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Kantonsgericht Schaffhausen © sh

Sexualtäter darf ahnungslose Frauen therapieren

upg /  Das Gericht hat ihn wegen mehrfacher sexueller Nötigung verurteilt, das Gesundheitsamt über den Fall aber nicht informiert.

Es geht um ein grundlegendes demokratisches Prinzip: Gerichtsurteile sind öffentlich.
Und es geht um die Pflicht von Gerichten, über verurteilte Sexualstraftäter – wenn es sich um einen Lehrer handelt – der Schulbehörde, oder, wenn es sich um einen Arzt oder Therapeuten handelt – der Gesundheitsbehörde bekannt zu geben, damit Schul- oder Gesundheitsbehörden weitere Schritte prüfen können.
In einem kürzlichen Fall hat das Kantonsgericht Schaffhausen einen Physiotherapeuten, der als Pfleger in einem Altersheim arbeitete, wegen mehrfacher sexueller Nötigung und sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 22 Monaten verurteilt. Das Gericht wollte ein halbes Jahr nach dem Urteilsspruch weder das Urteil nochmals bekannt geben, noch hatte es die Gesundheitsbehörde informiert. Der Physiotherapeut verfügt weiterhin über die amtliche Bewilligung zur Berufsausübung. Nach eigenen Angaben arbeitete er zwar zum Zeitpunkt des Urteils seit einiger Zeit im Bau. Doch falls er wieder eine Tätigkeit als Physiotherapeut aufnimmt, hätten Patientinnen keine Ahnung, dass ihr Therapeut ein Risiko für eine sexuelle Nötigung oder Belästigung darstellt.
Das zuständige kantonale Gesundheitsamt konnte nicht überprüfen, ob sich ein Entzug der Praxisbewilligung oder wenigstens ein Verbot, künftig Frauen zu behandeln, aufdrängt – weil das Gericht das Amt über das Urteil nicht informierte.
Wie der Jurist Dominique Strebel in seinem Blog recherchiert hat, schreibt das Schaffhauser Justizgesetz vor: «Die Strafbehörden haben die zuständigen Verwaltungsbehörden zu benachrichtigen und ihnen zweckdienliche Unterlagen zu übermitteln, wenn sich in einem Strafverfahren begründeter Anlass zur Prüfung ausserstrafrechtlicher Massnahmen ergibt.»
Doch das Gericht unterliess eine Benachrichtigung, so dass das Gesundheitsamt nicht aktiv werden konnte. Die Nicht-Information des Amts begründet der zuständige SVP-Gerichtspräsident Markus Kübler gegenüber Infosperber damit, dass der Verurteilte seine Taten «nicht während der Ausübung einer bewilligungspflichtigen Tätigkeit» begangen habe, und dass das Gericht «keinen begründeten Anlass zur Prüfung weiterer Massnahmen» sah. Denn zum Zeitpunkt des Urteils habe der Verurteilte schon seit längerem nicht mehr als Pfleger gearbeitet, sondern im Bau.
Dazu sagt Dominique Strebel: «Die Arbeit auf dem Bau zum Zeitpunkt des Urteils hätte der Verurteilte schon eine Woche nach der Verurteilung abbrechen und wieder als Physiotherapeut arbeiten können, ohne dass das Gericht davon erfahren hätte. Nicht die mögliche Zukunft des Verurteilten, sondern alleine das Urteil und die Schwere der Tat in Zusammenhang mit der Praxisbewilligung muss Grundlage des Entscheides der Meldung ans Gesundheitsamt sein. Dann ist am Gesundheitsamt, die Konsequenzen zu beurteilen. Es kann nicht sein, dass das Kantonsgericht aus falsch verstandenem Täterschutz die Abwägungen selber trifft, die das Gesundheitsamt vornehmen müsste.»

Das Gericht fällte das Urteil am 23. August 2012 in einer öffentlichen Verhandlung. Doch wie Strebel berichtete, wollte der Schaffhauser Kantonsrichter ein halbes Jahr später einer Journalistin von Radio Munot das Urteil nicht mehr ohne weiteres aushändigen. Richter Kübler begründet dies gegenüber Infosperber damit, dass «die Zeit des Vergessens» zu laufen angefangen habe, und dass die Journalistin «kein berechtigtes Interesse» nachgewiesen habe.
Doch das Recht auf Vergessen greife erst nach mehreren Jahren, erklärt Strebel: «Der einzige Bundesgerichtsentscheid darüber bejahte das Recht auf Vergessen nach 9 Jahren.» Die Bundesverfassung (Art. 30 Abs 3) erlaube Medien Einsicht und Zugang zu Urteilen gemäss konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung, auch nachdem ein Urteil öffentlich verkündet wurde.

