderen Protestbrief etwas zu lesen.
Es sei Sache der ohnehin sehr unterschiedlich ausgerichteten Verbands-Mitglieder, Stellung zu nehmen, und der VSM mache das eher selten, erklärte Verbandspräsident Hanspeter Lebrument gegenüber Infosperber. Man könne aber vielleicht an der Mitgliederversammlung etwas machen, die am 12. September beim Schweizer Medienkongress stattfindet.
Vielleicht wird das ja mehr als der pflichtgemässe, gewohnt schweizerische Hinweis auf die Protestaktionen der internationalen Dachverbände.
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Serie «Medienfreiheit in der Schweiz»
Teil 1: «Die Schweizer Mühsal mit der Pressefreiheit»
Teil 2: «Medienfreiheit in Gefahr: der lästige Widerstand»
Teil 3: «Überwachung: Wenig Grund zur Sorge?»
Teil 4: «Medienfreiheit bei Chefredaktoren unter ‹Diverses’»
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Der Artikel erinnert an Oskar Recks schönes Bonmot, wonach das Substantiv «Verleger» leider allzu oft vom Adjektiv statt vom Verb «verlegen» kommt.