Migrationspolitisches Wetterleuchten
Ein Sack und eine Tüte bezeichnen den gleichen Gegenstand, und beide Wörter sind deutsch. Doch in der Schweiz erhält der Kunde für seine Einkäufe im Supermarkt keine Tüte, sondern einen Sack. Das lernt Joachim Eibach im Schweizerdeutschkurs. Eibach ist Deutscher, seit 2004 Professor für Geschichte an der Universität Bern und um vorbildliche Integration bemüht. Auch Yongala Falanga Ndambo ist in Bern unterwegs, als Tram- und Buschauffeur. Seit 20 Jahren lebt der Kongolese in der Schweiz. Sorgfältig bindet er am Morgen seine Krawatte. Er liebt die Verantwortung im Führerstand des Berner Trams. Sein Lebensmotto lautet: «Mache deine Arbeit gut und sei loyal mit allen.» Auch er ist ein vorbildlich integrierter Mann.
1,825 Millionen Migrantinnen und Migranten lebten Ende 2012 in der Schweiz; jeder vierte Erwerbstätige ist ausländischer Herkunft. Zwei davon, Joachim Eibach und Yongala Falanga Ndambo, stellt das Bundesamt für Migration (BFM) in einem knapp zweiminütigen Videoclip auf seiner Homepage vor. Die Migranten «tragen durch ihre Arbeit zum Wohlstand des Landes bei», heisst es auch auf der Homepage des BFM. Und deshalb will ihnen die Amtsstelle mit kurzen Videoporträts ein Gesicht geben. Hinter den netten Filmchen stecken aber nicht nur hehre Absichten und vorbildliche Integrationsbemühungen, sie sind ebenso sehr Zeichen einer zunehmenden Nervosität.
Die Gelassenheit schwindet
Spätestens seit im August des vergangenen Jahres die Schweiz die Grenze von acht Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern erreicht hat, herrscht Alarmstimmung. Und zwar auf unterschiedlichen Ebenen und bei fast allen Akteuren. Die meisten Leute erleben den Dichtestress im Alltag, etwa in Form überfüllter Züge und immer grösseren Verkehrsstaus. Wohnungen werden immer mehr zum knappen Gut, die Mieten steigen, ebenso die Bodenpreise. Die Auswirkungen sind auch in den Schulen, im Gesundheitswesen, in der Sozialpolitik und vor allem auf dem Arbeitsmarkt spürbar. An den Hochschulen beispielsweise ist über die Hälfte der Professoren ausländischer Herkunft. Nicht mehr überall herrscht Gelassenheit, die Stimmung wird mancherorts gereizter. Und jene Kreise, welche schon immer mit der Ausländerfrage auf Stimmenfang gingen, sehen ihre Stunde erst recht gekommen.
Deshalb steigt auch bei Politikerinnen und Politikern der Puls. In nächster Zeit stehen gleich mehrere Abstimmungen bevor, die nicht nur einen Richtungswechsel in der Migrationspolitik verlangen, sondern auch gravierende Auswirkungen auf das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union haben können. Dazu gehören die hängigen Volksinitiativen der Schweizerischen Volkspartei (SVP) «Gegen Masseneinwanderung» und der Vereinigung Ecopop mit dem Titel «Stopp der Überbevölkerung zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen». Mit der Aufnahme Kroatiens in die EU Mitte 2013 steht auch die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit zur Diskussion. Ein Referendum dagegen ist so gut wie sicher.
Alle diese Vorlagen haben bei einer Abstimmung durchaus eine Chance. Man kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass das Volk die Einwanderungspolitik des Bundesrates unterstützt, wie es dies in den Jahren 2000, 2005 und 2009 bei der Einführung und der zweimaligen Ausdehnung der Personenfreizügigkeit getan hat. Akute Überfremdungsangst statt nüchterne Interessenabwägung könnte beim Ausfüllen des Stimmzettels den Ausschlag geben.
