Organisation statt Strategie
Vorbemerkung:
(Mit diesem Beitrag setzt Infosperber die Serie über die Schweizerische Sicherheitspolitik fort. Bisherige Autoren waren Niklaus Ramseyer, Robert Ruoff, Adolf Ogi und Oswald Sigg. R.L.)
Zurzeit bestimmen organisatorische, materielle und finanzielle Fragen die Diskussionen über die Weiterentwicklung der Schweizer Armee. Konzeptionelle Überlegungen kommen dabei zu kurz.
Seit dem strategischen Wandel zu Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts befindet sich die Schweizer Armee – wie andere europäische Streitkräfte auch – in einem laufenden Reformprozess. Im Dickicht der zahlreichen Konzepte, Berichte, Zusatzberichte und Projektvarianten ist der Überblick kaum mehr zu wahren. Das Vorhaben «Weiterentwicklung der Armee» ist zwar erst in Umrissen bekannt; aufgrund erster Verlautbarungen scheint aber das Schwergewicht in den Bereichen Organisation und Ausbildung zu liegen. Ob die knappen Finanzen den grob vorgezeichneten Weg auch wirklich beschreiten lassen, bleibt vorderhand offen.
Behutsame Kooperation mit der NATO
Weitgehend eingeschlafen ist hingegen die Diskussion über die Frage, welchen sicherheitspolitischen und militärischen Kurs die Schweiz künftig wohl am besten einschlagen müsste. Am Grundsatz «Sicherheit durch Kooperation», wie er gleichsam als Motto dem Sicherheitsbericht 2000 vorangestellt ist, soll nicht gerüttelt werden. Unter dem Begriff «Sicherheitsverbund Schweiz» liegt der Akzent jedoch auf der nationalen Stufe. Trotz der im neuen Sicherheitspolitischen Bericht 2010 erklärten Absicht, der Friedensförderung mit militärischen Mitteln neue Impulse verleihen zu wollen, ist das internationale Engagement der Armee kein Thema, dem sich die Politik annimmt.
Blickt man aus zeitlicher Distanz zurück, ist seit der Beteiligung an der NATO-Partnerschaft für den Frieden im Jahr 1996 – zumindest in verteidigungspolitischer Hinsicht – prinzipiell nicht mehr viel passiert. Nur dank der Initiative und dem unerschütterlichen Optimismus Bundesrat Adolf Ogis ist dieser entscheidende Schritt zur Erweiterung des sicherheitspolitischen Perimeters überhaupt unternommen worden und – gelungen. Grundlage dafür bildeten der Bericht 90 über die Sicherheitspolitik der Schweiz und der 1993 verabschiedete Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren. Denn in dessen Anhang, im Neutralitätsbericht, ist der Leitgedanke «Sicherheit durch Kooperation» noch vor dem Sicherheitsbericht 2000 bereits explizit formuliert.
Von einer Vorstufe zu einem Beitritt zur NATO kann keine Rede sein. Mit Blick auf die Kooperation in Friedenseinsätzen profitierte die Schweiz zwar punktuell von den Erfahrungen einzelner Mitgliedsländer der atlantischen Allianz. Eine strukturelle Anpassung an Organisationsformen von NATO-Streitkräften ging damit aber nicht einher. Auch der unter der Ägide von Bundesrat Samuel Schmid in die Wege geleitete Entwicklungsschritt 2008/2011 trug in erster Linie helvetischen Bedürfnissen Rechnung. Von einer Bevorzugung internationalen militärischen Engagements kann bei dieser organisatorischen Retusche wohl nicht gesprochen werden. Im Gegenteil: Bezüglich Struktur und Einsatzdoktrin wurde die Armee XXI von allem Anfang an auf die klassische Kampfführung zugeschnitten.
