Schwere Operationen nur in spezialisiertem Spital!
London. Patientinnen und Patienten möchten am liebsten beides: eine bestmögliche Behandlung und ein Spital in ihrer näheren Umgebung. Doch diese beiden Wünsche sind immer weniger in Einklang zu bringen. Der technische Apparat der Medizin wird stets grösser und teurer, so dass es für viele Spitäler unmöglich ist, für alle Operationen eine erstklassige Behandlung anzubieten. Deshalb gehen Patienten weniger Risiken ein, wenn sie für grössere Eingriffe nicht ins nächste Spital gehen, sondern in ein hoch spezialisiertes.
Dies gilt ganz besonders in der Schweiz, weil die Zahl der Spitäler besonders gross ist und viele Spitäler bestimmte Operationen im Laufe eines Jahres nur zehn- bis dreissigmal durchführen. Für so wenige Operationen lohnt es sich nicht, die neusten technischen Mittel anzuschaffen, und zudem haben die Operations- und Pflegeteams viel zu wenig Übung mit dem Verlauf solcher Eingriffe.
Als Folge davon erleiden Patientinnen und Patienten häufiger vermeidbare Komplikationen, Nachoperationen und Langzeitschäden. Es kommt auch zu deutlich mehr Todesfällen. Das belegen viele Statistiken im Ausland. Weil in der Schweiz keine vergleichbaren Zahlen erhoben werden, ist das Bewusstsein bei uns noch unterentwickelt, wie wichtig genügend Fallzahlen sind.
London macht es vor
Ein Vergleich mit der Grossstadt London scheint auf den ersten Blick verwegen. Doch Londen hat mehr Einwohner als die ganze Schweiz und die Reisezeiten von einem Ende zum andern sind gross. Noch vor fünf Jahren boten in London 32 Spitäler nach Schlaganfällen Soforthilfe an. Heute gibt es nur noch acht hoch spezialisierte Schlaganfall-Zentren an Orten, die mit Krankenwagen leicht und rasch zu erreichen sind. Das Resultat macht eine Nachahmung geradezu zwingend: Von vergleichbaren Patienten mit Schlaganfällen sterben nur noch halb so viele wie früher. Die Patienten bleiben zudem weniger lang ans Spitalbett gebunden. «Die Zentralisierung der Schlaganfall-Behandlungen war vor drei Jahren sehr umstritten, doch die Konzentration auf acht Zentren verhindert heute ein paar hundert Todesfälle pro Jahr und spart erst noch Kosten», erklärte Andy Mitchell, medizinischer Direktor der NHS in London.
Auch die Todesfälle nach schweren Schussverletzungen und Verletzungen mit Messern und Stichwaffen sanken deutlich, nachdem fast alle Patienten in eine von nur noch vier Kliniken eingeliefert wurden, die sich auf solche Fälle spezialisiert haben.
«Zentralisierung von Krebsoperationen »
Jetzt soll eine «Revolution bei Krebsoperationen» in London «Hunderte von Leben retten», titelte «The Times» letzte Woche. Die «Revolution» ergibt sich nicht aus völlig neuen Operationsmethoden, sondern aus einer Hyperspezialisierung. Die Techniken zur Operation der Prostata, des Darms, der Leber und der Nieren verfeinern sich ständig. Die Entwicklung verläuft fast so schnell wie bei neuen Computern. Für ein Chirurgen- und Pflegeteam ist es unmöglich, mit der Entwicklung mitzuhalten, wenn sie solche Operationen relativ selten, quasi «nebenbei» durchführen. Nachdem in London Zahlen über stark unterschiedliche Behandlungserfolge und Komplikationsraten bekannt wurden, haben sieben grosse, auf Krebs spezialisierte Spitäler in London vereinbart, die Spezialisierung weiter voranzutreiben und die Krebsoperationen nach Organen aufzuteilen: Jedes dieser reputierten Spitäler soll nur noch eine oder zwei Arten Krebsoperationen durchführen und sich darauf noch stärker spezialisieren. Beispielsweise wird sich das «Royal Free London»-Spital künftig auf Operationen von Nierenkrebs beschränken. Das «University College London Hospital» wird nur noch Eingriffe an der Prostata und der Leber vornehmen. Heute ist die Behandlung von Prostatakrebs- und Leberkrebspatienten noch auf neun Spitäler im Norden und Osten Londons verteilt.
Noch nicht einig ist man sich, welches Spital künftig die Herzoperationen an Kindern erhalten soll. Geplant ist auch das Verteilen der Patientinnen und Patienten mit Eierstock-, Lungen-, Magen- und Hirntumoren auf nur noch ein oder zwei Spitäler.
Auch für genaue Diagnosen werden die Patienten ans zuständige Spital verwiesen, so dass es zu weniger Fehldiagnosen kommen soll. «London hat heute zu viele Spitäler, die alle versuchen, zu viel zu tun mit einer zu kleinen Zahl von Krankheitsfällen», sagte Professorin Kathy Pritchard-Jones, Krebsforscherin am Universitätsspital. Für ein Spital mit einer hohen Fallzahl lohne sich das Anschaffen der modernsten Technologie. Und die grösseren Fallzahlen pro Spital ermögliche es, den Erfolg der Operationen sowie die Vor- und Nachteile der modernsten Medizintechnik wissenschaftlich auszuwerten.
Davon ist die Schweiz noch weit entfernt. Ein Beispiel: Etwa 17 Spitäler führen in unserem kleinen Land Eingriffe am Herz durch – wohl zum Schaden vieler Patientinnen und Patienten. In London müssen Patienten etwas längere Anfahrtswege in Kauf nehmen, doch dafür gehen sie viel weniger Risiken ein.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine