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Jacques Delors (88) hatte sich Europa noch anders vorgestellt © wikipedia

Europa – wie es hätte werden sollen, und warum

Christian Müller /  Die Väter Europas dachten vor allem in Werten, nicht nur in Währungen. Doch das Projekt ist vom richtigen Gleis abgekommen. Leider.

Es ist wieder einmal die deutsche Vierteljahreszeitschrift «Die Gazette», die in der neusten Ausgabe mit dem Schwerpunkt Europa Aspekte aufzeigt, die in den grossen Medien meist vergessen oder übersehen werden – oder die man bewusst nicht wahrhaben will. In zehn äusserst aufschlussreichen Artikeln wird Europa von verschiedenen Seiten beleuchtet – aber nicht einfach nur kritisiert, wie es mittlerweile vielerorts üblich ist. Dass einiges falsch gelaufen ist, gehört heute zum Wissen jedes Zeitungslesers. Was aber alles falsch gelaufen ist, und vor allem warum, ist das Thema der neusten Ausgabe der «Gazette».

Infosperber hat vom Autor und von der «Gazette» die Bewilligung erhalten, den einen Artikel vollumfänglich zu übernehmen. In einer mehrseitigen Analyse zeigt Stephan Lessenich, Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, was die Vorstellung von Jacques Delors war, der von französischer Seite aus auf eine Integration Europas hinarbeitete, und was aus diesen Vorstellungen geworden ist. Gleichsam als Chronist schildert er den langsamen Wechsel vom Modell «Soziales Europa» ins Modell «Europa der Märkte» im Sinne neoliberaler Ökonomie.

Alle Macht den Märkten, möchte man – ironisch-zynisch – nach der Lektüre ausrufen: die Banken und die Grosskonzerne haben erreicht, was sie wollten, die Bürgerinnen und Bürger, die dabei übergangen worden sind, haben das Nachsehen – und die Kosten.

Doch man lese selber. Der Artikel kann auch als pdf ausgedruckt werden (siehe unten)

Soziales Europa

DER FINALE COUNTDOWN

Eine Zeit lang galt das Europäische Sozialmodell als Integrations- und Identitätsfaktor der Europäischen Union. Was haben Neoliberalismus und Euro-Krise von ihm übrig gelassen? Hat das Modell noch eine Zukunft – und wenn ja, unter wessen Regie?

Von Stephan Lessenich

Im Februar 1986 veröffentlicht die schwedische Band «Europe» die Single The final countdown, mit der ihr der weltweite kommerzielle Durchbruch gelingt: Das Lied mit der eingängigen Eingangsfanfare (Ta-ta-ta-taa ta-ta-ta-ta-taa) erreicht in 26 Ländern Platz eins der Hitparade und verkauft sich binnen der ersten zwei Jahre fast acht Millionen Mal.

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Im Februar 1986 unterzeichnen die zwölf damaligen Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein Änderungsabkommen der Gründungsverträge: Das als «Einheitliche Europäische Akte» (EEA) bekannt gewordene Vertragswerk stellt die Weichen für eine Vollendung des europäischen Binnenmarktes und für die nachfolgenden Reformverträge (Maastricht, Amsterdam, Nizza, Lissabon) auf dem Weg zu einer Europäischen Union.

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So weit eine kleine europäische Zeitreise vorab. Ein Vierteljahrhundert europäischer Integrationsgeschichte später stellt sich die Frage, was die beiden Parallelereignisse miteinander zu tun haben – wenn überhaupt. Handelt es sich nur um eine historisch zufällige, politisch-popkulturelle Gleichzeitigkeit des «Europäischen», bei der die exterritorialen Hardrocker (Schweden trat erst ein Jahrzehnt später der Europäischen Gemeinschaft bei) einen pompösen Tusch zum staatsrechtlichen Akt lieferten? Oder steckt mehr hinter diesem Rückwärtszählen zum Start im einen Fall, dem Start zum Rückwärtszählen im anderen? War der Beschluss zur Verwirklichung des Binnenmarkts zugleich der Anfang vom Ende der Idee eines «sozialen» Europa? War das im Februar 1986 der Startschuss zu einem neoliberalen Hegemonieprojekt, in dem mächtige und wohlorganisierte Wirtschaftsinteressen im Verbund mit politischen Akteuren die «soziale Dimension» der europäischen Integration systematisch ausgehöhlt, strategisch an den Rand gedrängt bzw. gleich von Beginn an in ihrer möglichen Dynamik verhindert haben?

Wie so häufig muss die angemessene Antwort auch auf diese Frage uneindeutig ausfallen: ja – und nein.

Entfesselung von Märkten und Markt-mechanismen

Ja, mit der EEA – und dem ihr vorausgehenden Weissbuch der Europäischen Kommission zum Binnenmarkt aus dem Jahr 1985 – wurden die Zeichen des europäischen Projekts auf eine immer stärkere Präferenz für Marktliberalismus und Wettbewerbsfähigkeit gestellt. Die im 1986er Vertragswerk vorgesehenen Massnahmen, von der Aufhebung von Staatsmonopolen bis zur Harmonisierung von Produktnormen, haben den Weg geebnet für das, was die Gesellschaften der Mitgliedsstaaten seither als europäischen Neoliberalismus kennengelernt und zu spüren bekommen haben. Von den Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages 1992 über die Wettbewerbsziele der Lissabon-Strategie seit dem Jahr 2000 bis hin zu der kürzlich in Kraft getretenen Schuldenbremse im Fiskalpakt: Die Geschichte der vergangenen zwei Jahrzehnte europäischer Politik ist sowohl eine Geschichte der Ausweitung und Entfesselung von Märkten und Marktmechanismen als auch eine Geschichte der fiskalischen Beschränkung und Knebelung des Staates.

Das «Soziale» – etwa die Garantie von Mindeststandards bei der Arbeit und beim Lebensunterhalt, die Durchsetzung von Gerechtigkeitsnormen, die Umverteilung von Einkommen oder die Gewährleistung von Bildungschancen – muss ja weitgehend durch staatliche Interventionen gegen die Kräfte des Marktes hergestellt und gesichert werden. Gerade hier aber liegen die Folgen der neueren Politik auf der Hand: wachsende soziale Ungleichheiten, die Fragmentierung der Gesellschaft in konkurrierende Gruppen potenzial-aktivierender Kollektivindividualisten, die zunehmende Marginalisierung «marktferner» Personen und Milieus bei gleichzeitig steigendem ökonomischem und politischem Druck in Richtung auf ihre «Marktbefähigung».

So weit, so unbedenklich. Und doch muss auch mit einem Nein geantwortet werden. Nein, historisch vorherbestimmt war dieser Prozess – jedenfalls in seiner Intensität und seiner praktisch-politischen Implementation – keineswegs; und alternativlos war er, obwohl das immer wieder betont wird, schon gar nicht (worauf gerade die Tatsache, dass es immer wieder betont wird und werden muss, recht eindrücklich hinweist). Schliesslich lassen sich die politischen Akteure, die sozialen Interessen und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die zur «Neoliberalisierung» des europäischen Projekts geführt und sie – sei es durch Handeln oder durch Unterlassen – vorangetrieben und durchgesetzt haben, konkret benennen und historisch rekonstruieren. Woraus wiederum Anhaltspunkte zu gewinnen sind mit Blick auf die Frage, welche Handlungsspielräume nach zwei Jahrzehnten des europäischen Marktliberalismus für ein «anderes» Europa noch bestehen – und wie diese Spielräume zukünftig politisch zu nutzen wären.

Im Sinne des «rheinischen Kapitalismus» der Nachkriegszeit

Mitte der 1980er Jahre war noch durchaus offen, welche Entwicklung der europäische Binnenmarkt nehmen würde. Jacques Delors, seit 1985 ein Jahrzehnt lang Präsident der Europäischen Kommission und treibende Kraft des Integrationsprozesses, hatte durchaus andere politische Vorstellungen als bloss den freien Verkehr von Gütern und Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften. Zwar hielt er diese ökonomische Dimension der europäischen Einigung durchaus für notwendig im Wettbewerb mit den Wirtschaftsräumen Nordamerikas und Südostasiens. Als französischer Sozialist mit stark sozialkatholischer Prägung verfolgte er jedoch – ganz im Sinne des «rheinischen Kapitalismus» der Nachkriegszeit – ein klassisch sozialdemokratisches Projekt der staatlichen Regulierung und Begrenzung der Marktwirtschaft in Europa. Die ökonomische und die soziale Dimension Europas gehörten für ihn untrennbar zusammen, und der europäische Binnenmarkt hatte Hand in Hand zu gehen mit einer Dynamik der Staatswerdung Europas. Wirtschaftlicher Wohlstand und gesellschaftlicher Ausgleich, efficiency und equality: Das waren für ihn die Säulen eines «Europäischen Sozialmodells». Diesen explizit gesellschafts-politischen Gegenentwurf zum liberalen Kapitalismus US-amerikanischer Prägung hat er auch in Kommissionspapieren, auf europäischen Gipfeln und bei allfälligen Festreden immer wieder angepriesen.

Delors’ Eintreten für den konsequenten Aufbau eines «Sozialen Europa» mag Überzeugungstat gewesen sein oder strategischem Kalkül entsprochen haben – für die nachträgliche Würdigung des in diesem Zusammenhang geradezu klassisch gewordenen Bonmots des Kommissionspräsidenten ist dies einerlei: You don’t fall in love with a market. So umschrieb Delors seine politische Einsicht, dass ein blosses Markteuropa – das «Europa der Banken und Konzerne» – ein gravierendes, womöglich sogar zerstörerisches Legitimationsproblem haben müsse. Die Leute, so Delors in Übertragung nationalhistorischer Erfahrungen auf die Europapolitik und wohl auch mit einem gewissen sozialdemokratischen Optimismus, wollten mehr sein als nur Marktbürger, die – so würde man aus heutiger Sicht sagen – von der Aufhebung der Grenzkontrollen, den Billigfluglinien und der Mobilität von Altenpflegepersonal profitieren. Vielmehr hätten sie den Wunsch nach Zugehörigkeit zu und Identifikation mit einem gesellschaftlichen Gemeinwesen, das auch für ein gewisses Mass an Rechtsgleichheit, politischer Teilhabe sowie materieller und persönlicher Sicherheit sorgt – und das zu diesem Zweck auf einem funktionsfähigen Staatswesen als Fundament stehen müsse. Wolle Europa den Europäern und Europäerinnen eine neue, postnationale Heimat geben, dann sei es mit einer harmonisierten Wirtschaftspolitik nicht getan, dann müssten vielmehr, auf dem Wege politischer Intervention in einem räumlich erweiterten Massstab, auch harmonische gesellschaftliche Verhältnisse hergestellt werden.

Europäischer Sozialstaat an Stelle der nationalen Sozialsysteme

Wäre es also nach Delors gegangen, dann hätte diese Idee in der Konstruktion des Binnenmarkts zunehmend normative Kraft entfaltet; sie hätte der bloss «negativen» Integration im Sinne weitgehend uneingeschränkter Märkte eine Dynamik «positiver» Integration entgegengesetzt. An deren Ende hätte so etwas wie ein europäischer Sozialstaat gestanden, der an die Stelle der nationalen Sozialsysteme getreten wäre. Hätte, wäre, könnte – wir wissen, dass es nicht so gekommen ist. Aber musste es denn, um die oben gestellte Frage nach der historischen Unausweichlichkeit der Neoliberalisierung Europas hier noch einmal aufzunehmen, notwendigerweise so kommen, wie es kam?

In gewisser Weise schon, denn Delors’ Projekt eines «Europäischen Sozialmodells» traf auf mächtige Feinde: von den ausgesprochen gut organisierten Interessen des Finanz- und Industriekapitals über die strukturell an ihrem Kompetenzerhalt interessierten Regierungen bis zu den Widerständlern im eigenen Haus, also der Europäischen Kommission selbst, die von ihrem Präsidenten ja keineswegs ohne Weiteres auf Linie gebracht werden kann. Den Besonderheiten des politischen Systems der Europäischen Union war es andererseits geschuldet, dass dieser grossen und bunten Koalition der ideologischen oder faktischen Marktliberalen keine auch nur annähernd ähnlich politikfähigen Gegenmächte gegenüberstanden. Das Europäische Parlament war (und ist) nicht nur in seinen Kompetenzen begrenzt, sondern der Kommissionsvorsitzende ist eben nicht in dem Sinne «Regierungschef», dass er auf eine parlamentarische Mehrheit gestützt seine politischen Ziele verfolgen und im Zweifel durchsetzen könnte – davor sind immer die nationalen Regierungen. Zwar suchte Delors über die Förderung der Sozialpartnerschaft auch alternative Kanäle der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu stärken, aber letztlich schlug hier die Schwäche der europäischen Gewerkschaftsbewegung durch – und das weitgehende Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit, die politisch- medialen Druck auf die massgeblichen Akteure hätte ausüben können. An ihrer Stelle operiert bis heute ein für seine Zahl und Effektivität berühmt-berüchtigtes Lobbyistenheer, das wiederum vorrangig die Interessen bestimmter, nämlich marktnaher und marktmächtiger Milieus vertritt und bedient.

«Europäisches Sozialmodell»

Was war also im Rückblick Delors’ Problem? Vor allem wohl, dass das «Europäische Sozialmodell» ein reines Elitenprojekt war. Delors agierte im Grunde wie ein König ohne Reich, und seine gesellschaftspolitische Vision eines europäisch gewendeten Sozialdemokratismus ist letztlich nur Rhetorik geblieben. Ironischerweise war es ab Mitte der 1990er Jahre die – sich nun als «moderne» bzw. «neo-» etikettierende – europäische Sozialdemokratie selbst, die zwar die Rede vom «Europäischen Sozialmodell» beibehielt, unter diesem Etikett aber eine kaum verhohlene Neoliberalisierung der Gesellschaft vorantrieb. Im Jahr 2000 wurde die Lissabon-Strategie beschlossen, massgeblich von sozialdemokratie-affinen Akteuren in Wissenschaft und Politik ausgestaltet. In diesem Programm spiegelt sich die Wendung der Sozialdemokratie in aller Deutlichkeit wider: Mit marktkonformen politischen Technologien der indirekten Steuerung, des Benchmarking und des governing by numbers sollte die Europäische Union binnen eines Jahrzehnts zum «wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt» getrimmt werden. Das Ziel wurde allerdings bis 2010 nicht erreicht und daher – typisch neoliberale Regierungslogik – mit dem Nachfolge-Programm «Europa 2020» einfach in die Zukunft fortgeschrieben. Denn wettbewerbsfähig, dynamisch und wissensbasiert ist man im flexiblen Kapitalismus, ob nun als Individuum oder als Gesellschaft, ja ohnehin niemals genug; insofern ist es nur folgerichtig, die Anstrengungen zum Erreichen dieses «Ziels» auf Dauer zu stellen.

Anhaltspunkte für politisches Handeln

Warum nun überhaupt dieser Rückblick in die Frühgeschichte des europäischen Binnenmarktprojekts? In zweierlei Hinsicht kann uns das Scheitern eines europäischen Sozialstaatsprojekts unter Jacques Delors’ Ägide Anhaltspunkte für politisches Handeln in der Gegenwart liefern.

Zum einen mit Blick auf die Frage, wie man es offenbar nicht machen sollte: Ein wirklich «anderes Europa» wird nicht als Auswuchs einer Elitenvision bzw. allein vermittelt über die institutionellen Strukturen und Regularien der europäischen Politik in die Welt kommen. Es wird nicht stalaktitenartig «von oben» wachsen – zu schmal und brüchig ist dort so etwas wie die Basis für eine alternative europäische Gesellschaftspolitik.

Suche nach einer gesellschafts-politischen Alternative

Damit ist implizit auch schon die zweite Einsicht aus dem Fall Delors (und Delors’ Fall) angesprochen: Er sensibilisiert für die Tatsache, dass es durchaus Kontaktstellen und Koalitionspartner für die Suche nach einer gesellschafts-politischen Alternative zum Markteuropa auch in den europäischen Institutionen selbst gibt, dass aber die Realisierung einer solchen Alternative zunächst von anderer Seite wird ausgehen müssen. Ein wie auch immer zu bestimmendes, aber nicht blosse Rhetorik bleibendes «soziales Europa» wird eher stalagmitengleich «von unten» entstehen. Es wird von jenen europäischen Sozialbewegungen getragen und über jene europäische Öffentlichkeit vermittelt werden (müssen), auf die Delors vor bald drei Jahrzehnten noch nicht setzen konnte, die sich in der Zwischenzeit jedoch zu konstituieren begonnen haben – und die durch die aktuelle Europa-Krise und deren Folgen einen nachhaltigen Aufschwung erleben werden.

Man kann einstweilen von institutionellen Brückenköpfen für ein europäisches Solidarmodell sprechen, das eine Alternative zur herrschenden EU Sozialrhetorik bietet. Hier muss an erster Stelle auf den Europäischen Gerichtshof (EuGH) verwiesen werden. Wenn auch teils in Schlangenbewegungen und nicht immer in deutlicher Absicht, so hat «Luxemburg» doch in der Vergangenheit immer wieder normative Ankerpunkte für eine sozialpolitische Grundierung der Europäischen Union gesetzt. Das mag die klassische Linke, die vom Recht tendenziell eher das Böse (vulgo «Konservative») erwartet, überraschen. Aber hier findet sich ein zumindest passiver Koalitionspartner eines emanzipatorischen Politikprojekts für Europa. Gleichzeitig existieren heute neuere soziale Bewegungen – von Attac bis zu den Euromärschen und EuroMayDays – als Trägerinnen einer europäischen Interessenpolitik «von unten». Ihr bisheriges Manko allerdings war, dass sie sich weitgehend nur auf den Aktivismus junger, akademisch-bildungsbürgerlicher Sozialmilieus stützten. Was für die Kreativität der Proteste und die Intensität der (Selbst-)Feierkultur förderlich gewesen sein mag, hat freilich nicht unmittelbar zu einer wirksamen gesellschaftlichen Verankerung der politischen Anliegen beigetragen.

Neoliberale Politik bedroht materielle Existenz

Im Zeichen der finanzmarktgetriebenen Staatshaushaltskrisen und ihrer Folgen für die Lebensverhältnisse breiter Gesellschaftsschichten insbesondere in der europäischen Peripherie könnte die emanzipatorische Sozialbewegung neuen Schwung annehmen. Vermutlich noch nie zuvor wurde den Bürgern und Bürgerinnen in Europa so deutlich vor Augen geführt, noch nie bekamen so viele so unmittelbar zu spüren, dass neoliberale Politik ihre materielle Existenz bedroht. Die grassierende soziale Not in Ländern wie Griechenland oder Spanien, die über kurz oder lang auch in nördlicheren Ländern zu spüren sein wird, bietet das Motiv für eine europäische Solidaritätsbewegung, die sich nicht in karitativen Hilfsaktionen erschöpft, sondern in sichtbaren kreativen Kampagnen auf wesentliche elementare Ungleichgewichte aufmerksam macht: den Zusammenhang zwischen deutscher Wirtschaftskraft und südeuropäischer Haushaltsmisere, zwischen Steuervergünstigungen für die einen und Rentenkürzungen für die anderen, den Anlagestrategien privater Pensionsfonds und dem schleichenden Ausverkauf sozialer Infrastruktur. Zumal im letztgenannten Feld lassen sich vermeintlich politikferne Menschen für kollektives Handeln gewinnen; Beispiele sind hier die Abwehrkämpfe gegen die Privatisierung von Gütern des gesellschaftlichen Grundbedarfs (wie jüngst im Fall der durch die EU-Kommission bezweckten «Marktöffnung» bei der Wasserversorgung). Denn hier geht es um Dinge, die im Leben zählen, die den Alltag bestimmen, die uns alle angehen, egal ob jung oder alt, erwerbstätig oder arbeitslos, Bulgare oder Portugiesin. Und was als Eruption sozialer Notwehr beginnen mag, weil man es irgendwann satt hat, dass der Markt in seinem Einverleibungsstreben einfach unersättlich ist, kann durchaus in eine politische Ermächtigungsbewegung umschlagen, die sich – auch jenseits des Kampfs um öffentliche Güter – die Wiederaneignung des Sozialen auf die Fahnen schreibt.

✄✄✄ Schnitt ✄✄✄

Von Europa noch einmal zurück zu «Europe»: Nach ihrer Auflösung im Jahr 1992– pünktlich zur Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags – fand die Band, nachdem sie bei einem öffentlichen Neujahrskonzert in Stockholm 2000 einen überraschenden Einmalauftritt hatte, vier Jahre später doch wieder zusammen. Und zwar in weitgehender Neubesetzung und mit einem Album, dessen Name nicht nur für die zwischenzeitlich in der Versenkung verschwundenen Ex-Stars Programm gewesen sein dürfte: «Start from the dark». Nach dem finalen Countdown in neuer Formation der Schritt ins Licht – wenn das mal, selbst die parareligiösen Assoziationen abgezogen, kein gutes Omen für Europa ist. Ta-ta-ta-taa ta-ta-ta-ta-taa.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Eine Meinung zu

  • am 24.03.2013 um 13:52 Uhr
    Permalink

    Die «Analyse» ist komplett falsch und in fahrlässig irreführend. Die Politiker im Betreben, ein soziales Europa zu schaffen, haben mit der schier grenzenlosen Manie, alle Verantwortung für die Entwicklung des einzelnen Menschen und Regelung des Unternehmertums in die Hand der staatlichen Verwaltung zu übergeben, die Staatshaushalte in den Ruin geführt. Der Konsum des Staates (die Staatsquote) ist so explodiert. An Mittel für Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur fehlt es in kritischem Ausmass. Die ‹visionären› Politiker haben – entgegen dem, was in jedem Haus eine Tugend ist – mehr Ausgaben beschlossen, als Mittel zur Verfügung standen. Immer in der Hoffnung, dass dafür der doch sonst so verteufelte Kapitalismus genügend Steuereinnahmen liefern wird.
    Damit die Europäer in dieser Situation nicht die Zuversicht verlieren, weiterhin konsumieren und so den Unternehmen Nachfrage bescheren; damit sie weiter beschäftigt bleiben, weil die Unternehmen noch konkurrenzfähig exportieren können, verbilligen die Politiker (jene, die für Sie soooo visionär sind) das Geld mit der Notenpresse. Noch funktioniert es. Wie lange noch ? In der Geschichte gibt es mehrere Beispiele, dass die Staatsverschuldung zu massiven politischen Verwerfungen geführt hat. Die Opfer hat dabei immer die Bevölkerung erbracht. Auch dieses Mal wird es so sein: Die Realzinsen sind negativ – die Ersparnisse nehmen an Wert ab, und damit auch die Renten; die Geldschwemme entwertet die Währungen, bringt höhere Zinsen und wird die Unternehmen in Schwierigkeiten bringen: die Arbeitsplätze schwinden.
    Zum Glück konnten diese Himmelfahrts-Kommando Politiker die Märkte nicht vollends ausschalten, obwohl sie es unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit immer noch versuchen. Sie haben die Politiker auf den Boden der Realität gebracht; die Märkte haben noch genügend funktioniert und die Banken mit ihrem perversen Spekulieren an die Wand fahren lassen. Zum Glück hat die Einflussnahme der Politiker dies nicht verhindert. Stossend ist nur, dass hier wieder der Sparer den Preis bezahlt. Nicht die Politiker, die jahrelang die horrenden Steuereinnahmen von den Banken umverteilt, diese in Staatskonsum umgewandelt und sich damit für eine Wiederwahl ‹empfohlen› haben. Sie versuchen jetzt scheinheilig, sich als Retter inszenieren. Auch die Aktionäre der Banken stehen nicht gerade fürndas Desaster; jene, die eigentlich das Risiko dieser Spielbanken Geschäftsmodelle tragen sollten.
    Eine Volkswirtschaft braucht Wertschöpfung; keine Verwaltung kann das; das leisten nur Unternehmen; also jene Akteure, die die ‹visionären› Politiker Europas so sehr als Feindbild pflegen. Fehlt die Wertschöpfung, geht Europa und der europäischen Vision schnell der Schnauf aus.
    Also: wir brauchen selbstkritische Politiker (und Journalisten) mit einem minimalen Verständnis in Volkswirtschaft und Analogien in der Geschichte. Keine Träumer von nicht finanzierbaren Utopien oder Narzisten, deren Lebensaufgabe das unreflektierte Pflegen von Feindbildern ist.

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