Dass die Schweiz in ihrem Verhältnis zur NATO sehr behutsam vorgeht, zeigt nicht nur ein Blick auf die «Individuellen Partnerschaftsprogramme» der letzten Jahre, sondern vor allem auch ein Vergleich mit Schweden, das der Europäischen Union (EU) angehört, sich für Berufsstreitkräfte entschieden hat, mit einem starken Truppenkontingent in Afghanistan aktiv ist und die Strategic Airlift Capability der NATO zum Betrieb von C-17-Globemaster-III-Transportflugzeugen mitträgt. Zudem engagiert sich Schweden sehr aktiv bei den Übungen der NATO Response Force, die im neuesten Individuellen Partnerschaftsprogramm der Schweiz nicht einmal beiläufig erwähnt wird. Berührungspunkte für eine «strategische Partnerschaft» mit Schweden, wie sie mit dem beabsichtigten Kauf von schwedischen «Gripen»-Kampfjets von Bundespräsident Ueli Maurer propagiert wird, gibt es so gesehen kaum. Dieser nordische Staat, der während der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wie die Schweiz zur Gruppe der neutralen und nichtgebundenen Staaten gehörte, hat mittlerweile einen anderen Weg beschritten.
Solche Fragen, welche die Positionierung der Schweiz in der jetzigen und in einer künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur tangieren, sollen allerdings erst in einem auf Ende 2014 in Aussicht gestellten neuen Sicherheitsbericht beantwortet werden.
Instrument der Interessenwahrung
Würde man sich Fragen nach den sicherheitspolitischen und militärischen Beziehungen zum Ausland offener stellen, käme man bald zur Einsicht, dass die Armee im Sinne einer umfassend verstandenen Strategie einen wesentlichen Teil zur Interessenwahrung der Schweiz darstellt – neben Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe, Wirtschaft und Polizei. In diesem Licht betrachtet ist die Armee nicht strategische Reserve – wie dies vornehmlich auf die Innenpolitik ausgerichtete Politiker immer wieder suggerieren –, sondern ein erstrangiger strategischer Faktor im gesamten Instrumentarium zur Sicherheitsvorsorge. Und so wäre es beispielsweise nur folgerichtig gewesen, sich an der EU-Operation «ATALANTA» gegen die Piraterie am Horn von Afrika und im Indischen Ozean zu beteiligen. Die Beeinträchtigung der internationalen Handelswege und die Verletzung internationalen Rechts darf die Schweiz nämlich nicht gleichgültig lassen.
Man muss sich aber nicht unbedingt auf die strategische Ebene begeben, um Vorteile einer engeren sicherheits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern erkennen zu können. Augenscheine in Kriegs- und Krisengebieten sowie ein Besuch in Fort Benning, einem grossen Truppenübungsplatz der US Army zeigen, wie ausgiebig die Schweizer Armee im Fall einer nur schon begrenzten Ausweitung ihres Kooperationsrahmens aus entsprechenden Einsatzerfahrungen Nutzen ziehen könnte. Solche Kenntnisse lassen sich unter den Laborbedingungen der einheimischen militärischen Schulen und Truppenkurse nicht gewinnen. In dieser Beziehung bestehen aber nach wie vor geistige Barrieren. Die Ablehnung obligatorischer Wiederholungskurse auf Übungsplätzen im benachbarten Ausland im Parlament 2009 ist Ausdruck der fast unüberbrückbaren Differenzen bei der Beurteilung der militärischen Zusammenarbeit mit dem Ausland.
Ausbildung als Herzstück der Armee
Obschon Ausbildungsbelange für die Milizarmee von ausschlaggebender Bedeutung sind, trägt sich das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) offenbar mit dem Gedanken, die Ausbildungszeit zu reduzieren – nicht zuletzt mit dem Ziel, finanzielle Mittel einzusparen. Gedacht wird an zweiwöchige Wiederholungskurse. Solche Dienstleistungen liessen die Ausbildungszeit auf ein nicht mehr vertretbares Mass schrumpfen. Der administrative und logistische Aufwand stünde in keinem Verhältnis mehr zur militärischen Schulung. Das Verbandstraining im Einsatz von modernen Waffensystemen und Geräten könnte nicht mehr auf das Niveau gebracht werden, dass Bern bei der Verlängerung der Rekrutenschulen von 17 auf 21 Wochen einst versprochen hat. Und künftig soll nun sogar noch die Grundausbildung verringert werden. Würden solche Pläne realisiert, wiederholte man ähnliche Fehler, wie sie mit der Armee 95 begangen wurden. Der Know-how-Verlust, den der damalige Zweijahresrhythmus der Wiederholungskurse mit sich brachte, konnte später nur mit Mühe wettgemacht werden.
In diesem Licht betrachtet wäre es ebenfalls falsch, im Sinne einer Sparmassnahme allzu rasch auf Truppenübungsplätze zu verzichten. Gerade in Anbetracht der wachsenden Überbauung und Urbanisierung der Schweiz sollte der Bund die knappen Landreserven für Ausbildungszwecke so lange als möglich in eigener Hand behalten.
Handlungsfreiheit als oberstes Ziel
Demgegenüber geniessen Fragen von Doktrin und Organisation weniger hohe Bedeutung. Das will aber nicht heissen, dass diese beiden Bereiche vernachlässigt werden könnten. Sowohl die Doktrin, worunter fundamentale militärische Prinzipien für den Ernstfalleinsatz zu verstehen sind, als auch die organisatorische Gliederung der Armee sollen Handlungsfreiheit erlauben. Gerade unter den gegenwärtigen durch einen hohen Grad an Unsicherheit gekennzeichneten strategischen Verhältnissen ist die Realisierung von Lösungen zu vermeiden, die auf nur lückenhaften Vorstellungen von künftigen Konfliktbildern oder sogar auf vorgefassten Meinungen beruhen.
Ob die in Aussicht gestellte Weiterentwicklung der Armee in dieser Hinsicht den Ansprüchen genügt, bleibt allerdings fraglich. Denn die klare Trennung zwischen Formationen, die für die subsidiäre Unterstützung der Zivilbehörden in Krisenlagen vorgesehen sind, und solchen Verbänden, welche die Verteidigungskompetenz erhalten sollen, ist unzweckmässig. Die Armee ist als Gesamtsystem zu betrachten, und so gesehen kann sich eine allzu rigorose Spezialisierung nicht begründen lassen. In diesem Sinne spricht sich auch das kürzlich veröffentlichte neue französische Weissbuch zur Verteidigung und nationalen Sicherheit deutlich für eine Kohärenz zwischen den verschiedenen Verbänden des Heeres aus. Die divisionsähnliche Gliederung der geplanten zwei mechanisierten Brigaden der Schweizer Armee orientiert sich zudem an Vorstellungen von einer Verteidigung nach überholten Einsatzmustern aus der Zeit des Kalten Krieges.
Modulare Strukturen, die rasch lagegerecht angepasst werden können, wären zweifellos die bessere Lösung. So jedenfalls geben sich hohe britische Offiziere überzeugt, die in Einsätzen im Irak die Zusammensetzung ihrer Formationen praktisch täglich an neue Erfordernisse anpassen mussten. Das ist nur dann rasch zu bewerkstelligen, wenn neue Gliederungen auch übermittlungstechnisch und logistisch ohne heikle Schnittstellen gebildet werden können.
Ähnlich verhält es sich mit der Doktrin. Zwar versuchen die dafür verantwortlichen Stellen der Armee schon seit längerem eine Verteidigungsdoktrin zu entwickeln. Für eine solche fehlen aber klare Rahmenbedingungen. Aus diesem Grund hat die US Army unter der Bezeichnung «Doctrine 2015» eine Reihe von Reglementen publiziert, die nicht als verpflichtende Regelwerke, sondern als gedankliche Richtlinien verstanden werden sollen. An einer solchen Philosophie sollte sich auch die Schweiz orientieren.
Unter allen diesen Vorzeichen sollte die Kooperation mit dem Ausland, wie sie mit der Beteiligung an der Partnerschaft vor bald siebzehn Jahren systematisch eingeleitet wurde, beharrlich weitergeführt werden. Denn eine sicherheits- und verteidigungspolitische Abschottung würde unweigerlich dazu führen, dass sich die Armee letztlich marginalisierte, was angesichts neuer Bedrohungsformen, denen nur im Verbund aller sicherheitspolitisch relevanten Instrumente begegnet werden kann, fatal wäre.
Hinweis
Die Serie wird fortgesetzt mit einem Beitrag von Josef Lang, Mitglied des Vorstands der Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee GSOA. Der Artikel erscheint in den nächsten Tagen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war Generalstabsoffizier und von 1984 bis 2009 Redaktor der NZZ für Sicherheits- und Militärpolitik. Er ist Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.