Kairo_Strassenschlachten

Gewalt und Chaos in Kairo © ZDF

Ägyptische Tragödie: Islam oder Demokratie?

Erich Gysling /  In Ägypten eskaliert die Gewalt. Hauptursache ist nicht die Religion, sondern soziale Veränderungen und wirtschaftliche Probleme.

Die arabischen, vom Islam geprägten Länder seien nicht fähig zur Demokratie, wird in unseren Medien oft kolportiert. Und dann folgt in der Berichterstattung oft eine mehr oder weniger präzise Schilderung der Ereignisse in Ägypten seit dem Beginn der «Arabellion», die man einst als «Arabischen Frühling» pries, mit der danach folgenden Darstellung der Tragödie, die sich seither abgespielt hat. Oft mit dem Fazit: Islamische Gesellschaften sind unfähig zur Demokratie.
Stimmt das?
Es gibt viele Länder mit islamischer Bevölkerung, in denen Demokratie in zwar nicht lupenreiner, aber doch akzeptabler Form praktiziert wird: Indonesien, Malaysia, Bangladesh, Pakistan, Türkei zum Beispiel. Also kann es ja wohl nicht am Islam an sich liegen, dass die «Arabellion» bisher so katastrophal gescheitert ist. Aber woran dann?

Gesellschaftlicher Wandel und wirtschaftliche Probleme

In der Berichterstattung über die «revolutionären» Länder der arabischen Welt gehen einige wichtige soziale Veränderungen unter. Wesentlich ist die Verflechtung von wirtschaftlichen Problemen mit gesellschaftlichem Wandel. Und all das hat mit der Religion nichts oder nur wenig zu tun.
Vor vielleicht 15 oder 20 Jahren wurde die Autorität des Oberhaupts einer Grossfamilie mehr oder weniger diskussionslos akzeptiert. Das änderte sich parallel zum Prozess der Urbanisierung – und gilt daher besonders für Ägypten: In die Grossstadt oder an den Rand einer Grossstadt umgezogen, veränderte sich das Innenleben der Familien. Die Ehefrau musste einem Beruf nachgehen, die Söhne und Töchter besuchten höhere Schulen, auch Universitäten. Die vormals uneingeschränkte Macht des Patriarchen bröckelte.
Diesem gesellschaftlichen Wandel war die Wirtschaft nicht gewachsen: Junge Männer mit Hochschulabschluss fanden je länger desto deutlicher keinen Job, der ihrer Ausbildung entsprach. Das «System Mubarak» trug dazu in negativem Sinne viel bei: Die Förderung einer Oligarchie führte zur Bereicherung einer kleinen oberen Schicht, während die Massen vorwiegend die negativen Folgen dieser Politik zu spüren bekamen.

Junge Generation ohne Perspektiven

Die Jugendarbeitslosigkeit wuchs, die jungen Leute blieben dazu verurteilt, im Familienverbund zu bleiben, abhängig vom Patriarchen (dessen Durchschnitts-Lebenszeit immer weiter anstieg und weiter ansteigt). Heiraten konnten/können sie aufgrund dieser Situation oft lange nicht.
In Ägypten führte das dazu, dass das Heiratsalter der Frauen inzwischen auf 24 bis 25 Jahre gestiegen ist (in Iran auf mehr als 27 Jahre). Mit dem Resultat, dass das Wachstum der Bevölkerung zurückgeht. Noch ist zwar rund die Hälfte der Bewohner Ägyptens nicht älter als 25, aber in einigen wenigen Jahren wird der Anteil der Älteren bedeutend höher sein.
Die in den Medien so oft erwähnte «Bevölkerungsexplosion» findet nicht, respektive nicht mehr statt. Eine Frau in Tunesien bringt in der heutigen Zeit nicht mehr Kinder auf die Welt als eine Frau in Frankreich. Eine ähnliche Entwicklung gibt es in Syrien und auch in Libyen, wo 83 Prozent der Bevölkerung in Städten lebt, auch wenn die Mär der «Stammesgesellschaft» sich hartnäckig hält. Jemen ist die Ausnahme, da werden die Mädchen noch immer im Alter von 13 oder 14 Jahren verheiratet.

Die Religion geniesst hohe Wertschätzung

Die Gesellschaften der arabischen Länder befinden sich also in einem tiefgreifenden Wandel. Was natürlich auch zur Frage führen kann: Welche Wertvorstellungen sind bei der jungen Generation prägend? Ist die so genannte Twitter- und Facebook-Generation generell pro-westlich, progressiv, skeptisch gegenüber religiösen Themen? Verschiedene Umfragen zeigen, dass die Religion, also der Islam, bei den Jungen mindestens ebenso viel Wertschätzung geniesst wie bei der älteren Generation. In dieser Hinsicht waren die von den Fernsehstationen übertragenen Bilder von Demonstrationen der Muslimbrüder in Ägypten klar: Da sah man mindestens ebenso viele Jugendliche wie Ältere. Und auch relativ viele Frauen.
Fazit: es ist nicht der «Islam an sich», der die «Arabellion» respektive die Chancen für Demokratie in die Sackgasse führt, sondern es sind spezifisch regionale und zeitgeschichtliche Probleme – demografische und wirtschaftliche vor allem.

Ägypten droht ein Bürgerkrieg wie in Syrien

Was aber, wenn Radikal-Islamisten den bereits chaotischen Alltag Ägyptens infiltrieren? Die Radikalen, innerhalb Ägyptens die Salafisten, halten von Demokratie null und gar nichts. Ebenfalls total ablehnend ist die Haltung der so genannten Jihadisten, die sich aus Parteigängern und Sympathisanten von al-Qaida-nahen Kräften rekrutieren. Welch verheerende Wirkungen der Auftritt solcher Gruppierungen zeitigen kann, sieht man in Syrien.
Könnte Ähnliches in Ägypten zur Realität werden? Ich fürchte: Ja. Und meine Befürchtungen verstärken sich noch, denke ich an die Auswirkungen der blutigen Ereignisse der letzten Tage in Kairo und anderen Städten Ägyptens. Die Muslimbruderschaft kann und wird sich wahrscheinlich als Folge der Gewalt radikalisieren. Keine beruhigende Perspektive für Ägypten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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