«Der Fall illustriert exemplarisch, wie geheimniskrämerische Gerichte Entscheide von der Öffentlichkeit abschirmen», meint Journalist und Jurist Dominique Strebel in seinem Blog.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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3 Meinungen

  • am 19.04.2013 um 12:02 Uhr
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    Wir kennen das Problem schon von anderen Fällen her. Gefälligkeitsgutachten, verschwägerte Richter und Anwälte, Sympathien, gemeinsame Studienzeit, wie viele Staatsanwälte, Richterinnen und Richter, freie Juristen haben in der Studienzeit in derselben WG gewohnt oder sogar zusammen geschlafen? Sind miteinander in Beziehungen verstrickt. Erinnern wir uns der Dramen in Basel, von Ärzten welche gegen Methadonabgabe sexuelle Gegenleistungen erhielten. Oder ein Gefälligkeitsgutachten vor Jahren, weil ein führender Psychiater mit einer von ihm abhängigen Patientin an einem heiligen Ort in Basel den Geschlechtsverkehr vollzog. Ich musste selber mal rechtlich gegen ein Unrecht, von einer gesellschaftlichen Autorität begangen. Ich wurde gestalkt, mein Müll wurde entführt, er versuchte mich auf der Strasse zu überfahren, u.s.w. Es dauerte 6 Jahre, bis ich ein klein wenig Recht bekam und mit einer kleinen Summe Entschädigt wurde, wovon 1/3 gleich an den Anwalt ging. Beziehungskorruption ist überall, in den Behörden, den Familien, den Mietskasernen, den Liegenschaften, der Schulen, der Kirchgemeinden, u.s.w. Kumpanei, Verschwörungen bis schwerer Art, es ist eine richtige Volksneurose, welche auf dem Boden der Existenzangst, die Angst unserer Zeit, prächtig gedeihen tut. Beatus Gubler http://www.streetwork.ch Ein soziales Nonprofit-Projekt.

  • am 22.04.2013 um 21:18 Uhr
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    In den 90er Jahren war die Haltung vom Schaffhauser Departement des Innern bezüglich sexuell übergriffiger Ärzte protektiv und bezüglich Opfer traumatisierend. Der damalige Departementsekretär ist aktuell als Regierungsrat tätig und andere SP Politiker hatten Opfer unterstützende Exponenten auf ihrer Abschussliste. Unterstützt von Volk und SVP mögen sie keine Querdenker und kritische Stimmen. Zuviel diesbezügliches könnte aufgedeckt werden und sehr unangenehm werden. Wohl um Abzulenken schwenkt das Pendel radikal auf die Täterverfolgung und schafft Sündenböcke, statt im Detail und Einzelfall genau hinschauen zu wollen.

  • am 23.04.2013 um 07:53 Uhr
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    Ja der Pendeleffekt ist mir auch schon mehrmals aufgefallen. Bei dem Konzept von Marshall Rosenberg im Umgang mit Menschen welche zu unrecht oder zurecht angeschuldigt werden, sollte so etwas eigentlich nicht vorkommen. Die zahlreichen Non-Violence Schutzvollzugskonzepte, ob an Schulen oder als Ersatz für eine Justizia in den Usa sind sehr erfolgreiche Beispiele dafür, für die ich nur plädieren kann. Es ist halt schon ein Unterschied, ob man jemanden in Schutzvollzug nimmt, um ihn und die Umgebung vor z.B. weiterer Gewalt zu schützen, bis dem Menschen beigebracht worden ist, wie er seine Bedürfnisse erfüllen kann, ohne sich und anderen zu schaden, oder ob man jemanden einsperrt mit dem Motiv der kultivierten Rache, Einschüchterung und Abschreckung. Man beachte den Unterschied in der Rückfallquote zwischen Arxhof mit sehr geringem Rückfallrisiko und dem klassischen Strafvollzug mit sehr hohem Rückfallrisiko. Auch sollte das Konzept des Lügendetektors endlich als zulässiges Instrument wahrgenommen werden, es könnte viele zu unrecht inhaftierte befreien, wie auch solche, die man inhaftieren sollte, aber es aus gesellschaftlichen Gründen nicht tut, in Gewahrsam zu nehmen. Also in Schutzvollzug. Mit dem Instrument Lügendetektor kombiniert mit Sachverständiger Empathie kann auch sehr effizient erforscht werden, wie weit sich ein Delinquent weiterentwickelt hat, um vorzeitig aus dem Schutzvollzug in den offenen Schutzvollzug oder in die Freiheit entlassen zu werden. Dieses Non-Violence System von M. Rosenberg ist sicher noch nicht das gelbe vom Ei, aber bisher, so wie der Arxhof, das Beste was es bis jetzt gibt im Vergleich zum bisherigen. Gruss Beatus Gubler

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