SRF-Doku: Der Sonderbundskrieg als Gratwanderung
In der Schweizer Bevölkerung grassiert die historische Rütli-Schweiz der SVP und das Menschenrechts-Märchen der CVP, weil die Schulen und die Historiker es versäumt haben, Klarheit über die Gründung der Eidgenossenschaft im Jahre 1848 und die Zeit vorher und nachher zu schaffen. Die Zeit von 1830 bis 1870 ist für die meisten Schweizerinnen und Schweizer eine Black Box. Deshalb ist es grundsätzlich zu begrüssen, dass sich das Schweizer Fernsehen SRF endlich wieder über die Schweizer Geschichte beugt.
Von «blankem Unsinn», «Ignoranz» und «Biertisch-Geschwafel»
Fakt ist: Der historische Blick auf die Gründungszeit der modernen Schweiz erregt die Gemüter. Dies zeigen die Reaktionen auf den Infosperber-Artikel «Unsere ‚Muslim-Brüder‘ waren einst die Katholiken». Da riecht man förmlich den Pulverdampf des Sonderbundskrieges und das Gift des Kulturkampfes. So schrieben der Historiker Thomas Buomberger von «historisch blankem Unsinn» und der ehemalige Gymnasiallehrer Pirmin Meier von «historischer Ignoranz». Als sich der Journalist Fred David zu Wort meldete, hielt ihm Meier sogar «Biertisch-Geschwafel» vor.
Wenn man allerdings die Ausführungen Meiers liest, bekommt man leicht den Eindruck, die Aufklärung und deren Folgewirkungen inklusive Menschenrechte seien das Werk der Katholisch-Konservativen. Selbst den kirchenkritischen Voltaire («Écrasez l’infâme!») versucht er für die katholische Sache zu vereinnahmen, weil dieser ein Jesuitenschüler war. Aufgrund der Ausführungen Meiers, der sich laut eigenen Angaben im Kanton Luzern «40 Jahre mit der Thematik befasst» hat, stellt sich die brennende Frage, wieso es denn überhaupt zum Sonderbundskrieg gekommen ist, wenn die Konservativen offenbar noch fortschrittlicher waren als die Liberalen.
Historiker Fibicher spricht von « Putsch» und «Staatsstreich»
Ziemlich weit aus dem Fenster lehnt sich auch der Historiker Buomberger, wenn er behauptet: «Dass 1847 General Dufour die katholischen ‚Muslimbrüder‘ weggeputscht haben soll, ist historisch blanker Unsinn.» Ganz anderer Ansicht ist nämlich der Historiker Arthur Fibicher, der in seiner «Walliser Geschichte» Band 3.1 (Seiten 139 und 142) die Vorgänge vom November/Dezember 1847 im erzkatholischen Wallis klipp und klar als «radikalen Staatsstreich» und «radikalen Putsch» bezeichnet.
Auf Anfrage von Infosperber erklärt Buomberger: «Fibicher meint ja offenbar nur die Vorgänge im Wallis und nicht in der gesamten Eidgenossenschaft. Von einem Putsch könnte man sprechen, wenn die Vertreter des Sonderbundes die Regierung gestellt hätten und gewaltsam entfernt worden wären. Dem war nicht so.» Tatsache ist: Der Sonderbundskrieg unter General Dufour führte im Wallis zu einer sofortigen Auflösung der katholisch-konservativ dominierten Regierung samt Kantonsparlament durch die radikalen Sieger und zur Einsetzung einer liberal-radikalen Übergangsregierung.
Erstaunliche Aussagen der Regie zum Doku-Film
Die Reaktion von Buomberger kommt nicht aus dem luftleeren Raum, sondern erklärt sich im Zusammenhang mit seinem Auftrag für das Schweizer Fernsehen. Er hat nämlich zusammen mit Michael Sauter das Drehbuch zur Dokufiktion (mit Spielfilmszenen) über den Sonderbundskrieg und General Guillaume-Henri Dufour verfasst. Der 52-minütige Doku-Film läuft im November im Schweizer Fernsehen.
Erstaunlich sind die Aussagen der Regie zum Doku-Film. Dazu die Tagesschau von SRF vom 17. Oktober 2010 (siehe Link unten): «Für die Regie ist der Bürgerkrieg zwischen liberalen und konservativen Kräften eine Gratwanderung. Keine der Parteien soll am Ende schlecht dastehen. Trotzdem soll der Film die Zuschauer mitreissen. Darum erzählt die Regie die Geschichte aus der subjektiven Sicht von Dufour.» Und der Regisseur Dominique Othenin-Girard sagt wörtlich: «Man schaut nicht auf die Geschichte wie ein Geschichtsprofessor, sondern man ist mittendrin im Geschehen und kann es miterleben. Der Zuschauer weiss nicht, wer den Krieg gewinnen wird. Das ist meine Arbeitsweise.»
«Die Geschichte entspricht dem Stand der Forschung»
Was soll man von solchen Rahmenbedingungen halten, welche offenbar die Dramatik des Bürgerkriegs abtemperieren sollen? Wieso soll keine der Parteien am Ende schlecht dastehen, wo doch die Rollen von Sieger und Besiegten klar feststanden? Ebenfalls die Rolle der reaktionären Bremser und der Fortschrittlichen? Und wieso soll der Sonderbundskrieg aus der subjektiven Sicht von General Dufour erzählt werden und nicht aus der kontroversen Sicht der heutigen Geschichtsprofessoren? Werden die Fakten über den Sonderbundskrieg auf diese Weise nicht verfälscht?
Auf Anfrage erklärte Drehbuch-Autor Buomberger, die Fakten würden «nicht verfälscht». General Dufour stehe «aus dramaturgischen Gründen im Zentrum». An ihm werde die Geschichte «aufgehängt». Aber es sei nicht so, «dass nur seine Sicht zum Tragen kommt. Die Geschichte, wie sie erzählt wird, entspricht dem Stand der Forschung, der durch die Professoren, die im Film als Experten auftreten, aber auch im Off-Kommentar, vertreten wird».
Das tönt alles sehr schön, aber wieso möchte die Regie, dass keine Partei am Ende schlecht dasteht? Dazu Buomberger: «Wie der Regisseur diese Äusserung gemeint hat, müssen Sie ihn selber fragen.» Generell könne man sagen, dass die liberale Geschichtsschreibung «den Sonderbundskrieg und die Gründung des Bundesstaates als eine Art Eschatologie beschrieben hat», die mit dem Bundesstaat ihren Höhe- und Schlusspunkt erreicht habe. So linear verlaufe Geschichte nie, und die Geschichte des Sonderbundskrieges sei ja auch «nicht schwarz und weiss».
Die Folkloretendenz scheint überzuschwappen
Ziel der Dokufiktion ist es laut SRF-Magazin, «aus der ‚trockenen‘ Materie Geschichte eine spannende und unterhaltsame Dokumentarreihe für ein breites Publikum zu machen». Zu diesem Zweck setzt der Film grosszügig auf Schlachtszenen, welche mit einer skurrilen Gruppe von Männern gedreht wurden, die sich laut SRF-Magazin «in ihrer Freizeit mit militärischem Drill im 19. Jahrhundert befassen und die die Kostüme bereits besitzen.»
In den Vorschauen stehen die Spielfilmszenen im Vordergrund und erzeugen den Eindruck einer veritablen Kostüm-Schlacht. Die Unterhaltungs- und Folkloretendenz im SRF-Programm scheint auch auf die ernsthafteren Hintergrund-Sendungen überzuschwappen. Ob eine solche 52-minütige Dokufiktion dem Sonderbundskrieg mit seinen Ursachen und Folgen gerecht werden kann, ist fraglich.
Ein Opfer auf dem Altar der Ausgewogenheit?
Zudem lassen die Aussagen der Regie die leise Vermutung aufkommen, hier werde die Dramatik der Geschichte auf dem Altar der Ausgewogenheit geopfert. Wenn am Ende keine der Parteien schlecht dastehen darf, dann kann das auch heissen: Es gibt weder Sieger noch Besiegte und die reaktionäre Rolle der romgesteuerten Katholisch-Konservativen auf dem steinigen Weg zum demokratischen Rechtsstaat soll verharmlost werden.
Es ist höchste Zeit, diese spannende Zeit der Schweizer Geschichte angemessen aufzuarbeiten. Schonungslos und ohne falsche Rücksicht auf die Empfindlichkeit der Parteien, die eventuell schlecht dastehen könnten. Das sollte 166 Jahre nach dem Sonderbundskrieg doch möglich sein. Ob die SRF-Dokufiktion diese Bedingungen tatsächlich erfüllt, wird sich im November weisen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Freut Euch doch, dass es Themen gibt, wo jede(r) sich darum reisst, mitzudiskutieren. Und wo die ArtikelschreiberInnen dann auch mitmachen.
Bei anderen Themen (aussenpolitischen vor allen) kann man nur davon träumen.
… und als Unterhaltungs- und Folklore-General Dufour empfiehlt sich Nik Hartmann. Für Monika Fasnacht und Sven Epiney soll noch eine Rolle gesucht werden.
Aber, aber, Franz C. Widmer. Wir können doch froh sein, dass der Sonderbundskrieg so glimpflich abgelaufen ist. Ein Krieg mit religiösen Nachwehen aus dem 30-jährigen Krieg (dem letzten vormodernen Genozid) und den Vilmergerkriegen. Gleichzeitig eine ökonomisch-politisch-ideologische Konstellation analog dem US-Sezessionskrieg (dem ersten industriellen Genozid).
Wir haben dann ja noch im selben Jahrhundert einen Weg gefunden, eine wunderschöne reine Fiktion und ein ehrwürdiges Datum 1291 zur Staatsgründungslegende zu machen und jährlich zu feiern. Mit Traum- statt Traumarollen für unsere «Südstaaten".
Nun können wir doch ruhig umgekehrt 1847/48 als Fiktion reinziehen.
Zugegeben 1848 mit der Schweiz als einziger gelungener bürgerlicher Revolution wäre auch was – aber nur für die eine Hälfte. Und wäre so eine Avantgarderolle erträglich als Folie für die heutige Schweiz?
Werner T. Meyer
Dass 1291 keine Staatsgründung stattfand, war nicht nur Roger Sablonier und dem katholisch-konservativen Luzerner Regierungsrat vor 1848, Joseph Eutych Kopp, klar. Der Gründer kritischen Geschichtsschreibung in der CH galt damals als reaktionärer Landesverräter, sein Buch wurde verbrannt. Ochsenbein und Steiger waren nie der Meinung, mit dem Bundesstaat die Schweiz zu gründen. Diese war längst gegründet, und im 14./15. Jhd. wusste jeder in Europa, was die Schweiz ist.. Die Genfer galten damals schon als Schweizer, Rousseau bekannte sich 13mal als «Suisse"; der innerste Teil der Genfer Befestigungsanlagen, worüber ich ein paar hundert Seiten publiziert habe, wurde im 14. Jahrhundert «réduit» genannt; Genf war bei der Schlacht bei Villmergen 1712 als eidg. Bruderort (ohne Mitbestimmung in der Tagsatzung) dabei. Die Genfer Truppen in Paris waren «Suisses", und im 18. Jahrhundert galten Genfer Bankiers als CH-Bankiers, pas d› argent, pas de Suisses, hiess es damals. Vor allem zur Zeit von Klaus von Flüe, meine 600-Seiten Biographieerscheint demnächst in dritter Auflage, war die Eidgenossenschaft voll ausgebildet; es gab eine rudimentäre Verfassung, das Stanser Verkommnis u. mit dem Weissen Buch von Sarnen, von Klausens Schreiber Hensli Schriber verfasst, gab es einen voll ausgebildeten Patriotismus. Der Gesandte von Mailand sprach von Svizzeri, bezeichnete Klaus von Flüe als «informato del tutto", was man vom Walliser Kurt Marti z.B. für das heutige Wallis sagen kann. Papst Julius II. ging von Schweizern aus, wenn er sie als Söldner anwarb, und d e r Schweizer Diplomat der damaligen Zeit war Sittens Kardinal Matthäus Schiner; bei der Schlacht von Novara (1513) galten Walliser selbstverständlich als Schweizer, auch der Oberwalliser Wegerbaschi, als er mit Napoleon nach Russland zog. Die Schweiz ist eine sog. Willensnation und es hätte sie nach 1848, wenn z.B. die Linksradikalen um Stämpfli die Verfassung verhindert hätten (sie waren nach der Niederlage der Konservativen gefährliche Verhinderer) trotzdem gegeben. Wie Grossbritannien wäre sogar ohne geschriebene Verfassung eine Schweiz möglich gewesen, warum eigentlich nicht? Natürlich brachte 1848, wie Holenstein vielleicht am besten gezeigt hat, eine unerhörte und die Schweiz wie nichts zweites konsolidierende Pionierleistung, aber gewiss nicht die Gründung der Schweiz. Um aber vernünftig über das 13. Jahrhundert, über das 15. Jahrhundert, über 1848 mitreden zu können oder auch um die Frage zu beantworten, ob sich Rousseau wegen den Kreuzen im Wallis im Grabe umgedreht hätte, braucht es ein paar Jahre Forschungen, so wie sich Herr Marti einige Jahre mit den Missständen im Wallis befasst hat, für welche Arbeit er für den Prix Courage vorgeschlagen ist. Von Geschichte versteht er aber leider wohl nicht mehr als Oskar Freysinger, ein im Vergleich zu Marti analog ignorant-mutiger Walliser der Gegenwart, von der Reichskriegsflagge. Dieselbe ist in der von Kardinal Schiner erbauten und 1920 von Robert Durrer mit einem Fresko über den 1. Weltkrieg ausgemalten unteren Ranftkapelle bei Bruder Klaus dargestellt als Symbol eines mörderischen Nationalismus. In jenem Fresko, 50 Meter von der Zelle von Bruder Klaus entfernt, haben wir, was Prof. Guy Marchal schon vor mir aufgefallen ist, die eindrucksvollste Darstellung von Kapitalflucht in die Schweiz in der schweizerischen Kunst. Was aber schliesslich den SRF-Film über Dufour betrifft, ist ohne Beratung von Leuten mit z.B. auf dem Niveau von Rolf Holenstein, René Roca und dem Militärhistoriker Jürg Stüssi-Laufenburg und z.B., wenn er Zeit hat, Prof. Maissen nichts zu machen. Ich kann dabei nicht mithelfen, weil ich derzeit mit einem Projekt über einen Winkelriedfilm und die Schlacht bei Sempach, erster Drehbuchentwurf leider ungenügend, ausgelastet bin.
Natürlich habe ich nie behauptet, die Konservativen seien fortschrittlicher gewesen als die Liberalen, bloss auf den Erstbezug der Verbindung von Menschenrechten und Wilhelm Tell durch einen Luzerner Jesuiten 1780 verwiesen sowie auf den krassen Aufklärungsrückstand der chauvinistischen liberalen Historiker bis in die Zeit des 2. Weltkrieges im Vergleich zum konservativen Joseph Eutych Kopp von 1835 hingewiesen und auf die liberalkonservative Substanz und die Nationalismuskritik Segessers verwiesen. Mein dreissigjährige Beschäftigung mit dieser Zeit hängt mit dem Philosophen Troxler zusammen, dessen Verfassungsentwurf von 1832 usw. ich vor ein paar Jahren in einem Schaffhauser Verlag publiziert habe und dessen Andenken ich auch in Zusammenhang mit meinen Forschungen über Paracelsus, Klaus von Flüe, Schelling, Micheli du Crest systematische pflege. Ich bedaure allerdings, dass die bei der NZZ erschienene Troxlerbiographie eines ehemaligen Schülers von mir leider vor allem philosophisch ungenügend ist. Wie auch immer, Troxler, Miterfinder des Begriffs «radikal", enthält in seinem Gesamtwerk und besonders in seinem Verhältnis zur direkten Demokratie sowohl radikalliberale als auch konservative Elemente.
Zu Dufour wurde einer der wohl besten Kenner, allerdings «nur» seiner kartographischen Leistungen, nicht genannt, Kartographiehistoriker Martin Rickenbacher, dem ich auch in Sachen Kenntnis von Rousseau-Erwecker und Demokratie-Pionier Micheli du Crest über alles trotz meiner 480-Seiten-Biographie den Vortritt lasse. Meine Kenntnis der Geschichte der Menschenrechte hat selbstverständlich keine katholisch-konservative Schlagseite, sondern meine Hauptleistung liegt, wie im Buch über Micheli du Crest und in zahlreichen Artikeln über Rousseau ausgewiesen, auf der Westschweizer Schule des Naturrechts, Barbeyrac, Burlamaqui, de Vattel, Rousseau usw. Hätten mich die Luzerner Liberalen an der Seite von Bundesrat Schneider-Ammann, einst Herausgeber der wichtigsten Rede Pestalozzis und derzeit in diesen Fragen sicher gebildetster Bundesrat, zum Festredner über Steiger und 1848 bestellt, wenn ich bloss ein Verteidiger der Katholisch-Konservativen wäre? Ich stehe bloss für eine Geschichtsvermittlung, die von läppischen überholten Feindbildern wegkommt. Herrn Buomberger ist aus meiner Sicht durchaus etwas zuzutrauen und man sollte das, was er vorhat, nicht auf Vorrat kritisieren. Für eine bessere Kenntnis von 1848 ist es höchste Zeit, da habe ich mich zum Beispiel mit Herrn Fred David, trotz meines etwas temperamentvollen Vorwurfs am Anfang der Diskussion, am Ende ausgezeichnet gefunden. Bei Herrn Marti ist der Hinweis auf Fibicher konstruktiv. Ich hätte mit ihm lieber per Privatmail diskutiert, um weniger schulmeisternd daherzukommen, aber trotz seines von Herrn Gasches gerühmten Mutes hat er ein ausführliches kritisches Privatmail, auch Rousseau und Voltaire betreffend, nicht beantworten wollen. Herr Marti weiss wahrscheinlich auch nicht, dass von katholischen Bildungshäusern seit meinen Büchern über Bruder Klaus und über die Pädophilengeschichte von Heinrich Federer von katholischen Bildungshäusern weitestgehend geschnitten werde, hingegen nicht bei Veranstaltungen von Religionskritikern im Umfeld von Karlheinz Deschner, wo ich mit der Freiheit eines unabhängigen Katholiken und seit Jahrzehnten radikalen Verfechters der Trennung von Kirche und Staat Differenzierungen anfordere.
Korrektur des Verschriebs im letzten Satz: «Dass ich seit meinen Büchern über Bruder Klaus und über die Pädophilengeschichte des Priesters und Schriftstellers Heinrich Federer von katholischen Bildungshäusern weitgehend geschnitten werde. Hingegen nicht geschnitten wurde ich bis anhin z.B. bei Veranstaltungen von Religionskritikern im Umfeld von Karlheinz Deschner. In jenem «Milieu» forderte ich mit der Freiheit eines unabhängigen Katholiken Differenzierungen ein, so wie in obiger Diskussion. Im übrigen bin ich seit Jahrzehnten ein durch die Protokolle der aargauischen Verfassungsrates belegter Verfechter einer radikalen Trennung von Kirche und Staat. Ein sonst durchaus verdienstvoller nachmaliger Aargauer Seelsorger empfahl mir damals «Moskau einfach": eine Formel von einst, die den Autoren der «Roten Anneliese» wohl nicht unbekannt vorkommt.
Pirmin Meier behauptet: «Ich hätte mit ihm lieber per Privatmail diskutiert, um weniger schulmeisternd daherzukommen, aber trotz seines von Herrn Gasches gerühmten Mutes hat er ein ausführliches kritisches Privatmail, auch Rousseau und Voltaire betreffend, nicht beantworten wollen.» Diese Unterstellung weise ich zurück, denn das erwähnte «Privatmail» ist bei mir nicht angekommen, weil Herr Meier meine Email-Adresse falsch eingegeben hatte (kurt.marti@bluewin.ch statt kurt-marti@bluewin.ch), wie sich auf Rückfrage bei Herr Meier inzwischen herausgestellt hat.
Nachdem es sich erst jetzt herausgestellt hat, dass mein ausführlicher, über 10 000 Zeichen enthaltender Mailbrief an Herrn Marti vom 19. Juli tatsächlich nicht angekommen ist, nehme ich die Unterstellung mangelnden Mutes zu einer Antwort mit Entschuldigung in aller Form zurück. Die obigen Ausführungen, hauptsächlich zur These, dass sowohl 1291 als auch 1848 nicht als Gründungsdaten der Eidgenossenschaft gelten können, bleiben von allgemeinem Interesse. Ich würde streng wissenschaftlich von einem wirklich hundertprozentig eindeutigen , auf einen Tag zu reduzierenden Gründungsdatum absehen. Die Eidgenossenschaft ist hauptsächlich im 14. und 15. Jahrhundert entstanden, war in der Villmergerzeit schrecklich zerrissen, wurde 1798 in der Helvetik nicht nur auf fremden Druck massiv neu geformt sowie 1802/03 von Napoleon, einem der wenigen internationalen Politiker, der die Schweiz verstand, in Richtung einer föderalen, aber noch nicht bundesstaatlichen Struktur auf den Weg geschickt. Troxlers Verfassungsentwurf von 1832/33 war schon ein gewaltiger Schritt in die richtige Richtung, desgleichen seine Neujahrsschrift von 1848 «Die Verfassung der Vereinigten Staaten als Modell für eine Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft» war eine wunderbare Ouvertüre zum Bundesstaat. Erstaunlich ist, dass nach Rolf Holenstein Ochsenbein schon 1848 die Judenemanzipation vorwegnehmen wollte, womit er nicht durchdrang und was die Verfassung noch moderner gemacht hätte. Es gab und gibt Kantone, wie die Juli-Diskussion um den ersten Artikel von Herrn Marti auswies, die eigentlich nie einen der bisher präsentierten Verfassungsentwürfe angenommen haben, zumindest nicht die Entwürfe von 1848 und 1874. Es wäre aber falsch zu unterstellen, diese Kantone seien nie formell der Eidgenossenschaft beigetreten. Als Eidgenossen, oder «Freunde, Brüder, Eidgenossen", wie es in der Helvetischen Gesellschaft hiess, «liebe getrüwe aidsgenossen", wie man sich um 1435 ansprach, verstanden sie sich in klarer Abgrenzung zu allen Nichteidgenossen; ob man aber eine Verfassung annahm oder nicht, war eine Ermessensfrage jenseits des eidgenössischen Identitätsbewusstseins. In der Darstellung der Geschichte der älteren Eidgenossen kommen die Walser in Schulbüchern massiv zu kurz, dabei waren sie in Sachen Freiheitsbewusstsein, Arbeitsethos, kommunaler Selbstverantwortung, Steuerfreiheit, und anderen Privilegien wahrscheinlich die «Urschweizer» schlechthin. Zugleich Walser und Waldstättenschweizer waren die Bewohner des Urserentales, die Helden des Romans «Der Schmied von Göschenen» und meiner z.B. den Forschungen von Sablonier und Iso Müller angepassten Neufassung als SJW-Jugendbuch «St. Gotthard und der Schmied von Göschenen.» Kurt Marti-Wallis kommt das Verdienst zu, auf dieser Seite eine zum Teil intensive Diskussion initiiert und letztlich auch das Interesse an Buombergers Film über Dufour, den bis heute bedeutendsten General der Schweiz, gefördert zu haben.
Die direkte Demokratie, die in den Verfassungen der ersten Schweizer Kantonen eingeführt wurde, war immer ein Kompromiss zwischen den meist katholisch-konservativen Demokraten der Landschaft und den diese beherrschenden Liberalen der Städte: Appenzell Innerrhoden 1828, St. Gallen 1831, Basel-Landschaft 1832, Luzern 1841. Während die herrschenden Liberalen immer für das Repräsentativsystem eintraten und dem Volk keine Gesetzgebungskompetenzen abtreten wollten, kämpften Demokraten, Frühsozialisten und Radikale für die direkte Demokratie und die Volkssouveränität und begründeten dies mit dem modernen Naturrecht der Westschweizer Naturrechtsschule und Rousseaus Gesellschaftsvertrag. Dies war für die weitere Entwicklung der direkten Demokratie in den anderen Kantonen und die Gründung des Bundesstaates bahnbrechend. Das heutige Establishment der Geschichtsprofessoren konnte die Geschichtsschreibung der Sieger des Sonderbundes kolportieren, weil die Geschichte der direkten Demokratie bisher nicht aufgearbeitet wurde. Kürzlich sind einige historische Studien publiziert worden, die diesen Mythos entlarven.
Schön, Peter Aebersold, auch wenn das mit «Entlarven» auch wieder ein bisschen in Richtung der Feindbildgeschichtsschreibung geht. Bei der Aufzählung der Kämpfer für die direkte Demokratie fehlen die Konservativen, etwa der Aargauer Johann Nepomuk Schleuniger, welcher die Volksabstimmung über die Gesetze, das obligatorische Gesetzesreferendum also, «die Krone und die Perle aller Volksrechte» nannte, auch einen Damm gegen eine «Sündflut» von zu vielen Gesetzen. Schleunigers Kampf um und für die direkte Demokratie im Aargau war mit einem schlimmen Wermutstropfen verbunden, nämlich der verfassungsmässig immerhin vorgesehenen Abberufung des gesamten Grossen Rates im Jahre 1862. Diese hatte Schleuniger schon früher angestrengt, aber mit katholischen Themen wie der Stellung der Klöster hatte er keinen Erfolg. Es brauchte dazu die Bekämpfung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, welche mit entsprechender Demagogie konfessionsübergreifend niedergehalten werden konnte. Kam dazu, dass die Regierung des Kantons Aargau sehr ungeschickt Geometer nach Endingen geschickt hatte, welche dort einen jüdischen und einen christlichen Gemeindebann ausmassen, was im Zusammenhang mit dem Ortsbürgerrecht eine ganz heisse Kartoffel war, zumal die christliche Bevölkerung im Surbtal weniger wohlhabend war als die jüdische. Das gab zeitweilig eine Stimmung «wie im Gazastreifen", um es allerdings etwas übertrieben zu sagen. Wie auch immer: Mit dem Mittel des Antisemitismus wurde der aargauische Grosse Rat in die Wüste geschickt, 105 Bisherige mussten auf ihr Amt verzichten, und der neue Grosse Rat führte die direkte Demokratie ein und machte das Judengesetz rückgängig. Ende gut – alles gut: 1866, im Zusammenhang mit dem Handelsvertrag mit Frankreich und nicht aus reiner Liebe zu den Juden, wurden die Diskriminierungen, welche ihren Grund schon in der antisemitischen Verfassung von 1848 hatten, rückgängig gemacht. Eingesetzt dafür hatte sich der Aargauer Bundesrat Emil Welti. So kam es denn auch im Kanton Aargau schon nach wenigen Jahren doch noch zu ihrer Emanzipation. Nicht rückgängig gemacht wurde die direkte Demokratie, welche nicht mit einer Anleitung zum Gutmenschentum verwechselt werden sollte. Nach Karl Popper weiss das Volk, das in seiner Mehrheit nicht wissenschaftlich denken kann, nicht unbedingt, was für es gut ist. Es hat aber eine hohe Kompetenz in dem, was es nicht will. Besonders auf intransparentes Regieren wird sauer reagiert. Und bei der Judenemanzipation hatte die aargauische Regierung nachweislich Fehler gemacht, zumindest sehr ungeschickt agiert. Wenn das Volk eine Vorlage ablehnt, welche die sogenannt Vernünftigen und Aufgeklärten eher gutheissen würden, liegen in der Regel beträchtliche Fehler der Regierenden vor. Im Kanton Aargau wurde der Antisemitismus, der sich bei Schleuniger nur in jener politischen Kampagne nachweisen lässt, hauptsächlich dazu benützt, zwecks Systemveränderung eine radikalliberale Regierung abzuwählen. Eine gewisse Skepsis gegenüber der direkten Demokratie bleibt angebracht. Sie setzt einen minimalen Wertekonsens voraus, den man im allgemeinen in der Schweiz durchaus voraussetzen darf. Weniger das Ja, vielmehr das Nein des Volkes zu einer bestimmten Vorlage, selbst einer «gut gemeinten» ist ein durch nichts zu ersetzender demokratischer Privileg.