Ohne Migranten keine Schweiz
Dass die wachsenden Ausländerzahlen vielen Leuten Sorge bereiten, nehmen die Behörden sehr wohl zur Kenntnis. Die sozialdemokratische Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements und damit für das Migrationsdossier zuständig, kennt das Dilemma der Bundesbehörden besonders gut. In verschiedenen Interviews warnt sie davor, die Probleme der Zuwanderung zu verharmlosen, es sei gefährlich, die unangenehmen Seiten einer Entwicklung auszublenden. Gleichzeitig betont die Bundesrätin, die Schweiz müsse mit der Zuwanderung leben, denn diese sei zentral für die Schweiz: Migrantinnen und Migranten seien massgeblich daran beteiligt, dass unser Land eines der wettbewerbsfähigsten Länder der Welt ist.
Sommaruga verweist damit auch auf eine historische Tatsache: Die Schweiz wäre ohne Immigranten im Laufe der Geschichte nicht zu dem geworden, was sie heute ist. Protestantische Glaubensflüchtlinge im 17. Jahrhundert, die liberalen politischen Flüchtlinge im 19. Jahrhundert, unter ihnen zahlreiche Firmengründer (z.B. Brown, Boveri und Nestlé), haben der Schweiz wesentliche Impulse verliehen. Der industrielle Aufschwung und der Ausbau des Eisenbahnnetzes in den letzten Jahrzehnten des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten zu einer grossen Einwanderungswelle. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war starke Zuwanderung eine Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die bisher grösste Einwanderungswelle erlebte die Schweiz zwischen 1950 und 1970: In dieser Zeit reisten insgesamt 2,68 Millionen Ausländer als Jahresaufenthalter oder Niedergelassene ins Land. Gleichzeitig wurden zusätzlich rund drei Millionen Bewilligungen für Saisonniers ausgestellt. In den 1960er-Jahren gewannen fremdenfeindliche Parteien zunehmend an Einfluss. Bei ihren sogenannten Überfremdungs-initiativen hatten sie vor allem die italienischen Gastarbeiter im Visier.
Erst Italiener, dann Deutsche
Heute sind es nicht mehr die Italiener, die das Blut vieler Schweizerinnen und Schweizer in Wallung bringen, sondern eher die zahlreich in der Schweiz arbeitenden Deutschen. Vor einem Jahr sorgte die Zürcher SVP-Nationalrätin Natalie Rickli für Empörung mit ihrer Feststellung: «Einzelne Deutsche stören mich nicht, mich stört die Masse.» Kein sehr freundlicher Ton gegenüber den von der Wirtschaft dringend benötigten hochqualifizierten Arbeitskräften wie Ärzten, Ingenieuren, IT-Spezialisten, Professoren, Hotelfachleuten etc. Das Beispiel zeigt deutlich, wie sich Feindbilder und Sympathien ändern können. Die einst angefeindeten Italiener sind längst Vorbilder geworden – in Sachen Esskultur und Lebensstil.
Mehrere Einwanderungswellen gemeistert
Selten lernen die Menschen aus der Geschichte, fest steht jedoch: Die Schweiz hat schon mehrere Einwanderungswellen, die anfangs hoch emotional und kritisch beurteilt wurden, sehr gewinnbringend gemeistert. Das Problem ist nur: Wenn die Überfremdungsangst sich einmal festgesetzt hat und wenn Politikerinnen und Politiker jeglicher Couleur nur noch die schwierigen Seiten der Migration thematisieren, dann nützen rationale Argumente kaum mehr etwas. Dabei wäre es durchaus angebracht, ein Hohelied auf die Zuwanderung zu singen, denn die Schweiz ist nicht nur eines der multikulturellsten Länder Europas, auch ihr Wohlstand ist höher denn je. Der Zusammenhang ist offensichtlich: Wenn die Wirtschaft brummt, nimmt die Zuwanderung zu; sie richtet sich nach der Nachfrage der Unternehmen. Beim Konjunkturaufschwung von 2006 bis 2008 kamen mehr Leute; im Rezessionsjahr 2009 nahm der Wanderungssaldo gegenüber dem Vorjahr prompt um einen Viertel ab. Die Einwanderung kurbelt auch den Binnenkonsum an. Dies zeigt die Detailhandelsstudie der Grossbank Credit Suisse. Sie weist auch nach, dass das Wachstum im Detailhandel höher ist als das Bevölkerungswachstum. Der Grund dafür: Die meisten Einwanderer sind hoch qualifiziert, entsprechend viel verdienen sie – und geben es auch wieder aus.
Auch SP ortet Probleme
Damit können die erwähnten Probleme jedoch nicht vom Tisch gewischt werden. Mittlerweile ist die SVP längst nicht mehr die einzige Partei, bei der die Einwanderung auf der Traktandenliste steht. Auch die Sozialdemokraten nehmen die Ängste der Bevölkerung zu Kenntnis. Sie haben deshalb 2012 ein Migrationspapier präsentiert. Sie wollen aber nicht gleich die Personenfreizügigkeit aufkündigen wie die SVP. Ihr Rezept heisst: Ausbau der flankierenden Massnahmen gegen Lohndruck und hohe Mieten. Einen grossen Fehler sehen sie in der «verfehlten bürgerlichen Standort- und Steuerpolitik». Die Schweiz locke «mit den tiefsten Steuern aller strukturstarken Länder internationale Firmen an, obwohl sie gar nicht über genügend qualifiziertes Personal verfügt», kritisiert die SP. Die Folge: Ausländische Arbeitskräfte strömen in die bereits überhitzten wirtschaftlichen Brennpunkte. Den Nutzen davon hätten fast ausschliesslich die Konzerne, während die Öffentlichkeit die negativen Folgen zu tragen habe, wie explodierende Immobilienpreise, hohe Mieten etc.
Wenig differenzierter Stammtisch
An den Stammtischen wird selten unterschieden, von welcher Ausländerkategorie man spricht: von den Asylsuchenden, den Niedergelassenen, den pauschal-besteuerten Multimilliardären, den Spitzenmanagern und Konzernchefs, den Studierenden, den landwirtschaftlichen Hilfskräften, den Chefärzten, den Professoren oder den Fachkräften in Dienstleistung und Handwerk. Sie alle benutzen zwar die schweizerische Infrastruktur. Doch alle Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten auf die Einwanderung abzuschieben, ist unredlich. Der zunehmende Verbrauch an Wohnfläche zum Beispiel ist in erster Linie die Folge der seit Jahren steigenden Ansprüche der schweizerischen Gesellschaft. Die Zersiedelung ist im Wesentlichen das Resultat mangelnder Raumplanung und die zunehmende Mobilität auf Strasse und Schiene ist mit der immer stärkeren Trennung von Wohn- und Arbeitsort eine Folge davon. Die Zuwanderung akzentuiert diese hausgemachten Probleme und macht den ohnehin bestehenden Reformbedarf umso dringender.
Immer mehr radikale Vorschläge
Unter dem Dichtestress stehen plötzlich nicht mehr Reformen, sondern Radikal¬lösungen im Zentrum des Interesses. Doch einfache Lösungen für komplexe Probleme haben immer auch ihre Tücken. Das ist bei beiden Einwanderungsinitiativen, jener der SVP und jener der Vereinigung Ecopop, gleichermassen der Fall (siehe Text rechts). In seiner Botschaft zur SVP-Volksinitiative warnt der Bundesrat, dass sich das Volksbegehren direkt gegen das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU richte. Die Kündigung dieses Abkommens hätte laut dem Bundesrat «gravierende Konsequenzen für die Schweizer Volkswirtschaft, die jeden zweiten Franken in der EU verdient». Und zwar auch deshalb, weil damit das ganze Vertragswerk der bilateralen Abkommen in Frage gestellt wäre.
Eine völlig unberechenbare Dynamik könnte die Ecopop-Initiative entwickeln. Denn das Volksbegehren der schillernden Vereinigung spricht ganz unterschiedliche Kreise an. Ecopop versteht sich als ökologische Bewegung mit dem Blick auf Bevölkerungsfragen. Die Zuwanderungsbegrenzung ist zwar eine traditionelle Forderung der Rechten. Doch das Ziel, die Einwanderung zum Schutz der Umwelt zu bremsen, gefällt auch Teilen der links-grünen Wählerschaft.
Der Schweiz stehen somit einige turbulente Migrationsdebatten ins Haus, die je nach Ausgang der Volksabstimmungen weit mehr als bloss einen weiteren Imageschaden nach sich ziehen könnten. Sie haben das Zeug dazu, die gesamte, ohnehin sehr fragil gewordene Europapolitik der Schweiz zum Einsturz zu bringen.
(Dieser Text erschien zuerst in der «Schweizer Revue» Nr. 2 / April 2013 (Zeitschrift für die Auslandschweizer)
Fortsetzung folgt: Interview mit Walter Leimgruber, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine