Der Überwachungsstaat als Überreaktion von 9/11
Schockereignisse, bei denen gleichzeitig viele Menschen sterben, führen regelmässig zu Überreaktionen von Regierungen, Parlamenten und Medien. Es wird reguliert, dekretiert und unter Zeitdruck legiferiert. So wagte kaum ein US-Parlamentarier nach den Flugzeugattacken gegen das World Trade Center in New York gegen den «Homeland Security Act» und den «Patriot Act» zu stimmen, zwei Gesetze, welche ein neues grosses Sicherheits-Departement schufen und der Regierung freie Hand bieten, im Namen der Terrorbekämpfung etablierte Bürgerrechte ausser Kraft zu setzen.
Andere Risiken dagegen, die zu ähnlich vielen oder noch mehr Todesfällen führen, jedoch nur tröpfchenweise, sind im Bewusstsein verdrängt und Massnahmen lassen auf sich warten.
In seinem neuen Buch «Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft» analysiert Gerd Gigerenzer die fehlende Risikokompetenz, die in unserer hochtechnisierten und komplexen Gesellschaft höchste Priorität haben sollte. Gigerenzer war Professor an der Universität von Chicago und ist heute Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Nach 9/11 stieg die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle
Nach dem Kollaps der Zwillingstürme in New York hat eine Untersuchungskommission in einem 636-seitigen Bericht eine ganze Reihe von Massnahmen vorgeschlagen. Eine jedoch habe sie vergessen, schreibt Gigerenzer, nämlich dafür zu sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger Risiken kompetenter einschätzen lernen.
Eine folgenschwere Fehleinschätzung sei die Furcht vieler US-Amerikaner gewesen, in den Wochen nach 9/11 mit dem Auto zu fahren statt wie gewohnt ein Flugzeug zu benutzen, aus Angst vor Terroristen. Gigerenzer hat statistisch nachgewiesen, dass es auf den ländlichen Interstate Highways nach dem Anschlag bis zu fünf Prozent mehr Verkehrsaufkommen gab als zu erwarten gewesen wäre. Entsprechend stiegen während dieser Zeit die tödlichen Verkehrsunfälle: «Alles in allem sind etwa 1600 Amerikaner auf der Strasse umgekommen, weil sie sich entschieden haben, die Risiken des Fliegens zu vermeiden.»
Von 2002 bis 2005 hätten US-amerikanische Fluggesellschaften 2,5 Milliarden Passagiere befördert. Kein einziger sei bei einem Flugzeugabsturz gestorben: «Die Strassenverkehrsopfer würden noch leben, wenn sie geflogen wären, statt sich für das Auto zu entscheiden.» Es werde stets berichtet, dass bei den Anschlägen vom 11. September fast 3000 Menschen ums Leben gekommen seien: «Man müsste eigentlich noch einmal die Hälfte dazurechnen», meint Gigerenzer.
Schuld sei eine mangelnde Risikokompetenz. Bei seinen Vorträgen vor Dutzenden von Expertengremien habe er jeweils folgende Frage gestellt: «Wie viele Kilometer müssten Sie mit dem Auto fahren, bis das Risiko eines tödlichen Unfalls genau so hoch wäre wie bei einem Non-Stopp-Flug von New York nach Washington?» Die Antworten reichten von 1’000 Kilometern, 10’000 Kilometern bis zu dreimal um die Erde. [Richtige Antwort am Schluss dieses Artikels].
Terroristen arbeiten mit «Schockrisiken»
Gerade Terroristen würden gerne «Schockrisiken» provozieren («Dread Risks»), weil sie Überreaktionen hervorrufen. Schockrisiken sind Ereignisse, die höchst selten eintreten, bei denen aber viele Menschen plötzlich getötet werden.
Nicht nur kurzfristig werde überreagiert, sondern häufig auch langfristig. So habe der Anschlag in New York zu einer dauerhaften Aufweichung etablierter Bürgerrechte geführt. Vor dem 11. September hätten Leibesvisitationen ohne triftigen Grund als Verletzung von Menschenrechten gegolten. Heute hält man deren Duldung für eine Bürgerpflicht.
Wir seien weiterhin bereit, vieles hinzunehmen: in langen Schlangen auf Flughäfen auszuharren; Flüssigkeiten in Plastiktüten zu verstauen, Schuhe, Gürtel und Jacken auszuziehen oder den eigenen Körper von Fremden abtasten zu lassen.
Viel gravierender noch: Die USA hätten die Kriege in Afghanistan und im Irak im Namen der Terrorismusbekämpfung geführt. Diese Kriege hätten Tausenden Soldaten und noch viel mehr Zivilisten das Leben geraubt, über eine Billion Dollar gekostet und wahrscheinlich bei der Finanzkrise von 2008 eine Rolle gespielt.
Jährlich ein Vielfaches an Verkehrstoten
Wenn tausende von Menschen über einen längeren Zeitraum verteilt sterben, würden wir erstaunlich gelassen reagieren. Allein in den USA würden jedes Jahr rund 35’000 Menschen bei Verkehrsunfällen sterben. Doch man verzichtet auf maximale Konstruktionsvorschriften oder auf noch tiefere Tempolimiten, weil dem Ziel, möglichst viele Unfalltote und Verletzte zu vermeiden, die Designfreiheit und die Lust am schnellen Fahren gegenüber gestellt wird – und weil uns diese verteilten Todesfälle keine Angst machen. Wir hätten kaum Angst, an einem Unfall zu sterben, aber Angst, zusammen mit vielen andern umzukommen: «Wir fürchten den seltenen Kernkraftwerksunfall, nicht die stetige Sterberate, welche die Luftverschmutzung durch Feinststaub bewirkt. Wir fürchten die Schweinegrippe, obwohl viel mehr Menschen jedes Jahr an der normalen Grippe sterben.»
Die Massenschlachterei wegen des BSE-Rinderwahnsinns illustriere, «wie die Angst ganze Regierungen dazu bringen kann, Gefahren zu bekämpfen, die nur wenige Menschen das Leben kosten, statt sich mit Dingen zu beschäftigen, die jedes Jahr viele Opfer fordern.»
Fazit im ausgezeichneten Buch von Gerd Gigerenzer: «Eine der grössten Herausforderungen besteht darin, Risikokompetenz zu entwickeln, das heisst die Fähigkeit, Situationen, in denen nicht alle Risiken bekannt sind, realistisch einzuschätzen.»
Gigerenzer ist ein Aufklärer, der das verbreitete Unwissen über Risiken gerade auch unter Experten entlarvt und Bürgerinnen und Bürger dazu befähigen will, Risiken selber vernünftig einzuschätzen.
Er übertreibt kaum, wenn er schreibt: «Die halsbrecherische Geschwindigkeit der technischen Entwicklung wird die Risikokompetenz im 21. Jahrhundert so unentbehrlich machen, wie es Lesen und Schreiben in früheren Jahrhunderten waren.»
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Siehe dazu «Totalüberwachung: Die Militarisierung des Denkens» vom 16.8.2013
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Richtige Antwort auf die Frage: Die genauste Schätzung liegt bei 20 Kilometern.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Der Titel müsste wohl heissen:
Die Aktion 9/11 für die Rechtfertigung des Überwachungsstaats.